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21.

Bei Hofe.

»Liebe Nora! Ich weiß zum voraus, daß dies kein ordentlicher Brief wird; dazu hab' ich keine Zeit. Ja, ich glaube sogar, du darfst ihn den anderen gar nicht zeigen; sie würden meine Gefühle kaum begreifen. Schließlich gibt es doch immerhin etwas, das uns von den anderen scheidet; das sagt mir schon mein Gefühl. Wenn ich mir nur einigermaßen über das klar werden könnte, was ich jetzt – fühle, hätt' ich beinah wieder geschrieben. Du mußt nämlich wissen, heut habe ich den größten, den schönsten, den herrlichsten Tag in meinem ganzen Dasein erlebt!

Ja, nicht wahr, nun wirst Du neugierig? Ich will Dich nicht auf die Folter spannen, aber zunächst muß ich doch erzählen, wie es gekommen ist.

Als wir in Kopenhagen anlangten, wen traf ich da auf dem Bahnhof? Nils Fürst! Selbstverständlich war es eine Verabredung zwischen ihm und Papa; aber Papa versteht ja so schön über alles zu schweigen. Und weißt Du, woher Nils Fürst kam?

Von Sofiero!

Ja, nun ist's geschrieben, und nun wirst Du wohl alles begreifen. Ich habe Dir schon früher erzählt, daß Papa bereits vor längerer Zeit die Ehre hatte, von Seiner Majestät die Aufforderung zu erhalten, nach Sofiero zu kommen, wenn er wieder ins Ausland reise. Es gibt nicht viele Norweger, denen diese Ehre zuteil geworden; sie ist also außerordentlich schmeichelhaft für Papa.

Davon nun hatte er mir nichts gesagt. Er wollte mich nicht zu früh ›nervös‹ machen, wie er sagte. Fürst kam direkt von Sofiero. Denke Dir! Vielleicht wird er Ordonnanzoffizier bei dem Prinzen, der Seemann ist, nämlich bei Seiner Königl. Hoheit dem Prinzen Oskar. Fürst sagte uns, um welche Zeit die Züge am nächsten Tage abgingen. Mein Gott, schon am nächsten Tage! Da wurden wir erwartet!

Es war gar nicht möglich, irgendwelche Toilette zu machen. Ich sowohl wie Papa sollten einfach in unserm Reisekostüm erscheinen. Der boshafte Leutnant Fürst – Du weißt, er ist noch mit uns verwandt, er nennt mich Cousine, was ich natürlich nicht bin – Fürst also sagte mir, ich sei so, wie ich ginge und stände, schön genug. Kennst Du ihn?

Dann galt es nach der Reise ein wenig zu schlafen; denn man sieht nicht gut aus, wenn man nicht geschlafen hat. Aber niemals ist mir das Schlafen so schwer geworden; Du mußt nämlich wissen, ich war in schrecklicher Aufregung. Ich dachte fortwährend an etwas ganz Absonderliches. Erinnerst Du Dich der Nase des Oberzollkontrolleurs Jakobsen? Da lag ich in der Finsternis und starrte seine Nase an, bis ich endlich wirklich in Schlaf sank. Doch so müde war ich, daß ich nun aber auch schlief wie ein Stein. Gott sei Dank! Ich fühlte mich recht wohl, als ich aufstand. Aber dann ward es schlimm – rein zum Verzweifeln! Du bist noch niemals in einer solchen Lage gewesen, wirst es also vielleicht seltsam finden, daß ich, je mehr ich an den großen Augenblick dachte – eine Dame konnte ich ja nicht befragen, und die Männer verstehen sich auf so etwas nicht; sie lachen einen nur aus – ich nur um so schreckhafter wurde. Zudem war der Morgen auch etwas kühl, und das eine in Verbindung mit dem andern, ich meine die Kühle und den Schrecken – Fürst nannte es Kanonenfieber – hatte schließlich Folgen. Das war entsetzlich unangenehm; denn auf die Dauer ließ es sich ja doch nicht verheimlichen ... Nun, Du verstehst mich schon. Aber ich muß mich damit trösten, daß ich nicht das erste junge Mädchen bin, dem so etwas passiert ist, wenn es galt, bei Hofe vorgestellt zu werden.

Schließlich wurde ich ganz krank, so daß ich von der Reise kaum etwas zu erzählen weiß. Nur so viel, ich geriet in einen Streit. Fürst sagte, das Königtum suche in allen Ländern den Reichtum um sich her zu sammeln wider die niedern Klassen. Das scheint mir denn doch zu arg. Ist das Königtum dazu da, um sich zu verteidigen? Ich dächte, es ist dazu da, um die niedern Klassen zu verteidigen, und das sagte ich denn auch. Da begann Papa mich mit der Schule, dem Verein und Karen Lothes Geschichtsunterricht zu necken: – nicht wahr, Du hörst ihn förmlich? Fürst fragte, wer dann den Reichtum verteidigen solle. Der, entgegnete ich, verteidigt sich schon selbst. Jedenfalls aber wäre es häßlich von ihm, die anderen Klassen zu verraten. Nicht wahr?

Gott, wie entzückend Öresund ist! Als wir übersetzten (ich habe vergessen, Dir zu sagen, daß wir mit der Eisenbahn nach Helsingör kamen) – ja, da kannst Du sehen, wie ich heute bin! – – – – Nein, ich streiche alles wieder aus. Sonst werde ich gar nicht fertig. Papa hat mich aufgefordert, ihn heute vormittag zu begleiten – Du sollst sogleich erfahren, weshalb.

Ich beginne mit dem Schloß, das man vom Sund aus erblickt. Es liegt wundervoll. Aber so groß, als wir geglaubt hatten, ist es nicht. Dann kamen wir nach Helsingborg. Dort – ja, nun wirst Du staunen! – dort erwartete uns ein königlicher Wagen. Papa sowohl wie Fürst taten, als wäre das gar nichts; aber ich bin fest überzeugt, sie waren mindestens ebenso überrascht wie ich. Sonst war es ein Wagen wie alle andern Wagen. Aber siehst Du, die Livree, darauf kommt's an!

Ich befand mich in dem größten Schreck. Wie wird es zugehen? Obschon das Wetter sehr schön geworden, mußt' ich doch, ehe wir in den Wagen stiegen, erst allein sein. Wie sehr mir dadurch die ganze Freude verdorben wurde, kannst Du daraus schließen, daß mir der Schweiß durch die Handschuhe drang. Aber natürlich hatte ich noch andere Handschuhe bei mir. Papa brachte mich bald zur Verzweiflung mit seiner Bemerkung: »Wie schlecht Du aussiehst, mein Kind!« Ich glaube sogar, die Tränen kamen mir in die Augen; denn Fürst, der mir gegenüber saß, fing an, mich zu necken. Aber ich hörte fast gar nicht, was er sagte. Du kannst Dir nicht denken, was mir in meiner Angst alles durch den Kopf fuhr. Hätte ich alles, was ich Schönes besaß, hingeben müssen, um wieder zurück nach Hause zu kommen – bei Gott, ich hätt's getan ...

Wir fuhren durch einen kleinen Wald und gelangten dann auf einen großen freien Platz – das Schloß!

Als ich den Schloßplatz und das Gras darauf bemerkte, erinnerte ich mich plötzlich, daß uns einmal in der Schule gesagt wurde, ein solcher Platz heiße auf englisch bowlinggreen, und daß Frau Rendalen gerade in dem Augenblick in die Klasse trat und fragte, warum er bowlinggreen heiße, und daß Thora mir das zuflüsterte – wie geschickt Thora so etwas machen konnte! ... Ja, jetzt weiß ich nicht mehr, woher der Name kommt. Als wir aussteigen wollten, kam ein sehr vornehmer Herr auf uns zu und reichte mir den Arm.

Es wurde uns ein Toilettenzimmer angewiesen; eine Dame folgte mir. Gott sei Dank! Bisher war ich gar nicht Mensch gewesen. Ich ward es erst wieder, als ich auch hier allein sein konnte – Du verstehst mich.

Wenn ich's Dir nicht erzählte, obschon es mir auf der Zunge brennt – – Du mußt es erfahren. Es war entsetzlich. Wie unzertrennlich doch das Hohe verknüpft ist mit dem Niedrigen. Ich blickte in den Spiegel: mein Gott, wie sah ich aus! Auch konnte ich's Papa deutlich anmerken, als wir in einem Zimmer wieder zusammentrafen – denke Dir, ich begriff nicht einmal, in welcher Richtung wir gingen oder wo das Gemach lag! Weißt Du, wo wir hinsollten? In den Garten, um dort mit Ihren Majestäten das »Lunch« einzunehmen. Nicht wahr, größer kann die königliche Gnade gar nicht sein gegen einfache Bürgerliche aus einem norwegischen Städtchen? Erinnerst Du Dich noch, wie wir die Puppen zum Hofball ankleideten?

Derselbe vornehme Herr – Fürst erinnerte sich seines Namens nicht mehr, ich glaube, er war Kammerherr – geleitete mich und sagte etwas auf schwedisch zu mir, – was, ja das begriff ich nicht; ich war ganz außer Fassung. In einer größeren Pein kann man sich gar nicht befinden ... Als ich den Garten erblickte und betrat, ja – da schwamm alles vor meinen Augen: Bäume, Menschen, Tische, Diener, Stühle; in der tödlichen Angst, die mich ergriffen hatte, wär' ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Ich versichere Dich, ich nahm alle meine Kräfte zusammen ... Der Herr, welcher mich führte, mußte das Zittern meines Armes gefühlt haben oder er las mir alles vom Gesicht ab, denn er bat mich, doch nicht ängstlich zu sein; Ihre Majestäten seien so liebenswürdig ...

Und das waren sie denn auch wirklich. Du himmlischer Vater, wie über alle Begriffe gütig, namentlich Seine Majestät der König! Nein, dieses Lächeln, dieser Händedruck, diese Augen! Ein wahres Meer von Güte. Was sag' ich Güte! Er hat etwas an sich, namentlich in den Augen, das geradezu entzückt – oder »verzückt«, wie Thora zu sagen pflegte. Ich möchte doch von diesen Augen lieber das Bild vom Himmel als das vom Meere gebrauchen. Nur die Südländer haben solche Augen. Wie kalt und egoistisch sind wir – ich kann es nicht verschweigen – wenn wir hineinblicken. Wenigstens habe ich dies Gefühl.

Nun sollst Du mein Wunder hören, denn ein Wunder ist es fast. Von demselben Augenblick – ja, ich kann sagen, von derselben Sekunde an, als Seiner Majestät Augen auf mir ruhten, war ich wieder gesund. Was sag' ich: gesund! Ich fühlte, wie dieser Blick meinen Körper durchzuckte und erwärmte. Ist das nicht merkwürdig? Aber bei Gott, es ist wahr. Ich war glücklich, glückselig! Und weißt Du was der König sagte? »Willkommen in meinem Hause, Fräulein!«, Und zwar in dem schönsten, klangvollsten Norwegisch, das ich je gehört.

Die Königin lächelte. Sie fragte, aus welcher Stadt ich sei. Der König antwortete für mich. – »Wie heißt der Ortsgeistliche?« fragte die Königin. – »Karl Wangen« entgegnete ich. Aber das war verkehrt; ich hätte den Propst oder die älteren Geistlichen nennen müssen. – In demselben Augenblick begrüßte der König meinen Vater, welcher sich mit Fürst genähert hatte, und sprach zu ihm: »Ich finde, daß der Herr Leutnant einen ausgezeichneten Geschmack hat« – Das waren ganz genau seine Worte. Ich habe später sehr oft darüber nachgedacht; denn diese Worte beweisen ja, daß Nils Fürst an diesem allerhöchsten Ort oft von mir gesprochen hat. Ich wußte nicht, daß man sich hier mit etwas so Kleinem beschäftigen könnte.

Dann begaben wir uns zur Tafel. Derselbe elegante Herr führte mich. »Nun?« sprach er auf schwedisch, und ich beeilte mich, ihm zu bemerken, daß ich ganz begeistert sei. Das sind alle, versicherte er. Wir nahmen nicht Platz, sondern gingen nach Belieben umher; und jetzt kam der eine nach dem andern und ließ sich mir vorstellen – denke Dir! Alle andern! Der eine war Graf, der andere Baron; die eine Gräfin, die andere Baronin; einer von ihnen war Oberstallmeister, und dieser namentlich redete beständig mit mir. Nicht in dem, was sie sagten, sondern in ihrem ganzen Wesen und Benehmen lag etwas außerordentlich Geistesvolles und Gewinnendes. Aber das rührte wohl auch zum Teil von der Umgebung und dem Ort her, denn ich kam mir gar nicht wie auf Erden vor.

Schon die Diener machten mich unsicher und kleinmütig, so genau, so aufmerksam, so überlegen waren sie in ihrem ganzen Auftreten. Sicherlich habe ich mich nicht immer ganz richtig benommen; wir Norwegerinnen lernen ja garnichts.

Es hatte alles einen solchen Adel, eine solche Schönheit und Güte und Hoheit – aber von den Prinzen war keiner anwesend.

Die Namen der Gerichte – ich rührte fast gar nichts an – weiß ich trotzdem auswendig; ich habe mir vorgenommen, alles in meinem Tagebuch zu verzeichnen und es für Thora abzuschreiben, sowohl die Einrichtung des Schlosses wie tausend andere Dinge, welche Dir gleichgültig sind, – denn Du verstehst Dich ja nicht einmal auf gute Speisen. Aber ich mache es so, daß ich Dir das mehr Geistige schicke, – aber Du zeigst den Brief keiner lebenden Seele! Mein Gott, wenn Du das dennoch tätest!

Nora, ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich muß jemand haben, dem ich's sagen kann, sonst wird das Glück mir zur Last. Und so glücklich wie gestern und heute bin ich noch nie gewesen; ich fühle mich gleichsam aufgelöst. Thora werde ich meinen Anzug schildern; natürlich habe ich jetzt einen neuen, mit dem ich euch alle zu überraschen gedachte, obgleich sich aus schwarzem Stoff nicht viel machen läßt. Aber ich glaube, er kleidet mich gut. Auch sah ich gar nicht mehr krank aus; ich konnte wiederholt einen Blick in verschiedene Spiegel im Schlosse werfen; Du mußt nämlich wissen, wir wurden herumgeführt.

Zunächst auf der Seite, wo wir eintraten; von dort ging's nach dem großen Saal, wo die königlichen Banketts mit aller Pracht gefeiert wurden. Ach, wer einmal dabei sein könnte!

In dem weißen Saal gewahrt man eine Arabeske auf blauem Grunde und große, große Gemälde; eins darunter ist von Markus Larsson – ich weiß nicht, was es darstellt; es ist so seltsam; und dann Diwan und Stühle in blauer Seide, ein ungeheurer Kronleuchter von buntem Glas – prachtvoll! – An der Wand halten zwei reich vergoldete Negerinnen Lampen – wahre Kunstwerke! – Ein ungeheurer Marmorkamin und reich vergoldete Uhren und Porzellanvasen. Ein höchst merkwürdiger Blumentisch aus japanesischem Porzellan. Welch eine Seltenheit das! Ebenso ein chinesischer oder japanesischer Schreibtisch aus schwarzem Holz mit Goldbeschlag; doch der stand im Kabinett. Aber da bin ich mitten in der Beschreibung! Das war nicht meine Absicht; ich will daher das Kabinett wieder streichen. Das alles magst Du in Thoras Brief nachlesen. Ich versichere Dich, eine Aussicht, wie die von dem großen Balkon über den Sund und all die Segel- und Dampfschiffe und Helsingborg und Kronborg – eine solche Aussicht gibt es wohl kaum noch im ganzen Norden. Wo sollte sie auch sein?

Denke Dir, auch in den Schlafgemächern waren wir! Ich weiß nicht, ob wir recht daran taten, aber wir waren darin. Ich kann mich nicht nur mit Gewalt enthalten, sie Dir zu beschreiben, diese Schlafgemächer, sowie die Wohnzimmer Ihrer Majestäten. Gott, Du hättest nur diese weißen seidenen Überzüge und den Schreibtisch in dem Gemach der Königin sehen sollen! Und das Zimmer des Königs – wie einfach-edel! Im Schlafkabinett Seiner Majestät bemerkte ich auf dem Kopfkissen zwei Haare – Du weißt ja, wie scharfe Augen ich habe. Darauf nun hatte ich's gleich abgesehen und, ohne daß jemand es bemerkte, nahm ich sie; es gelang mir, sie in meiner Uhr zu verstecken.

Aber das erinnert mich an mein großes Erlebnis.

Als wir uns wieder in den Garten begaben, fiel das Licht ungemein scharf gerade auf das Tor. Da bemerkte ich etwas Geschriebenes, nämlich am Pfosten. Ich hin. Es war französisch und rührte ohne Zweifel von einer Dame her. – – – Ja, Du siehst, ich habe auch dies wieder ausgestrichen. Denn wenn man sich selbst das Wort gegeben, niemals zu erzählen, was da stand, so darf man's auch nicht der besten Freundin schreiben.

Es war abscheulich. Ich kratzte es mit dem Finger aus; aber dabei mußt' ich mich beeilen, so daß ich mir den Handschuh zerriß und den Finger an einem Splitter ritzte, so daß er tüchtig blutete – infolgedessen wischte ich die Inschrift mit meinem Blute aus.

Keiner lebenden Seele habe ich bis jetzt ein Sterbenswort davon gesagt, und auch Du wirst es niemand verraten. Dem Papa machte ich weis, ich hätte mich gestochen, als ich mir eine Rose pflücken wollte.

Ob niemand mich gesehen? Aber alle standen ja ein wenig abseits und betrachteten irgend etwas im Garten.

Und daß sonst niemand gesehen, was da geschrieben stand, ehe ich es bemerkte? Ist das nicht wunderbar? Die königlichen Herrschaften und ihre Gesellschaft befanden sich nicht mehr im Garten. Aber der Herr, welcher uns empfangen hatte, fand sich jetzt wieder ein. Da er keine Miene machte, uns zu der übrigen Gesellschaft zu führen, bat Papa, Ihren Majestäten unsere untertänigsten Grüße zu überbringen, und dann verließen wir den Garten. Der Wagen fuhr wieder vor, und mein eleganter Kavalier überreichte mir ein schönes Bukett »aus dem königlichen Garten« – denke Dir! Das steht, während ich dies schreibe, hier vor mir. Es hat die schwedischen und norwegischen Farben. Fürst behauptet zwar, die wären den meisten Blumen eigen, aber ich glaube doch, es liegt ein tiefer Sinn darin. Vor allem bewundere ich eine Lilie und eine Rose. Einige Vergißmeinnicht lege ich dir hier in den Brief.

Denn Du mußt wissen, meine liebe Nora, ich kehre jetzt noch nicht nach Hause zurück. Die große Überraschung kommt Dir doch ebenso unerwartet, wie mir, als Papa es mir heute morgen mitteilte: ich soll nämlich nach Paris, um vollkommen französisch zu lernen!

Hat er denn etwas Besonderes mit Dir vor? Warum hat er Dir's nicht schon früher gesagt? fragst Du natürlich. Schon morgen reisen wir ab. Was sagst Du dazu? Papa kann nicht länger abwesend sein. Wir müssen uns also beeilen. Aber warum reistet Ihr denn nicht direkt nach Paris? fragst Du wieder. Nicht wahr? Auch ich stellte diese Frage – obgleich ich, bei Gott, den gestrigen Tag um keinen Preis aus meinem Leben auslöschen möchte.

Papa antwortete, er habe erst gestern diesen Entschluß gefaßt. Leutnant Fürst machte ihn darauf aufmerksam, daß alle schwedischen Damen von guter Erziehung ebenso fließend französisch wie schwedisch sprächen; und das verständen auch alle deutschen und russischen Damen – wie überhaupt jede gebildete Dame das Französische wie ihre Muttersprache reden müsse.

Es ist mir nicht unangenehm, daß ich nach Paris reise. Ich muß dort allerdings mindestens ein Jahr bleiben. Es muß also zwischen uns geschieden sein. Aber um so mehr haben wir einander zu erzählen, wenn wir uns wiedersehen.

Noch eins muß ich Dich fragen. Leutnant Fürst sagt – – –

So weit war ich heute vormittag gekommen, als Papa hereinkam und ich den Brief verstecken mußte. Er forderte mich auf, mit ihm auszugehen, und soeben, neun Uhr abends sind wir zurückgekehrt – – und weißt Du, warum!?

Um einzupacken und abzureisen! Sofort! ... Ein neuer Plan. Leutnant Fürst macht Papa das Vergnügen mitzureisen! Ich muß also den Brief, so wie er ist, auf dem Bahnhof in den Kasten werfen. Irgendeine Ahnung sagt mir, wenn ich ihn noch einmal durchlese, schicke ich ihn nicht ab. So leb' denn herzlich wohl!

Deine Milla.«

Nora hatte mit ihrer Mutter bereits den Badeort verlassen, als der Brief ankam. Er wurde ihnen nach Christiania, wo sie sich gerade aufhielten, nachgeschickt. Bei ihrer Ankunft in der Heimat fand sie ein in Hamburg aufgegebenes Telegramm vor. Es lautete:

»Lies den Brief nicht, der an Dich unterwegs ist. Schick' ihn mir nach Paris, Hotel Continental.«

Aber da war der Brief bereits gelesen.


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