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Kurz nach Beginn des Schuljahres begann Fräulein Hall für die Damen der Stadt einen Kursus von Vorlesungen. Es war Mode geworden, etwas von all dem Unanständigen zu erfahren, das ihre Töchter im abgelaufenen Jahre zu hören bekamen.
Die Vorlesungen fanden zweimal wöchentlich im großen Laboratorium statt. Der Saal war in der Regel vollständig gefüllt. Die meisten derjenigen Damen, welche im vorigen Jahre in der obersten Klasse gesessen und die Schule verlassen hatten, nahmen ebenfalls an diesen Vorlesungen teil...
Gegen Ende Oktober trat eines Tages auch Thora in Begleitung ihrer Freundinnen in den Saal. Allgemeines Staunen und Grüßen. Wo war sie gewesen? Warum sah sie so bleich aus? Großer Gott – wie mager sie geworden! Also wirklich krank gewesen? Hatte sie sich im Westen aufgehalten? Wann war sie zurückgekehrt? Wohnte sie jetzt wieder in der Schule?
Die Unterhaltung wurde durch das Erscheinen der Frau Rendalen und des Fräuleins Hall unterbrochen. Die, welche noch nicht saßen, beeilten sich einen Platz zu finden. Aber nicht alle fanden Platz; so groß war das Gedränge noch nie gewesen. Fräulein Hall nämlich hielt Vorträge über gewisse Nervenerscheinungen, die man früher übersehen oder sogar geleugnet hatte; und diese Vorträge wurden mit jeder Stunde interessanter.
Um Raum zu gewinnen, ward heute die große Doppeltür nach dem äußeren Gang, der zugleich abgeschlossen wurde, geöffnet. Und nun setzte man eine Anzahl Stühle draußen in den Gang; ebenso neben den Tisch des Laboratoriums. Auf diesen wurden auch Thora und ihren Freundinnen Plätze angewiesen.
Fräulein Hall begann mit dem Thema, mit dem sie das letztemal geschlossen: »daß die Gesundheit und Moral der Menschheit gebieterisch eine Stärkung der Nerven der Frau erheischten«. Dazu genüge es nicht, daß sie sich materiell wohl befinde, auch ihre Willenskraft müsse durch Erweiterung ihres Wissensgebietes gekräftigt werden; sie müsse ein Lebensziel haben, das sie nicht so leicht zum Werkzeug eines anderen Menschen herabsinken lasse.
Nach Professorenart ging sie dann für diejenigen, welche das letztemal nicht zugegen waren, wieder durch, was sie bereits über den Gegenstand vorgetragen hatte.
Nervenschwache und namentlich hysterische Naturen könnten durch gewisse mechanische Einwirkungen in hypnotisch-magnetisch-somnambule Zustände versetzt werden. Ein solcher Zustand sei bewußte Ohnmacht; in dieser Ohnmacht täten wir, was derjenige wünschte, welcher uns hinein versetzt habe. Wir würden sein Opfer, sein Werkzeug. Und zwar nicht bloß, während wir schliefen, – auch später, wenn wir wieder erwacht wären, leisteten wir unbedingt den Befehlen Folge, die wir erhalten, während wir uns in jenem Zustand befanden. Das wurde an einigen Beispielen erläutert.
In diesem Zustand könnten die Vorstellungen des einzelnen sich mit den Gedanken eines anderen, sowohl eines Anwesenden wie eines Abwesenden, begegnen. Manche könnten sogar vorahnen.
Diese Tatsache lasse sich nicht mehr leugnen; aber erklärt könne sie nicht werden. Früher nahm man an, diese Fähigkeit sei vom Glauben abhängig; jetzt wisse man, daß sie mit dem Glauben nichts zu tun habe. In diesen abnormen Zustand aber könne der einzelne auch sich selbst versetzen – die einen durch schwere Anstrengung, andere schon durch den bloßen Willen. Das geschehe dadurch, daß sie unverwandt auf irgendeinen Gegenstand hinstarrten, entweder in Gedanken oder mit den leiblichen Augen.
Die meisten von uns seien einigermaßen mit der Wirkung bekannt, welche dadurch hervorgerufen werde; aber nur Nervenschwache könnten unter gewissen Bedingungen sich dadurch in einen erhitzten Zustand versetzen. Auf diese Weise erfolgten viele Bekehrungen, namentlich unter den Frauen ...
»Jetzt kommen wir zu dem, was für die Frau das gefährlichste ist. Gewisse Menschen haben die Gabe, andere, namentlich Frauen, in diesen Zustand zu versetzen, ohne das übliche mechanische Mittel, ohne daß sie ihnen sehr nahe sind, ohne irgendwelche Berührung – bloß durch ihren Blick. Sie können die Betreffenden zwingen, sie anzusehen, und während die Augen aufeinander gerichtet sind, sich ihrem Willen zu unterjochen!«
Fräulein Hall erzählte, was einmal einer der größten Sängerinnen der Welt begegnet war – sie hatte es ihr selbst mitgeteilt. Als sie eines Tages im Eisenbahncoupé stand – der Zug hatte gerade auf einer Station haltgemacht und sie blickte zum Fenster hinaus – fühlte sie sich plötzlich unwohl. Sie mußte sich umwenden, und da bemerkte sie ein Paar stechende Augen, welche sofort in die ihren hineinstarrten. Sie eilte sofort hinaus und ließ sich ein anderes Coupé anweisen; aber der Mann kam ihr nach; vermutlich kannte er seine Macht und wollte davon Gebrauch machen. Sie fand ihren Impresario und bat ihn, sie von »diesen grünen Augen« zu befreien. Das geschah. Aber sie versicherte, sonst wäre sie verloren gewesen.
»Die Sängerin nun war sich zufällig ihrer Schwäche bewußt. Wie viele aber sind das? Namentlich wenn die Berührung hinzukommt, sind sie sofort verloren. Ein Mann, der nicht weiß, was das ist, meint natürlich, die Frau habe die Absicht weiterzugehen, und handelt danach.
Aber dieser Absicht, dieses freien Willens bedarf es nicht erst. Ich kann versichern, daß manche Frau zu Falle gebracht wird, die daran so unschuldig ist wie ein unwissendes Kind. Und darum – –«
Man vernahm das Poltern eines umstürzenden Stuhles... dann fiel etwas Weiches, Schweres zu Boden... Im nächsten Augenblick an derselben Stelle allgemeines Knarren von Stühlen... Mehrere in der Nähe sitzende Damen stießen einen jähen Schrei aus ...
Da erhoben sich alle; die hintersten stiegen auf die Bänke. Dann hörte man die Worte: »Zurück, zurück!«
Es war die Stimme der Frau Rendalen. Die, welche auf den Bänken standen, konnten trotzdem nichts sehen und fragten einander im flüsternden Ton. Nur die Allernächsten sahen, um was es sich handelte, und diese antworteten nicht; auch rührten sie sich nicht von der Stelle, bis Frau Rendalen und einige andere Damen sich mit einem leblosen Körper, den Frau Rendalen auf die Arme nahm und forttrug, erhoben.
Es war Thora. »Zurück!« hörte man von neuem sagen.
Fräulein Hall eilte sofort nach, dann Nora und Tinka und Anna Rogne. Hierauf mehrere andere Freundinnen.
Fräulein Hall öffnete Frau Rendalen die Tür zum Wohnzimmer. Sie eilte hinein und legte auf dem Sofa ein Kissen zurecht. Während Frau Rendalen, von Nora unterstützt, ihre Bürde hinlegte, wandte Fräulein Hall sich an die Umstehenden und bat sie fortzugehen. Sobald Frau Rendalen sich wiederaufrichten konnte, wiederholte sie die Aufforderung in strengem Ton.
Alle gingen hinaus. Draußen in dem großen Gang stießen sie auf den aus dem Laboratorium kommenden Strom. Man war neugierig geworden.
Nur Nora, welche leichenblaß war, fand es angemessen zu bleiben. Aber als ihre arme Freundin wieder ein Lebenszeichen zu geben anfing, packte sie eine entsetzliche Ahnung. Sie sprang auf die Tür zu und verschloß sie. Kaum war das geschehen, so hörte sie Thora rufen: »Ja, ja, das ist mir begegnet!« Und dann ein verzweiflungsvolles Schluchzen. Es tönte in dem Gang wieder.
Hatte es jemand da draußen gehört? Nora eilte hinaus in den inneren Gang, wo sie die Damen traf. Sie wußte nicht recht, was sie eigentlich wollte, um zu verhindern, daß sie sich den Türen näherten. Sie begriff selbst nicht recht, warum sie sich durch diese ganze Menge von jungen und älteren Damen drängte – und warum sie nicht in den Saal zurückkehren sollten.
Sie stieg auf das Katheder, nahm ein Lineal und klopfte mit aller Macht. Die Damen kamen wieder herein. Sie schlug noch einmal mit dem Lineal, – es ward still.
Sie erklärte:
»Thora Holm hat das Nervenfieber gehabt. Die Luft hier im Saal ward so schwül, und das, was vorgetragen wurde, hat sie erschreckt, geängstet. Und dann – und dann – ja, nun kommt gleich Fräulein Hall.«
Das letzte sagte sie, weil sie nichts mehr zu sagen wußte. Sie stürzte fort, um nicht hier im Saal schon in Tränen auszubrechen. Fräulein Hall konnte nicht kommen, und das Ende war, daß Frau Rendalen erscheinen mußte. Sie ging auf das Katheder und bemerkte:
»Wir bitten um Entschuldigung. Fräulein Hall muß bei der Kranken bleiben. Einen Teil der Schuld muß ich selbst auf mich nehmen. Fräulein Holm ist krank gewesen; ich hätte sie also nicht hier in dem Gedränge dulden sollen. Übrigens bin ich nicht gleich auf sie aufmerksam geworden. Der Gegenstand nahm mich ganz in Anspruch. Es ist ja Zeit, daß wir alle, denen die Erziehung der Jugend obliegt, uns hiermit befassen.«
Ihre Stimme bebte, sie war so weiß wie ihre Haare; und ohne auf die, welche mit ihr sprechen wollten, zu achten, ging sie wieder hinaus...
Aber da drinnen in Frau Rendalens Schlafzimmer stand Nora, drückte sich an Tinka und zitterte und weinte. Tinka hatte alle Fassung verloren. Eine der Mitschülerinnen blickte spähend zur Tür herein. Da niemand es ihr verbot, trat sie still ein. Mit großen forschenden Augen blickte sie alle an. Es war Anna Rogne.
»Was bedeutet das?« flüsterte sie.
Nora hob ihr Antlitz. Beide starrten sie an. Anna hatte vom Sommer her einige Äußerungen Thoras im Gedächtnis bewahrt. Auf diesen Äußerungen baute sie jetzt weiter und flüsterte: »Mir ahnt das Schlimmste!« Sie faltete die Hände, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Nora legte ihren Kopf wieder an Tinkas Schulter und begann heftig zu weinen.
In demselben Augenblick vernahmen sie Thoras Stimme da drinnen im Wohnzimmer. Die Worte vermochten sie nicht zu unterscheiden; sie kamen nur stoßweise heraus; wilde, verzweiflungsvolle Worte... Dann ward es ganz still. Diese Stille war noch qualvoller. Und jetzt ward es auch im Schlafzimmer ganz still. Das wurde endlich unerträglich. Was hatte das zu bedeuten? Sie wechselten Blicke und wollten gerade ins Wohnzimmer eilen, als sie schwere hastige Schritte vernahmen. Die Tür ward aufgerissen, Frau Rendalen stürzte herein und mit den Händen hoch über dem Kopf an ihnen vorbei ...
Was war das? Allmächtiger Gott, was war das? Sie drangen ein ... Thora lag jetzt am Boden ... Fräulein Hall stand über sie geneigt. Auf dem Tische befand sich eine Schüssel mit Wasser.
Fräulein Hall blickte hastig auf. »Helfen Sie mir! ... Wir müssen sie wieder aufrichten!«
Sie halfen. Thora war nicht ohnmächtig, aber sie ließ alles mit sich geschehen. Als sie wieder auf dem Sofa lag, ganz todblau, abgemagert, aufgelöst, wandte Fräulein Hall sich mit einem seltsamen Blick an die anderen.
Erschreckt sahen diese sie an. Fräulein Hall antwortete bejahend mit wiederholtem ernstem Kopfnicken ...
Alle drei wichen ein paar Schritt zurück.
Nach einer Weile schlich erst die eine hinein zu Frau Rendalen, dann die zweite und zuletzt die dritte.
Frau Rendalen lag regungslos in dem großen Lehnstuhl.
Nora trat zu ihr und legte den Kopf in ihren Schoß. Kein Wort wurde gesprochen.
Aber dann vernahmen sie wieder Thora da drinnen. Sie hörten sie erzählen weinen jammern. Und dann kam Fräulein Hall zu ihnen herein.
»Was gibt's nun wieder?« fragte Frau Rendalen fast unwillig.
»Es war noch schlimmer,« sprach Fräulein Hall; »er hat sie noch einmal verfolgt!« Alle starrten die Lehrerin an. »Sie hatte sich auf eine Insel zu einer Lotsenfamilie geflüchtet. Das hatte er entdeckt und lauerte ihr auch dort auf. Der Schurke! Dann flüchtete sie wieder nach der westlichen Küste, wo sie krank wurde.«
»Das arme Kind!« rief Frau Rendalen. Ihr Mitleid war wieder erwacht; sie stand auf und begab sich zurück zu Thora; sie hätte sie niemals verlassen sollen. »Mein liebes, liebes Kind!« sprach sie.
Aber Thora bemerkte sie erst, als sie sich umwandte, und da hob sie beide Arme zu ihr auf und rief:
»Nein, nein, nein! Kommen Sie nicht zu mir! Nahen Sie mir nicht! Nein, nein, nein! ... Es war nicht meine Schuld, es war nicht meine Schuld! ... O Gott, ja, ja, es war auch meine Schuld ...«
Und wiederum brach sie in das heftigste Weinen aus.
Aber Frau Rendalen trat zu ihr und sprach: »Nimm es dir nicht so zu Herzen, mein Kind! Wir werden dich darum nicht verstoßen.« Das schien sie zu beruhigen. Doch als Frau Rendalen bemerkte, hier müßte unverzüglich etwas geschehen – sie müsse mit ihrem Sohn darüber sprechen, da begann sie von neuem zu schluchzen und zu jammern.
»Nein, nein, nein! O Gott, nein, nein!« Sie geriet ganz außer sich.
»Aber, geliebtes Kind, du weißt selbst, wie die Dinge stehen; es muß sein; denn über uns wird man morgen wegen dieser Sache herfallen ...«
»Das weiß ich, das weiß ich! Aber ihm nichts sagen! Noch nicht! Nein! Erst muß ich fort sein! ... Oh, sagen Sie ihm nichts! Es ist ja nicht nötig!«
Sie war wie wahnsinnig, und ihre Stimme war so herzzerreißend, daß die andern alle hereingeeilt kamen. Sie suchten sie zu beruhigen, indem sie ihre Hände und ihren Kopf hielten; aber sie schien niemand zu sehen. Sie befreite ihre Hände und ihren Kopf immer wieder, wand sich und rang die Hände und weinte und flehte, sie möchten doch schweigen, schweigen, schweigen! ... Darüber kam Thomas.
Zufällig hatte er das Badezimmer geöffnet und hörte sofort das Weinen und Jammern. Er glaubte, es sei im Schlafzimmer und hatte sich hineinbegeben, und nun stand er da.
Thora fuhr empor, schrie auf – und warf sich dann kopfüber mit den Händen vor dem Gesicht zu Boden.
Frau Rendalen trat zu ihrem Sohn, nahm ihn bei der Hand und begab sich mit ihm in sein Zimmer.
Thora wollte hinaus ... Jetzt konnte und wollte sie nicht mehr leben, – um keinen Preis! Sie rang mit denen, die um sie waren. Wäre Tinka nicht dabei gewesen, sie hätte sich losgerissen; sie war ganz wahnsinnig, sie biß und kratzte und schlug um sich. Aber Tinka hielt sie fest, bis alle ihre Kräfte sie verlassen hatten, und bat dann um Hilfe. Anna holte Frau Rendalen wieder herein, und sobald Thora diese erblickte, ergab sie sich. Von ihr ließ sie sich zum Sofa führen, und dann, als sie ruhiger geworden war, ins Schlafzimmer und dort in ein Bett legen, das neben das Lager der Frau Rendalen gerollt war ...
Und sie mußte bei der unglücklichen sitzenbleiben und ihre Hand halten. Noch im Schlafe schluchzte sie wie ein Kind und klagte sich an.