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Noch an demselben Abend erfuhr Thomas, was Pastor Green von seiner Rede dachte; Karl Wangen teilte es ihm mit. Thomas ging ihm entgegen, als er ihn die Allee heraufkommen sah. Die beiden machten einen weiten Gang tief ins Land hinein.
Pastor Green hatte geglaubt, daß, wenn Thomas seinen Schulplan entwickeln wolle, er von dem Schulplan und nicht von etwas ganz anderem reden würde. Nicht einen Augenblick hatte er sich die Möglichkeit gedacht, daß er eine Programmrede im großen Stil, worin der Plan nur angedeutet war, zu hören bekommen würde.
Vielleicht könne eine solche Rede über einen solchen Gegenstand schon jetzt hier im Lande gehalten werden; aber doch nur in einigen größeren Städten. In jedem Falle müsse die Rede von jemand gehalten werden, der unabhängig dastehe. Ein Mann, der eine Schule damit eröffnen wolle – ja, ein unbesonneneres Beginnen konnte der alte Herr sich nicht denken.
Karl hatte den Auftrag, ihm dieses mitzuteilen. Thomas dürfe sich nämlich keinen Illusionen darüber hingeben, was jetzt folgen würde. Bleibe die Schule nach diesem Vorfall noch bestehen, so habe er das einzig und allein dem Ansehen zu danken, zu dem seine Mutter sie gebracht. Nach einer solchen Herausforderung würde man die Schule nicht mehr beurteilen nach dem, was gelehrt würde; nein, jedes Mädchen, das sie besucht habe, würde von jetzt an nach seinen strengen Erziehungsgrundsätzen beurteilt werden. Begehe sie einen Fehltritt, würde man das ohne weiteres der Schule schuld geben.
Der Pastor hatte aus der Rede herausgehört, daß Thomas das selbst befürchtete. Warum in aller Welt hatte er denn nicht geschwiegen? Ein einziger Vorfall könne jetzt die Schule zugrunde richten.
Diese Mitteilungen machten auf Thomas einen sehr tiefen Eindruck. Er fühlte, daß sein Freund Karl schon jetzt die Ansicht des Pastors teilte. Er fühlte, daß auch seine Mutter zu ihnen übergehen würde! Er hatte eine große Torheit begangen ...
Es war schon Mitternacht, als sie nach Hause kamen. Mit seiner Mutter konnte er an diesem Abend nicht mehr sprechen. Auch herrschte schon tiefste Stille im ganzen Hause.
Thomas bewohnte sein altes Zimmer, das neben der Badestube. Karl hatte das daranstoßende Eckzimmer.
Das Abendessen war ihnen ins Zimmer gestellt worden; aber sie waren beide so niedergeschlagen, daß sie nichts anrührten.
Karl hatte sich schon längst niedergelegt, als Thomas noch auf seinem Bett saß. Erst gegen Tagesanbruch schloß er die Augen.
Am folgenden Morgen – es war ein Sonntag – begab sich Frau Rendalen hinunter nach der Stadt zu Laura Hansen.
Auf dem Rückwege hatte sie den Pfad eingeschlagen, den die Kirchengänger wählten. Von seinem Fenster aus sah Karl sie kommen und meldete das Thomas; er selbst mußte nach der Kirche. Thomas ging seiner Mutter entgegen. Sie schien sehr bekümmert. Also einmal Nils Hansen und seine Frau – ?
Nein. Nils Hansen selbst hatte gesagt, es passe ihm nicht »in der Kirche ausgeschimpft zu werden.« – Was er damit meinte? – Ja, daß er zu einem öffentlichen Vortrage gehe, um etwas zu lernen oder Vergnügen davon zu haben, nicht aber, um angefahren zu werden, oder hören zu müssen, wie andere angefahren würden.
Frau Rendalen hatte ihm geantwortet, es müsse jedem, der einen belehrenden Vortrag halte, gestattet sein, auf die Fehler der Menschen hinzuweisen. – »Man dürfe aber die Leute nicht einladen, um ihnen ihre Fehler vorzuhalten ...«
Aber Frau Hansen?
Laura glaube nicht, daß sein Vorschlag richtig sei; »Kinder dürften nicht alles erfahren.« Dagegen habe jedoch ihr Mann eingewendet, seine Bauernerfahrung lehre ihn das Gegenteil. Auf dem Lande wüßten die Kinder von früh auf alles; und wenn auch auf dem Lande die Unsittlichkeit groß sei, so rühre das nicht davon her, sondern von etwas ganz anderem. Er selbst wäre in einem kleinen Orte aufgewachsen, wo Knaben und Mädchen in dieselbe Schule gingen und dieselben Spiele spielten, bis sie groß seien; da erführen sie alles; aber er denke an jene Zeit ohne Gewissensskrupel zurück.
Das hatte Nils Hansen schon früher so oft gesagt, daß Thomas sich darüber wunderte, wie die Mutter es nur wiederholen konnte. Das tat sie auch nur, um Zeit zu gewinnen.
Frau Emilie Engel war nämlich krank geworden. Man hatte sie gestern abend aus ihrem Wagen direkt ins Bett getragen. Der Doktor war gestern abend, heute nacht, ja sogar schon diesen Morgen dagewesen; Frau Rendalen war ihm begegnet.
Sie begann zu weinen. Wenn Emilie jetzt mit Tode abgehe, so trage Frau Rendalen die Schuld. Sie hätte ja begreifen müssen, daß Emilie es nicht ertragen konnte, daß von der Untreue der Männer gesprochen wurde, wenn ihr eigener Mann neben ihr saß – so schwach und zart war Emilie! Um jeden Preis hätte Frau Rendalen ihren Sohn verhindern müssen, so scharf und rücksichtslos seine Gedanken über Erziehung mitzuteilen. Statt dessen hatte sie sich noch darüber gefreut! Das kam daher, weil sie und alle, die mit Thomas verkehrten, stets seiner Ansicht waren – mochten sie es nun wirklich sein oder nicht. Ja natürlich, Thomas war zu weit gegangen; das hatte auch der Doktor gesagt.
Was hatte er denn gesagt?
Er hat gesagt, es seien »die verwünschten Nerven« – »die Kurtsche Maßlosigkeit, wenn auch in anderer Fasson.«
Und von neuem begann sie zu weinen.
Und als hätte Thomas ihr auf der Stelle beweisen wollen, daß sie und der Doktor Recht hatten, geriet er in hellen Zorn. Das war ja geradezu schrecklich, daß er in solch erbärmliche Verhältnisse nach Hause zurückgekehrt war; unter solch leichtfertigen, feigen Menschen arbeiten zu müssen, die sofort zusammenschreckten, wenn eine Reform auf Widerstand stieß.
»Es war nicht die Reform selbst, sondern die Art und Weise!«
Die Art und Weise! Eine Reform könne sich doch nicht heimlich einschleichen! Offen müsse sie kommen und sich geben, wie sie wirklich sei. Gestern abend, als er müde war, empfand auch er diese eisige Kälte; es fror ihn. Aber jetzt ward es ihm zu arg. Mochten auch alle weichen, er wollte standhalten. Freilich hatte er seine Mutter für fester gehalten; denn das meiste von dem, was er gestern vorgetragen, war ja doch nur die Summe ihrer eigenen Erfahrungen ...
Das war am Sonntagvormittag draußen im Garten.
Am Dienstagvormittag wurde die Zeitung der Stadt, »Der Zuschauer«, zu den Abonnenten herumgetragen. Unter einem großen Fragezeichen als Überschrift wünschte ein Einsender zu wissen, ob es wirklich möglich sein könne, daß in einer großen Schule hier in der Stadt der größte Teil der Kinder sich einem unsittlichen Lebenswandel ergeben hätte? Obgleich der Leiter der Schule selbst es mehreren hundert Menschen gesagt, gestatte man sich doch daran zu zweifeln. Daß man ihn nicht mißverstanden, dafür bürge der Umstand, daß er seine Behauptung wiederholt habe. »Diese« (die Unsittlichkeit nämlich) »sei die Regel,« habe er behauptet; »das andere wäre die Ausnahme«.
Der Artikel war nicht unterzeichnet. Jetzt machte sich die stumme Gärung Luft; die Unzufriedenheit brach in hellen Flammen aus! Alle sprachen nur noch von Thomas' Rede. Die Schulmädchen sahen am nächsten Tage aus wie der bleiche Schrecken. Beim Morgengebet fanden sich alle, Schülerinnen und Lehrerinnen, wie zur Strafe ein. Auch Karl Wangen sah angegriffen aus und konnte nicht von Herzen beten. Still und mutlos ging er an die Tagesarbeit. Thomas kam nicht zum Vorschein.
Er antwortete mit voller Namensunterschrift in der nächsten am Donnerstag erscheinenden Nummer, daß, wäre dieses »Mißverständnis« ein absichtliches, es eine »Erbärmlichkeit« sei, wäre es ein unabsichtliches, so hätte man unter allen Umständen sich auf privatem Wege Aufklärung verschaffen müssen. Niemals sei etwas Ähnliches, wie ihm da vorgeworfen würde, gesagt worden. Er habe nur ausgeführt, die Übergangszeit sei für die meisten Kinder so schwer, daß sie gefährlich würde; sie erheische daher eine sorgfältige Überwachung.
Was die Schulvorsteherin beobachtet habe, sei, daß die Kinder in jenem Alter ein anderes Wesen annähmen, ihres Fleißes, ihrer Ordnungsliebe verlustig gingen; das sei die Regel, das andere die Ausnahme. Ob jemand in diese Worte so schreckliche Dinge hineinlegen könne, wie der Einsender es tue?
Die Antwort war gut; aber sie blieb wirkungslos; die Erhitzung der Gemüter war schon so groß, daß mit Worten nichts zu erreichen war. Warum denn die Übergangszeit gefährlich sei, meinte man. Im Grunde bestätige Herr Rendalen nur die Behauptung – wenn auch mit etwas anderen Worten.
Unmittelbar unter Thomas' Antwort stand in derselben Nummer eine neue Frage, ein einziger Satz, unterzeichnet: »eine Mutter«. – Warum es von so großer Wichtigkeit sei, daß kleine Kinder lernten, wie die Fortpflanzung der Arten geschehe?
Durch diese Frage kam eine andere Seite des Ärgernisses, das die Stadt erfüllte, zum Ausdruck.
Unter dieser Frage stand noch eine, überschrieben: »An den Herrn Schulvorsteher Thomas Rendalen!« Die Frage ward »mit aller Hochachtung« gestellt; man erkundigte sich nur, ob er die interessante Rede, die er am vorigen Sonnabend im neuen Turnsaal der Mädchenschule gehalten, nicht drucken lassen wolle. Die, welche sie gehört, möchten sich den Genuß noch einmal beschaffen, und die, welche nicht so glücklich gewesen seien, sie zu hören, dürfe er der Gelegenheit nicht berauben, etwas so einzig Dastehendes kennen zu lernen. Unterschrieben: »Ein Freund gesunder und wahrer Aufklärung.«
Die nächste (Sonnabends-) Nummer brachte Thomas' Antwort. Die Kinder lernten schon jetzt Naturgeschichte und würden folglich auch in den Grundzügen der Fortpflanzungslehre der Arten unterrichtet; warum das geschehe, könne somit jeder Schulvorsteher oder Rektor ebensogut oder vielmehr noch besser beantworten als er. Dieser Punkt sei durchaus nicht das Neue in seinem Vorschlage und die Elementarschule käme hierbei kaum in Betracht.
Auf die zweite Frage antwortete er, daß ein Vortrag, zu welchem nur Eltern zugelassen würden, sich selbstverständlich für die volle Öffentlichkeit nicht eigne.
Nur wenige fanden diese Antworten befriedigend. Er suchte seinen Kopf nur aus der Schlinge zu ziehen. Mindestens dreihundert Menschen hätten den Vortrag gehört; er könne also getrost die Druckerschwärze vertragen.
In derselben Nummer drei neue Artikel.
Der erste gab der Freude des Publikums darüber Ausdruck, daß es so prompte Antworten erhielt. – Ob Herr Rendalen jetzt nicht auch erklären wolle, wie der Drang zur Sünde bei jungen Menschen durch Mikroskope ausgerottet werden könne?
Man merkte es diesem Witz sofort an, daß er den französischen Dösen zum Verfasser hatte.
Nummer zwei unterzeichnete sich »Arithmetikus« und rechnete aus, was es dem Lande kosten würde, wenn von jetzt an jede Schule einen Arzt zum Lehrer habe. Herr Arithmetikus bekam für diesen einen Posten eine Summe von jährlich einer Million Kronen heraus. Und wenn jede Schule auch noch einen Geistlichen erhalte, gäb's wieder eine Million! Nach einem oberflächlichen Überschlage würden die nach Rendalens Plan notwendigen Apparate und sonstiges Material kaum weniger als 100 000 Kronen jährlich kosten, – die Zinsen noch gar nicht mitgerechnet. Das bedeute eine Mehrbelastung des Schuletats von vorläufig 2 100 000 Kronen jährlich.
Arithmetikus fragte, ob das Land diese Last tragen könne.
Dann kam eine Apostrophe an »Herrn Thomas Kurt, auch Thomas Rendalen genannt«.
Das sei ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutze. Wenn es hier in der Stadt ärger aussehe als in anderen Städten, was der Einsender sich zu bezweifeln erlaube, so trage sicherlich die eigene Familie des Vortragenden die meiste Schuld daran. Er habe also am allerwenigsten das Recht, sich darüber zu beklagen. Der Einsender unterzeichnete sich » suum cuique«.
*
An demselben Tage hielt Thomas seinen zweiten Vortrag. Zu diesem fanden sich – da es ausschließlich um technische Dinge sich handelte – einschließlich der Lehrerinnen 20 (zwanzig) Menschen ein. Während des Vortrages selbst kamen dann noch zehn. Man konnte es Thomas, Frau Rendalen und Karl ansehen, daß diese acht Tage sie hart mitgenommen hatten. Heut begann Thomas in ganz anderer Weise – schüchtern, matt, tastend; seine Nervosität war gerade peinlich geworden. In einem fort wanderte das Schnupftuch aus der Tasche und wieder in die Tasche zurück; die Karaffe ward vollständig geleert, das Haar aufgebauscht, die Hände spielten und die Füße bewegten sich, als träten sie die Orgel.
Sowie er wieder auf den Schulplan zu sprechen kam und sein Material und seine Apparate zu zeigen und zu erklären begann, fing er Feuer und war sofort wieder der alte. Seine außerordentliche Begabung, alles klar darzustellen und Interesse dafür zu erregen, kam wieder zur Geltung.
Während er redete, ward ein Mikroskop mit einem Blatt darunter herumgereicht; immer hatte er etwas Neues zur Hand, entweder ganze Sammlungen oder große farbige Zeichnungen, oder gar vollständig ausgeführte Nachahmungen, die bis in die kleinsten Teile auseinandergenommen und studiert werden konnten, wie z. B. die Brust, der Hals waren in vergrößertem Maßstabe vorhanden. Noch niemals war, wie er selbst erzählte, hier im Lande ein solches Material gesammelt worden; dem Interesse der großen Welt hätten wir es zu danken, daß auch wir in unserer Abgeschiedenheit und Kleinheit so etwas zu sehen bekämen, – daß es ihm überhaupt möglich geworden, es anzuschaffen; einiges davon habe er geschenkt erhalten.
Die wenigen, welche dem Vortrage beiwohnten, waren sehr damit zufrieden. Sie meinten, wenn er auch eine unglückliche Antrittsrede gehalten, könne er doch noch wieder ins rechte Fahrwasser kommen.
Allein diese wohlwollende Auffassung wurde von zu wenigen geteilt, um der Gegenströmung einen Damm entgegensetzen zu können.
In der Dienstagsnummer des »Zuschauers« wies ein Einsender darauf hin, wie unverschämt es sei, daß ein junger Mann, der obendrein während des größten Teils seiner Lehrjahre nicht daheim gewesen, mit prahlerischer Überhebung über die Sitten seiner Vaterstadt zu Gericht sitzen wolle!
Zudem tue er so, als kenne er sämtliche Schiffer des Landes! Als sei er rings in der ganzen Welt mit ihnen umhergereist und habe ihnen Herzen und Nieren erforscht! Und um der Unverschämtheit die Krone aufzusetzen, gebe er sich den Anschein, als kenne er auch den Kaufmannsstand der ganzen bewohnten Erde!
Ein Mann mit solcher Unverfrorenheit und solch leichtfertiger Ausdrucksweise eigne sich nicht zum Lehrer an einer Erziehungsanstalt, am wenigsten zu ihrem Leiter.
Unter solchen Umständen müsse zunächst die Aufforderung zur Errichtung einer neuen Schule an die Bewohner ergehen.
Es sei hinlänglich bekannt, daß eine wohlgemeinte Aufforderung an die frühere Vorsteherin der Schule, sie ohne Herrn Rendalen in dem alten Geiste weiterzuleiten, vergebens gewesen. Nun wohl, so wolle denn er, der Einsender, Männer von Ansehen und Bedeutung aufgefordert haben, sich an die Spitze eines Komitees behufs Errichtung einer neuen Schule zu stellen. Der tatkräftigen Unterstützung der ganzen Stadt könnten sie sich versichert halten.
Verwundert fragte man sich in der Stadt, wer dieser Einsender sein möchte. Im Klub wurde noch an demselben Abend sein Vorschlag zur Diskussion gestellt, aber auch hier gab er sich nicht zu erkennen. Man einigte sich dahin, des Konsuls Engel wegen noch zu warten; man bezweifelte nicht, daß auch er dem Komitee beitreten würde; wußte man ja doch nur zu gut, welche Folgen Herrn Rendalens Rede in der Familie des Konsuls gehabt; aber es ging doch nicht an, ihn jetzt mit dem Plan zu behelligen, denn Frau Engel lag schwer krank.
Obschon diese Beratung nur einige Minuten dauerte, erzielte man doch eine vollständige Einigkeit. Nach der Beratung war es erst neun Uhr, so daß Doktor Holmsen, der passiver Zuhörer gewesen, direkt vom Klub, der am Markt lag, hinauf zum Gute ging und Thomas alles berichtete. Je früher er es erfuhr, um so besser, meinte Holmsen. »In einem solchen Nest soll der Teufel noch länger Schulmeister sein!« rief er entrüstet aus.
Thomas nahm den Doktor mit zu seiner Mutter, erzählte ihr alles und fügte hinzu, daß er sofort abreisen würde.
Gleich darauf kam auch Karl Wangen nach Hause. Auch ihm wurde die Neuigkeit mitgeteilt, und auch er meinte, unter solchen Umständen könne es nichts nützen, den Unterricht fortzusetzen.
Aber unter keinen Umständen wollte Frau Rendalen freiwillig das Feld räumen. Lieber den ganzen Schulplan und die Begründung in einem Buche niederlegen und von der Stadt an das Land appellieren. So viele verständige Eltern müsse es doch in Norwegen geben, daß sie eine solche Schule am Leben erhielten! Es sei dies nicht, fügte sie hinzu, ihr eigener, sondern ihres Sohnes Vorschlag, und den müsse er auch ausführen!
Sie kannte ihren Sohn; es galt nur über die einzelnen aufreibenden Eindrücke hinwegzukommen; dann würde er schon seinen Mann stehen.
Man trennte sich erst zwölf Uhr nachts, und da hatten alle fest beschlossen, standzuhalten.
Die unausgesetzte tägliche Schularbeit verlieh Thomas Kraft und Stärke. Er war ein vorzüglicher Schulmann; die Schule mit allem, was drum und dran, war sein Lebenselement und seine Lebenslust. Und er warf sich mit ganzer Seele auf die Arbeit. Er machte die amüsantesten und lehrreichsten Experimente, die ihm bekannt waren, und in einemfort erzählte und erklärte er. Die oberste Klasse hatte er seit seiner Rückkehr alle Woche einmal des Abends zu einer besonderen Unterweisung ins Zimmer seiner Mutter geladen. Dort hatte er sie mit der großen Frauenfrage bekanntgemacht, welche damals in der ganzen zivilisierten Welt die Gemüter bewegte. Er las den Mädchen vor und machte Musik mit ihnen. Jetzt hatten diese Zusammenkünfte natürlich eine besondere Bedeutung für ihn. Nicht mit einem Worte berührte er den herrschenden Streit; aber durch die Wahl der Lektüre und der Gespräche, welche er veranlaßte, ja sogar durch die Musikstücke, welche gespielt wurden, erhielten sie unwillkürlich den Eindruck, daß er fest an seine große Sache glaubte. Aber sie fühlten auch heraus, was er bei seiner Gemütstiefe und seiner beweglichen Natur leiden mußte. Die oberste Klasse glaubte unerschütterlich an ihn, und diese übte auf die anderen einen großen Einfluß. Bald übernahm er den Gesangsunterricht der ganzen Schule und studierte größere Chöre und fröhliche Lieder mit ihr ein. Das knüpfte ein neues Band um Lehrer und Schülerinnen.
Aber trotz alledem zeigten sich Symptome der Empörung. Daß diese sich immer wieder verloren, hatte man namentlich der Morgenandacht zu danken, welche Karl Wangen mit den Schülerinnen und Lehrerinnen hielt.
Karl war kein hochbegabter Kopf, aber er hatte eine Eigenschaft, die viel Verstand aufwog: er hatte niemals eine Unwahrheit gesagt. Was er fühlte, sagte er auch, davon vermochte niemand und nichts ihn abzubringen. Er hatte eine kummervolle Jugend und glückliche Jünglingsjahre verlebt, das prägte sich in seinem Wesen, ja sogar in seiner wahrhaftigen Stimme aus. Sie griff dem Menschen ans Herz.
Er betete so innig zu Gott, der Schule doch den Frieden zu erhalten; der Streit da draußen dürfe nicht über die Schwelle dieser Anstalt kommen. »Nicht wahr, wir hier meinen es ja nur gut miteinander?« ... Noch ein paar Worte, und einige begannen zu weinen.
Eines Morgens fügte er die Bemerkung hinzu, er sei ermächtigt zu erklären, daß die, welche irgendwie an der Schule zweifelten, sie jeden Augenblick verlassen könnten; niemand brauche sich an irgendeinen Termin zu kehren. Das möchten die Schülerinnen ihren Eltern mitteilen und ihnen zugleich sagen, ob sie hier zufrieden seien oder nicht – wahrheitsgetreu, genau so, wie sie es meinten.
Hatten die Feinde der Schule erfahren, welche Macht Karl Wangen besaß? Jetzt richteten sich nämlich die Angriffe wider ihn. Der »Zuschauer« brachte einen Artikel mit der Überschrift: »An den Theologen Karl Wangen!«
Man hege alle Achtung vor seiner Moral wie seinem guten Willen; darum errege es die höchste Verwunderung, daß er sich Anschauungen, wie den hier ausgesprochenen anschließen könne. Kein Mensch – er sei denn geistig gar zu beschränkt oder allzu vertrauensvoll – vermöchte sich darüber zu täuschen, daß es sich hier darum handele, die Religion beiseite zu schieben und die Naturwissenschaften auf den Thron zu setzen.
Dies gab das Signal zu einer ganzen Reihe ähnlicher Artikel. Nur einer soll hier mitgeteilt werden.
»Der, welcher dieses schreibt,« hieß es, »kann nicht umhin, seinen tiefen Schmerz auszudrücken über das, was er jüngst erlebt; darüber nämlich, daß, als eine freche Stimme im Turnsaal der Mädchenschule vom Katheder herab fragte, ob es nicht wahr sei, daß nur auf sehr wenige die Religion einen bleibenden Einfluß übe, ›,4 – sage und schreibe vier – Priester‹, sitzen blieben! Sagten sie in ihrem Herzen Ja und Amen zu einer solch gotteslästerlichen Rede?
Ist denn nicht Christi große Botschaft ergangen an alle Völker? (Siehe Matth. 28, 19; Mark. 16, 15; Luk. 24, 47; Apostelgesch. 10, 42. 43; Koloss. 1, 23.)
In der Weise erging sie an alle, daß sie vornehmlich von den Einfältigen begriffen und beherzigt wird. (Siehe Matth. 11, 25; Luk. 10, 21; I. Kor. 1, 19-27; Röm. 1, 21. 22.)
Wenn darum nicht unbedingt alle von der göttlichen Wahrheit auf immer ergriffen würden, welche schreckliche Schlußfolgerungen könnte man daraus ziehen?
Ja, könnte dann die Bibel überhaupt göttliche Wahrheit sein?
Der Mann, der diese vermessene Frage stellte, lebt mitten unter den Lehrern der Kirche; ja, er gehört zu ihren Freunden. Darum darf ich getrost sagen, daß es die Stimme ist des Unglaubens, ausgegangen aus unserer Mitte. (Siehe Joh. 1, 2. 19; Apostelgesch. 15, 24 und 20, 30; Gal. 2, 4.)
Wo waren da die vier Zionswächter? Ich war auf dem Sprung, mich zu erheben; aber ich wartete auf sie. Mit Schmerz wiederhole ich es: wo waren sie da?
Sie schliefen doch wohl nicht? (Siehe Matth. 24, 42. 43 und 25, 5; Mark. 13, 33; Luk. 21, 36; I. Kor. 15, 33. 34; I. Thess. 5, 6; Eph. 5, 14.)
Wenn ich meinen Namen hier untersetzte, würde das nichts ausdrücken, was irgend jemand zum Nachdenken anregte. Darum setze ich folgende heilige Worte hierher: ›,Psalm 80, 7‹,.«
Die ganze Stadt schlug den achtzigsten Psalm Davids beim siebenten Vers auf und las:
»Du stelltest uns auf zur Zanklust; unsere Nachbarn und unsere Feinde spotten unser.«
In diesem Hinweis kam der Zorn zum Ausdruck, den alle darüber empfanden, daß durch diesen Streit die Stadt zum Gespött der Nachbarorte geworden.
Denn für die eifersüchtige Presse der Nachbarstädte war dieser Skandal ein förmlicher Schmaus. Es hagelte geradezu spöttische Berichte und Enthüllungen. Die Stadt hatte niemals im Geruche weder der Frömmigkeit noch der Sittlichkeit noch endlich der Tugendhaftigkeit überhaupt gestanden. Um so mehr im Rufe des Reichtums und der Unternehmungslust und eines flotten gesellschaftlichen Lebens. Und nun standen in den Blättern der kleinen umliegenden Städte fortwährend die unverschämtesten und beleidigendsten Lobpreisungen zu lesen über den plötzlichen Umschlag und den großen sittlichen Ernst, der einzig und allein durch ein Wunder über »Klein-Babylon« gekommen sei.
Vor ein paar Tagen hatte einer dieser Kläffer ein Feuilleton begonnen, das offenbar in der »bekehrten« Stadt selbst geschrieben worden. Auch war es aus »Klein-Babylon« datiert und erzählte mit sehr viel Witz die Skandalchronik der Stadt – natürlich mit erdichteten Namen; aber jedermann setzte sofort dafür die richtigen. Das Feuilleton schloß mit der Aufzählung der Gründe, warum es für »Klein-Babylon« eine heilige Pflicht sei, eine Reform der ortsüblichen Sitten der Stadt zu verhindern.
Da diese Artikel das einzige waren, was zugunsten von Rendalens neuer Schule in die Öffentlichkeit gelangte, so glaubte man in fanatischem Parteieifer, Thomas habe diese Artikel, wenn auch nicht selbst geschrieben, so doch veranlaßt.
Jetzt lud der Seemannsverein mit großen Buchstaben die Bürger zu einer Versammlung ein »aus Anlaß der Beschuldigungen wider unseren wackeren Seemannsstand, die von einer gewissen Stelle dagegengeschleudert worden.«
Die Versammlung hatte die Eigentümlichkeit, daß nur drei Seeleute zugegen waren. Den Vorsitz in der Versammlung führte der Eigentümer einer Schiffswerft, der niemals auf der See gewesen. Als Hauptredner trat der Hafenmeister der Stadt auf. Allerdings war dieser Schiffer gewesen, aber schon vor langer Zeit. Er donnerte entsetzlich. Auch hatte er den Protest verfaßt, welcher »der Verachtung des Seemannsstandes« gegen eine solche Rede Ausdruck gab; eine Abschrift dieses Protestes wurde Thomas sofort zugeschickt.
Soweit war alles in schönster Ordnung. Aber nun kam der Punsch; und da man diesem sofort scharf zusetzte, wurde die Versammlung allzu feurig und offenherzig. Und so beliebte es dem einzigen anwesenden Schiffer, Kaspar Johannsen, zu behaupten: »Der Thomas Rendalen hat, hol' mich der Teufel, ganz recht.«
Gab es da einen Lärm! Schließlich stellte der Hafenmeister den Antrag, »diesen neuen Ehrenschänder« sofort hinauszuwerfen. Kaspar Johannsen aber ließ sich durchaus nicht hinauswerfen »von einem Menschen, der Prozente eingesteckt« habe!
Der Werftbesitzer wollte die Sache mit Würde beilegen; Kaspar Johannsen aber ersuchte ihn, gefälligst vor seiner eigenen unsauberen Tür zu kehren. Als ob nicht alle Welt wüßte, daß er an seeuntüchtigen Schuten reich geworden! Hatte das der Agent des Lloyd nicht selbst gesagt? »Ja, da zeigt sich, hol' mich dieser und jener, seine zärtliche Liebe für den Seemann!« usw. usw.
Die Entrüstungsversammlung endete mit einer Prügelei auf der Straße.
Die Sache selbst aber war damit noch nicht beendet. Sie beschäftigte die Stadt noch den ganzen Sommer. Man redete von nichts anderem mehr als von der Schule. Wochenlang sprach man nur noch davon, welche Schiffer ehrlich und welche von ihnen Prozentdiebe seien, – dann in feiner Unterscheidung von den großen und den kleinen Dieben, sowie von Schiffern schlechtweg und von ehrlichen Schiffern!
Als im Herbst die Fahrzeuge heimkehrten, wurden einige Schiffer verabschiedet. Diese aber bezeichneten gerade diejenigen als unehrlich, welche nicht verabschiedet worden. Steuermänner und Matrosen wollten nicht als Zeugen auftreten, wurden aber dazu gepreßt. Man faßte den grimmigsten Haß widereinander – oder kämpfte ihn auf der Stelle aus.
Der »Schifferkrieg« rettete die Schule. Die Stadt war nicht groß genug, um zwei brennende Fragen zugleich auf der Tagesordnung zu haben. Die Folge war, daß diejenige, bei der es sich um den Verdienst handelte, als die wichtigste anerkannt wurde und die Oberhand behielt.
Aber wenn der »Schifferkrieg« vorläufig auch die Schule rettete, so war damit keineswegs Thomas Rendalen gerettet. Gelegentlich sollte auch mit diesem noch abgerechnet werden.
Daran wurde er unangenehm erinnert, als er kurz nach Ausbruch des Krieges eines Sonntagmorgens ganz früh mit einem Wagen hinunter nach dem Hafen mußte. Er wollte Fräulein Hall abholen, die mit einem englischen Dampfer kam. Der Gesang- und der Turnverein wollten an diesem Tage einen Ausflug machen. Trotz der frühen Stunde waren also schon einige hundert junge Menschen im Hafen versammelt. Es war Thomas in ihrer Nähe etwas unbehaglich zumute. Nicht als ob sie ihn persönlich belästigt hätten; aber er sah ihre bösen Blicke und vernahm ihre drohenden Anspielungen. Als er ins Boot stieg, wurde das Tau so losgeworfen, daß es ihm den Hut vom Kopfe schlug und ihn beschmutzte – natürlich aus Ungeschicklichkeit.
Man ahnte, warum er mit dem Wagen gekommen war; allem Anschein nach, um die neue Tugendwächterin der Stadt, den amerikanischen weiblichen Doktor, abzuholen. Der schwere Bug des englischen Dampfers näherte sich gerade; man verschob die eigene Abreise, bis man die Miß zu sehen bekommen. Da nahm Rendalen sie und ihr Gepäck in sein Boot. Sie war der einzige Passagier. Etwas so Merkwürdiges mußte man sich doch ansehen.
Welch ein Kind das war! Ein kleines, schmächtiges, behendes Frauenzimmerchen, das alle Hilfeleistung ablehnte, als sie ins Boot stieg. Eins zwei drei, hurtig, leicht, lächelnd war sie die Treppe hinauf und in den Wagen gehüpft. Und erst als sie sich dort gesetzt, blickte sie verwundert auf diese schwerfällige mißtrauische Menge zurück. Ein langer, forschender Blick aus ein paar großen Augen glitt darüber hin. Thomas besorgte inzwischen ihr Gepäck, ordnete etwas an den Zügeln und stieg dann auf den Bock.
Die weiblichen Doktoraugen hatten diese Zeit gut benutzt. Der Ausdruck der Verwunderung hatte sich in den einer unbefangenen kalten Beobachtung verwandelt. Sie schwebten nicht mehr ziellos umher, sondern nahmen sich da und dort einige Gesichter aus der jugendlichen Schar heraus; fest, rasch, sicher. Und die, auf welche der Blick sich richtete, fühlten ihn bis ins Innerste. Da war keiner von all den zweihundert jungen Leuten auf der Schiffsbrücke, der daran zweifelte, daß diese Augen gar mancherlei zu entdecken imstande seien.
Als der Schifferkrieg eine Zeitlang gewütet, nämlich kurz vor dem Ende der Ferien, verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, daß die liebenswürdige Emilie Engel, die Freundin aller Notleidenden, ja der ganzen Menschheit, von den Ärzten aufgegeben sei.
Emiliens Krankheit hatte Frau Rendalen immer heftigere Gewissensbisse verursacht – die Nachricht war deshalb für sie ein betäubender Schlag. Von allen ihren Schülerinnen war ihr keine so ans Herz gewachsen wie Emilie. Sie war so schön und verständig und gut. Und Emilie hatte sich an Frau Rendalen angeschlossen wie an eine Mutter und nur ihr allein volles Vertrauen geschenkt, als sie unglücklich wurde – unglücklich, weil sie den liebte, der sie betrog. Längst hatte die ganze Stadt gewußt, was sie erst in den letzten Jahren erfuhr.
Und nun?
Weder Thomas noch seine Mutter waren einen Augenblick im Zweifel darüber, daß alle es so auslegen würden, als hätte Thomas Rendalen durch seine rücksichtslose Sprache ihr Leiden verursacht. Heftiger denn je mußte von neuem die Erbitterung sich gegen ihn richten. Es war Frau Rendalen vom Arzt nicht gestattet worden, mit Emilie zu sprechen. Doktor Holmsen hatte in seiner ungehobelten Weise gesagt, sie sei mit dem Vortragenden zu nahe verwandt. Diese Äußerung war bekanntgeworden.
Da eines Morgens entschlummerte Emilie Engel bei Anbruch des Tages. Am Nachmittag kam ihr Seelsorger, der alte Pastor Green, herauf zum Gute gefahren. Er überbrachte Frau Rendalen den letzten Gruß der Entschlafenen und übergab ihr Emiliens Sparkassenbuch. Darein hatte Emilie mit bebender Hand die Worte geschrieben:
»Für die Schule.
Ihre E.«
Der Pastor teilte ihr mit, daß dies mit Einwilligung ihres Mannes geschehen sei. Das Sparkassenbuch lautete auf fünftausend Kronen.
Die Rührung und Freude – und zugleich der Schmerz und die Dankbarkeit der Frau Rendalen waren so groß, daß sie den alten Geistlichen allein lassen und sich zurückziehen mußte. In dem Augenblick, als er mit Hilfe des Dieners die große Treppe hinabsteigen wollte, kam Thomas nach Hause. Der alte Geistliche bat ihn, sich zur Mutter zu begeben; sie wünsche ihn gewiß zu sprechen. Thomas wurde unruhig; beherrschte sich aber und half dem Geistlichen in den Wagen.
Frau Rendalen befand sich im Schlafzimmer, wo sie heftig weinend auf und ab ging. Als sie ihren Sohn kommen sah, schloß sie ihn in ihre Arme, und er bat sie, ihm um Gottes willen zu sagen, was geschehen. Endlich gewann sie so viel Fassung, daß sie auf das Buch deuten konnte.
Er nahm es auf.
In demselben Augenblick fühlte er, daß dies Buch ihm Rettung brachte. Da erst ward es der Mutter offenbar, was er gelitten; auch ihm drangen Tränen in die Augen.
Am nächsten Morgen erging an die Eltern der Schülerinnen eine Einladung. Frau Rendalen fragte, ob es den Kindern gestattet sei, im Namen der Schule der Gedächtnisfeier für Frau Engel beizuwohnen. In dem Falle möchten alle weißgekleidet am Begräbnistage an der Kirchhofspforte erscheinen, um dem Sarge vorauszugehen, die Kleinen blumenstreuend, die anderen ein Kirchenlied und am Grabe einen Choral singend.
Erhielten sie die Erlaubnis, so müßten alle Punkt zwölf sich in der Schule einfinden.
Da in einigen Tagen der Unterricht wieder begann, befanden sich fast alle Schülerinnen in der Stadt; die letzten trafen inzwischen ein. Nicht eine einzige fehlte.
Nun war es erstaunlich, was Thomas in wenigen Tagen alles ausrichtete; er wußte, daß hier eine Schlacht geliefert wurde.
Die nächste Nummer des »Zuschauers« meldete kurz den Todesfall, hob rühmend Frau Engels große Mildtätigkeit hervor und fügte folgendes hinzu:
»Dem Vernehmen nach soll sie einer hiesigen Anstalt ein nicht unbedeutendes Legat zugewendet haben.«
Was diese Mitteilung an Bestimmtheit zu wünschen ließ, ward durch den übrigen Inhalt des Blattes wieder gut gemacht – es stand an diesem Tage nicht der geringste Angriff auf die Schule in der Zeitung.
Unter diesen Umständen gestaltete sich Frau Engels Begräbnis zu einer großen Begebenheit. Als solche kündete es sich bereits an durch die Vorbereitungen, welche überall gemacht, durch die Gerüchte, welche in der ganzen Stadt umgingen. Sämtliche Schüler hatten an diesem Tage frei; ja man beschloß sogar, alle Verkaufsläden zu schließen, die Straßen, durch welche der Zug sich bewegte, mit Tannenreisern zu bestreuen und von einem Flaggenschiff Ehrenschüsse abzufeuern. Es wurde erzählt, daß die Regimentsmusik der nächsten Garnisonstadt aufgeboten sei und Erlaubnis erhalten habe, zur Leichenfeier herüberzukommen.
Die bedeutendsten Kaufleute der Nachbarstädte wollten an der Kirchhofspforte den Sarg vom Wagen heben und zur Grabstätte tragen. Von der Nord- wie von der Südküste her kamen mehrere Dampfer mit Menschen, welche das Gerücht von der großartigen Feier herbeigelockt hatte.
Als am Begräbnistage die Kirchenglocken zu läuten begannen, waren bereits alle Straßen mit Menschen angefüllt. An der Kirchhofspforte vermochte fast niemand mehr Platz zu finden.
Wäre ein solches Gedränge nicht vorausgesehen und die Polizeimannschaft durch Freiwillige aus der Bürgerschaft nicht erheblich verstärkt worden – keine Dame hätte sich dorthin wagen können. Jetzt bekamen die Schülerinnen, deren Mütter und Geschwister einen guten Platz. Trotzdem entstand ein starkes Gedränge, als das Flaggenschiff seine Kanonen abzufeuern begann und die Klänge der Musik herauftönten, namentlich aber, als der Zug sichtbar wurde. Da und dort vernahm man einen Aufschrei, diese und jene ward von Angst ergriffen, aber das ging vorüber – nur die Spannung wuchs.
Die Musik zog an der Pforte vorbei, nahm dann Aufstellung und spielte draußen an der Kirchhofsmauer weiter, während der Leichenwagen hielt, die Kaufherren vortraten, den Sarg in Empfang nahmen und die üblichen Blumenmassen, welche darauf nicht Platz gefunden, sammelten, um sie der Bahre nachzutragen.
Gleichzeitig hatte Thomas sich aus dem Zuge herausgewunden und seine weiße Schar an der Innenseite der Kirchhofspforte geordnet. Der Sarg ward hereingetragen, aber man blieb stehen, bis der Wagen vorübergefahren war und das Gefolge sich angeschlossen hatte.
Die Musik verstummte. Die Schulkinder stimmten ihren Gesang an, kräftig feierlich und schön, – und dieser Übergang von der Musik der Blasinstrumente zum Kindergesang wirkte ergreifend. Von diesem feierlichen Augenblick an und dann später, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte – die blumenstreuenden weißgekleideten Kleinen vorauf, dann die singenden älteren Schülerinnen und endlich der Sarg –, von diesem Augenblicke an nahm die Begräbnisfeier einen anderen Charakter an.
Bisher war es ein Festzug gewesen: der Schmerz hatte sich in Schönheit, in eine Ehrenbezeugung gewandelt; der Triumphzug des Reichtums hatte draußen an der Pforte dieser Stätte der Toten haltgemacht. Frau Emilie Engel ward wie eine regierende Fürstin beerdigt.
Aber in demselben Augenblick, als an der Spitze des Zuges die Mädchenstimmen ertönten und all die zierlichen kleinen Hände in den Körbchen nach Blumen griffen, wandten aller Augen sich dorthin, aller Gedanken folgten diesem weißen Zuge, welcher am Friedhofshügel sich hinaufwand inmitten der dunklen Frauenschar; denn diese strömte beständig mit.
Alle gedachten des Kampfes, der noch kürzlich gerast hatte; er folgte ihnen gleichsam zu Häupten in der dräuenden Luft und inmitten des schwarzen, nachdrängenden Gefolges. Jetzt gewahrten sie mit einemmal Frau Engels bleiches Antlitz hinter der singenden Kinderschar. Es war die arme, arme Emilie, die man in die Erde bettete; die hundertfältig betrogene Emilie, welche alle, die nicht mehr ganz jung waren, von Kindheit an gekannt und Sonntag für Sonntag in der Kirche gesehen, abgehärmt, bleich, schwermütig. War es nicht, als hätten diese weißen Kinder von der großen Schar sich losgelöst, um ihr die Tote zu entreißen, – sie, die ihnen gehörte? Durch ihr Vermächtnis hatte sie sich selbst diesen Kleinen anvertraut.
Und dann ordnete sich diese lange weiße Schar da oben an der einen mit Brettern belegten Seite des Grabes.
Thomas trat mit dem Hut in der Hand unter sie. All die kleinen blumenstreuenden Kinder hatten wieder ihre Körbchen gefüllt und stellten sich jetzt vor ihm in geordneten Reihen auf. Der Sarg ward in die Gruft gesenkt; einige Augenblick herrschte tiefes Schweigen; dann gab Thomas das Zeichen.
Eine gedämpfte Musik intonierte und der Chor fiel ein. Mit leichter Handbewegung leitete er den Gesang, sonst stand er, ganz von dem feierlichen Augenblick beherrscht, völlig regungslos da.
All diese Stimmen gaben gleichsam statt seiner Antwort; sie sangen über dem Grabe den Dank seiner Schule.
Die Frauen waren tief ergriffen. Karl Wangens besorgte Blicke suchten Frau Rendalen. Er sah, wie erschüttert sie war, und arbeitete sich zu ihr hin. Doch als sie seinen Arm fühlte, wollte sie zu dem singenden Chor; sie mußte das Grab sehen. Und er führte sie dorthin.
Aber als auch sie am Grabe stand, hatten alle das Bewußtsein, daß von der anderen Seite her sich ihm etwas genähert hatte, das nicht dorthin gehörte. Vielleicht wurde es nur dunkel gefühlt; doch als nach beendetem Gesang der ehrwürdige Pastor Green, von zwei Männern unterstützt, unter die Schülerinnen trat und seine Rede begann, da fühlten es alle klar und deutlich. Er führte verschiedene Äußerungen der Entschlafenen an, welche ein anmutiges Bild von ihr gaben. Alles war gesagt mit diesen Worten, und doch wieder nichts; alle verstanden, ohne daß irgend jemand verletzt wurde. Und derjenige, der ganz besonders ergriffen sein mußte, war Konsul Engel; denn einige dieser Worte offenbarten ihre große Hingebung für ihn. Und bevor er sich dessen selbst bewußt wurde, zwangen diese Worte ihn zu heftigem Weinen. Es war ihm nicht möglich, die Tränen zurückzudrängen.
Da beendete Pastor Green seine Rede, Er schloß mit den Worten, welche ihre Gabe für die Schule begleitet hatten:
»Es gibt in dieser Sache zwei Parteien ...« Mit dieser Ehrengabe habe sie sich einer dieser Parteien angeschlossen, fügte er hinzu.
Von neuem fiel die Musik ein und dann der Chor. Man half dem ehrwürdigen Geistlichen von der erhöhten Stelle herunter, während die Kleinen sich an das Reck auf der einen Seite des Grabes drückten, um ihre letzten Blumen hinabzustreuen.
In demselben Augenblick donnerte es im Westen; weithin lag das Meer da wie eine schwarze Fläche; es war ein Regensturm im Anzug; allem Anschein nach ein sehr heftiger. Man schaute nach der Stadt hinüber, wo die Fahnen schlaff herabhingen an dem dunkeln Himmel; alles verkündete einen heftigen Regen. Neuer krachender Donner, viel stärker und näher. Die Trauerschar begann zu wanken und dann allmählich sich zu zerstreuen. Einige eilten davon, ohne erst in das Grab hinabzublicken oder von der Familie sich zu verabschieden ... Eine Weile später ward die weiße Mädchenschar in großen Flocken unten auf dem Wege in der dunkel gewordenen Luft und auf dem grünen Grunde sichtbar; einige von ihnen begannen zu laufen und zu springen, – dann mehrere, ja zu Frau Rendalens Schrecken sogar zu lachen und zu rufen.
Kurz nach ihrer Rückkehr erhielt Frau Rendalen einige kleine anonyme Geschenke mit dem Motto: »Es gibt zwei Parteien.«
Im Laufe des Nachmittags kamen noch mehrere, alle anonym und ziemlich unbedeutend. Aber das bewies doch, daß die Schule nicht bloß Feinde hatte.
Sie hatte nicht Zeit, lange darüber nachzudenken; am Abend nämlich sollte ein kleines Erinnerungsfest in der Schule gefeiert werden, wozu die Freundinnen der Frau Engel und die beiden obersten Klassen geladen waren. Frau Rendalen wollte Erinnerungen aus ihrem Verkehr mit der Verstorbenen mitteilen. Auch der alte Pastor Green hatte sein Erscheinen zugesagt. Ferner sollte Musik gemacht und der am Grabe gesungene Choral wiederholt werden usw.
Den ganzen Tag war man im Festlokal mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen; aber man hatte doch noch alle Hände voll zu tun, um fertig zu werden. Noch einmal trat eine Unterbrechung ein durch einen Brief des Doktors Holmsen. Der Name des Doktors stand nicht darunter, aber die Handschrift war ebenso bekannt, wie der Diener, der ihn gebracht hatte.
Der Brief lautete:
»Lieber Rendalen!
Es gibt zwei Parteien! Das leidet keinen Zweifel. Und wenn ich auch der Ansicht bin, daß die eine der beiden Parteien sich ganz verwünscht dumm benommen, und ich auch in Zukunft mich ihr nicht anzuschließen gedenke, – so liegt hier doch eine Anweisung bei auf drei ›,Mikroskope‹, – da Dein harter Kurtscher Schädel sich nun einmal vorgenommen hat, daß es mit Mikroskopen gemacht werden solle!
Ich gebe nicht einen Pfifferling darauf; ich glaube ebensowenig an die Macht der Wissenschaft wie an die der Religion; in diesem Punkt, Verehrtester wirst du nicht das mindeste ändern. Aber da flatterte heut etwas Weißes, ja etwas wie eine Art Gesang durch die Luft – – wie gesagt, hier ist das Geld.« – –
Die Schülerinnen der obersten Klassen fanden sich nach und nach bei den auf dem Gut wohnenden Pensionärinnen ein. Die jungen Damen sollten in Trauerkleidern erscheinen – je nach Umständen und Geschmack – und das war ihnen ja etwas ganz Neues und Amüsantes, daß sie nicht zu früh kommen sollten.
Das Fest fand im »Laboratorium«, d. h. in dem ehemaligen Rittersaal statt. Es hatte natürlich Mühe gekostet, ihn in einen Trauersaal zu verwandeln; aber als die ersten Damen erschienen, war die Umwandlung vollzogen – nur Emiliens Porträt war noch nicht zur Stelle. Langsam kam der Wagen mit den beiden dänischen Pferden und der grauen Livree auf dem Bock die Allee herauf. Frau Rendalen und Thomas begaben sich zum Empfang hinunter auf die große Treppe. Thomas hob eine junge Dame in tiefer Trauer aus dem Wagen. Sie warf sich Frau Rendalen an die Brust; es war die einzige Tochter der Verstorbenen. Auch sie hieß Emilie und sollte dieses Jahr noch am Unterricht teilnehmen. Sie war ein außerordentlich schönes Mädchen, und ihre schlanke Gestalt und das überaus feine bleiche Gesicht nahmen sich sehr anmutig aus in der tiefschwarzen Umrahmung. Das Haar – ein echtes Engelshaar, weder rötlich noch gelblich – bedeckte weiter nichts als ein schwarzer Schleier.
Weinend stieg sie an Frau Rendalens Arm die Treppe hinan. Thomas folgte mit dem Porträt, das mit einem Tuch verhüllt war. Alle erhoben sich, als sie eintraten. Da mußte die junge Dame noch heftiger weinen, und sie suchte sich ein Plätzchen aus, wo sie hinter ihrem Schleier und Taschentuch unbemerkt bleiben konnte. Das Porträt ward über dem mit einem schwarzen Tuch verhüllten Kamin aufgehängt. Zu beiden Seiten war die norwegische Flagge angebracht; und nun wurden Kränze um das Porträt geschlungen.
Das Fest begann mit einem vierhändig gespielten Trauermarsch, ausgeführt von Thomas und derjenigen, die heut oben auf dem Kirchhof ein kurzes Altsolo vorgetragen hatte, von Auguste Hansens Schwester, derselben, die an jenem Sonnabend sich unter dem Tuche versteckt hatte. Dann Vorträge, und hierauf der Chor. Alles nahm einen glücklichen Verlauf; es herrschte eine feierliche, bisweilen bewegte Stimmung. Zum Schluß ein Kirchenlied als Einleitung zu einer kurzen Ansprache Karl Wangens.
Inzwischen war das bei allen Schulfesten übliche bescheidene Mahl in Frau Rendalens Zimmer, bei dem Wein nicht fehlte, angerichtet worden. Thomas wollte nämlich zum Schluß Gelegenheit haben, in einem Trinkspruch den beiden obersten Klassen und allen denen, welche zur Verschönerung der heutigen Feier beigetragen, seinen Dank auszusprechen.
Alle die, welche heute da oben am Grabeshügel der Verstorbenen Trauerlieder gesungen, mit der Stadt tief unter sich und einem großen Teil ihrer Einwohner ringsum sich auf dem Friedhofe, würden es empfunden haben, daß etwas wie ein geheimer Bund sie mit der Schule vereinte; durch diese Begräbnisfeier habe er gewissermaßen seine Weihe erhalten.
»Nicht wahr,« so schloß er, »diesem Bund wollen wir alle treu bleiben?«
»Ja, ja!« rief, die Gläser zu ihm erhebend, unwillkürlich die ganze Schar.
Wie die jungen Augen funkelten! Die, welche zuerst mit ihm anstieß, war die Tochter der Verstorbenen; alle anderen machten ihr Platz. Sie errötete vor Erregung und Dankbarkeit, während sie sich ihm näherte ...
Gegen zehn Uhr war man wieder allein. Als Thomas aufstand, um sich in sein Zimmer zu begeben, sagte er zu seiner Mutter:
»Ein sehr törichter Einfall war es doch nicht, daß ich im Turnsaal die Rede hielt – was meinst du, Mutter?«
»Ja, Thomas, ich fange wirklich an auch zu glauben – – – Nein, nein, es war doch töricht! Lassen wir das.«
Ein Mädchen brachte einen Brief herein, der heute während des Festes abgegeben worden war.
»Siehst du, Mutter! Siehst du!« rief er lachend und öffnete ihn:
»Ja, nun bildest Du Dir wohl ein, Du hättest gesiegt, Du Ehrenschänder! Ich war heute Zeuge Deines Hochmuts, als Du da oben am Grabe standest mitten unter all den blühenden jungen Mädchen, die Du dazu verleitet, für Dich zu paradieren. Die Selbstsucht leuchtete Dir förmlich aus dem sommersprossigen, grauäugigen Gesicht und dem borstigen Judashaar. Pfui!
Aber warte nur! Wenn Du's am wenigsten erwartest, trifft Dich der entscheidende Schlag.
Ein Freund der Wahrheit.«