Theodor Birt
Frauen der Antike
Theodor Birt

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Sechstes Kapitel

Sappho

Auch von gelehrten Frauen wissen wir, die philologisch, historisch, philosophisch arbeiteten; aber sie locken uns wenig. Sie gehören den Zeiten des Niedergangs oder des Nachklassischen, den Zeiten des Hellenismus an, der auf die große Weltumwälzung Alexanders des Großen folgte. Gewiß stellen wir mit aller Hochachtung fest, daß die Tochter des Philosophen Aristipp zugleich ihres Vaters kluge Schülerin war; nach seinem Tod hat sie als Schulhaupt des Vaters Lehrbetrieb fortgesetzt. Eine gewisse Hestiäa trieb schon wie wir Topographie, bemüht um die Ortskunde des alten Troja. Großartiger noch die Leistung der Pamphila (sie fällt erst in die Zeit des Kaisers Nero), die eine Sammlung von Erinnerungen des Wissenswerten (Hypomnemata) in 33 Büchern hinterließ, die sich wesentlich mit der Geschichte der älteren griechischen Philosophen beschäftigten. Aber dies erwähnt zu haben, wird vielen genügen.

Einen Exzeß stellt ein fanatisches junges Mädchen dar aus der Zeit, wo die zynische Philosophie Mode wurde. Krates hieß ein Vertreter jener Lehre, die das »immer nur hübsch natürlich sein« predigte und sich den Hund zum Ideal und Vorbild nahm, ein Nachahmer des berühmten Diogenes, der, wie man weiß, als Junggesell in 79 einem Tonfaß Haus hielt. Bedürfnislosigkeit war das Losungswort.

Das junge Ding – sie hieß Hipparchia – lief mit ihrem Bruder ihren Eltern fort, um es dem Krates gleich zu tun. Sie verliebte sich nicht in den Menschen selbst, der ein häßlicher Kerl war, sondern in seine Prinzipien und seine planvoll garstige Lebensweise und wurde so selbst zum weiblichen Rüpel. Glücklicherweise schriftstellerte sie nicht, und nur eine Szene aus ihrem Jugendleben wird uns beschrieben.

Bei einer Trinkgesellschaft am Hof des Königs Lysimachus mischte sie sich in den Männerkreis und traf dort den Philosophen Theodoros, der ihr widerwärtig war; denn er war Hedoniker und vertrat die gegensätzliche Lehre von der Freude und Genußsucht um jeden Preis. Da fragte sie ihn: »Billigst du den Satz: was dem einen recht ist, ist dem andern billig, oder: was du mit Recht tun kannst, kann ich auch mit Recht tun?« Er stimmte zu. »Nun denn: wenn du selbst die Peitsche nimmst und dich geißelst, so geißelst du dich mit Recht; wenn ich dich peitschen möchte, so täte ich es auch mit Recht.« Ob die Sache in Tätlichkeiten überging, steht nicht geschrieben, wohl aber, daß der Mann, den Geschmack der Zyniker nachahmend, statt jeder Antwort, während sie auf der Kline lag, ihr Kleid hochriß, damit die Verehrerin des Natürlichen ihre Natürlichkeit zeige.s. Diog. Laert. VI 7; vgl. Anthol. Pal. VII 413.

Also auch solche Früchte trug damals das Paradies der Frauenemanzipation. Werfen wir dies hinter uns. Es ist erfreulicher, uns zur 80 Sappho, der süßen, der zärtlichen, zu wenden. Denn uns treibt endlich die Sehnsucht nach dem Schönen. Wer in die griechische Vergangenheit greift, möchte überhaupt nur von Schönheit hören. Damit aber wandern wir in hochehrwürdige alte Zeiten zurück, die der Aspasia, der Artemisia und Xanthippe weit voranfliegen.

Das Dichten ist im primitiven Volksleben vielfach Sache der Frauen gewesen. Daher sind bei den Griechen die Musen weibliche Genien und jungfräulich,Vgl. Anthol. Pal. IX 39. die Schützerinnen der dichterischen Phantastik und Ton- und Wortkunst gewesen. Das Land Pïerien nördlich des Olymp nannte man ihre Heimat; das Wort »Muse« aber bedeutet das Erinnern und Ersinnen zugleich.So denkt auch Sappho, wenn sie sagt, die λήϑη ist den Musen verhaßt. Also sind sie in erster Linie Erzählerinnen wie bei Homer, dessen Odyssee mit der Anrede an die Muse beginnt: »Sag' von dem Mann mir, Muse, dem vielgewandten, der so viel Irrsal und Abenteuer nach Trojas Zerstörung erlebt hat.« Aber sie ist da aristokratisch und beschäftigt sich nur mit erlesenem Personal, Helden und Göttern.

Ganz ebenso dachten dann auch namhafte Dichterinnen, die in der Literatur etwas später als Sappho auftraten und Ruhm gewannen wie die Korinna. Auch sie erzählte nur aus der Heldensage, aber sanglich, so daß Chöre in festlichem Anlaß es vortragen konnten.

Schlicht bürgerlich dagegen ist die Muse gesonnen, die der Sappho ihre Lieder gab. Da treten wir ins Privatleben mit seinen Beziehungen von Mensch zu Mensch und hören die schlichtere Herzenssprache.Ich hebe nur dies als das für uns Bedeutsame an Sapphos Leistungen hervor. Nebenher hat auch sie Sagenstoffe in lyrischer Form behandelt. Sie gibt uns Ichpoesie, die 81 vielfach vom Chorgesang absieht und sich gleichsam selbst zum Saitenspiel vorträgt.

Im 6. Jahrhundert v. Chr. haben diese Kunst zwei schöpferische Naturen begründet, beide Inselgriechen, beide auf der Insel Lesbos: ein Mann, Alkäus, ein Weib, Sappho; Lesbos, das schöne, eine kleine Welt für sich, ein Inselreich, das damals noch sein abgesondertes politisches Leben und Kulturleben hatte, wo man auch ein besonderes, dialektisch gefärbtes, äolisches Griechisch sprach. Für die Griechen, die hernach Geschichtsbücher schrieben, lag das fast wie Homer selbst und wie für uns das deutsche Mittelalter in grauer und meilenferner Vergangenheit.

Eine reiche Insel. Sie exportierte den gesuchtesten griechischen Inselwein.Vgl. Strabo S. 808; Athenäus p. 111 F; Anthol. Pal. VII 501; Vergil Georg. II 90 u. a. Die Sage aber erzählte, daß, als der Sänger Orpheus, dessen Zaubersang die wildesten Tiere bezwang, in Thrazien starb, seine Leier übers Meer von den Wellen nach Lesbos getragen wurde. So wurde das Eiland die Heimat der Musik und jedes Wohllauts.

Gleichwohl war es keine Insel der Seligen. Zwar herrschte damals dort Pittakus, der Gesetzgeber; aber er konnte der Friedlosigkeit im Volk nicht wehren. Viel lokaler Zwist und Parteihader bestand; mitteninne stand der stürmische Alkäus, und er sang erregend von Kampf und Seefahrt in kurzen Männerliedern und in neuen Tönen, für die er die Versform selbst ersann. Er war Mann der Tat und machte keine Schule.

Anders Sappho, die Frau, die er neben sich sah, wie sie lehrend wirkte und dichtete. Sie wußte sich trotz allem in tiefen Frieden zu hüllen und 82 sang von Liebe, die eigentliche Schöpferin des Liebesliedes für die Griechen, des Sololiedes mit der schlichten Sprache echter Leidenschaft, das jeder singen konnte, der fühlte wie sie.

Gewiß hat sie sich dabei an das Volkslied angelehnt. Denn selbstverständlich ist, daß sie im Munde des Volkes Gesang schon vorfand, simple Verslein, kurzzeilig und stammelnd. Das Spinnen und jede Handarbeit hatten die Weiber schon immer mit irgendwelchem Singsang begleitet, so wie die Männer ihr rohes Ruderlied hatten, das den Takt des Ruderschlags begleitete. Sappho aber gab dieser Lyrik die gereinigte Kunstform, den Ausbau, die Rundung, den Zauber, der ihr eigen war, und einen Wohllaut durch die liebliche Klangfarbe der Silben, der dem ganzen Altertum vorbildlich erschienen ist. Dafür ersann auch sie, wie Alkäus, die Versformen neu, die eine weiche Rhythmik zeigten süßen Schalles, wie sie der Frauenzunge angemessen,Auf Sappho passen die Worte γλυκοηχής und ϑυλύγλωσσα, die wir Anthol. Pal. IX 26, 7 lesen. und die geeignet waren, die Stimmungen der Sehnsucht und der Lebenswonne zu tragen.

Der Text aber genügte nicht; sie schrieb für den Gesang auch die Musik dazu, wobei sie die Tonart, die mixolydische, aus dem nahen Kleinasien entlehnte. Damals bestand in Kleinasien noch das lydische Reich des Königs Krösus, und so erklärt sich, daß Sappho so oft von Lydien redet. Der lydische Reichtum, die lydischen Streitwagen standen ihr in ihrer Phantasie vor Augen.

Auch der zärtliche Anakreon machte es in seiner Art ebenso. Er suchte es ihr gleichzutun. Aber er lebte erst ein halbes Jahrhundert später.

83 Was wissen wir vom Leben der Dichterin? Wir wissen, daß sie verheiratet war, aber früh Witwe wurde. Ob sie schon bei Lebzeiten des Gatten dichtete, läßt sich nicht erraten. Ich bezweifle es. Eine Tochter Kleïs hatte sie, über die sie sich in Versen zärtlich äußert:s. Nr. 54 der Ausgabe von C. R. Haines »Sappho, The poems and fragments«, London o. J., nach welcher Ausgabe ich auch weiterhin zitiere.

Ein Töchterchen hab' ich. Bin ich nicht reich?
Den goldigsten Blümlein an Schöne gleich.
Heißt Kleïs und ist mein herzliches Ergetzen.
Gar nichts ist mir,
Verglichen mit ihr,
Das lydische Königreich mit allen seinen Schätzen.

Aber auch als sie Witwe geworden war, haben Männer sich irgendwie um sie beworben.s. Haines. Nr. 26. Sie lehnte ab. So trat auch der Dichter Alkäus werbend an sie heran. Wir besitzen seine Anfrage und ihre Antwort. Es war ein sinniges dichterisches Spiel, die Frage und die Antwort, mit denen da die beiden Genies, die der Ruhm der Insel waren, sich begegneten; denn Alkäus machte seinen Antrag in der Versform der Sappho, und sie lehnte ab in der Versform des Alkäus. Dabei redete er sie schmeichelnd an: »Du heilige (oder keusche), veilchenbekränzte,Das Wort ἰόπλοκος stammt von diesen äolichen Dichtern. Es »dunkellockig« zu übersetzen geht nicht an; denn πλέκειν ist »flechten«. Also waren entweder Veilchen ins Haar geflochten, oder es ist »veilchenbekränzt« zu verstehen, da ja der Kranz selbst auch Flechtwerk ist. So trägt auch Atthis in Nr. 7 einen Kranz von Veilchen und Rosen, Alkibiades in Platos »Symposion« p. 212 E einen von Epheu und Veilchen, ähnlich Dionys, Anthol. Pal. IX 524, 10. Auf dem bekannten Vasenbild in München, das Sappho mit Alkäus zeigt (bei Haines S. 48) scheint Sappho wirklich einen Kranz zu tragen. sanft lächelnde Sappho, mich hindert die Scheu, zu dir ein offenes Wort zu sprechen . . .« Das Weitere fehlt leider. Sie erwiderte streng: »Verlangtest du nach dem, was edel und schön, und so, daß in dem, was deine Zunge spricht, sich nichts Arges einmischte, so würdest du das Auge nicht so niederschlagen und etwas sagen, was sich ziemt.«s. Nr. 27.

Auch als sie alt geworden, gab es noch einen 84 Bewerber. Da antwortete sie schlicht und nüchtern: »Bist du uns Freund, so wähle dir ein jüngeres Ehebett; denn ich kann es nicht tragen, dir beizuwohnen, da ich zu alt bin.«Nr. 28. Das Wort »uns« scheint anzudeuten, daß sie auch mit an ihre Tochter denkt; vielleicht aber dachte sie auch an die Hetärie, der sie vorstand. Ich habe das Wort »uns« in den Zitaten öfter durch Sperrdruck hervorgehoben. Von ihrem γῆρας redet Sappho auch in Nr. 31. Jedenfalls legte sie aber, wie der Anfang zeigt, auf die Freundschaft dieses Mannes Wert.

Von ihrem Bruder Charaxos reden ihre Versreste, der mit der Hetäre Rhodopis verkehrte; sie tadelt ihn (Nr. 9. und 10).Eine undeutliche Beziehung zur Familie des Pittakus findet sich in Nr. 38. Von den politischen Händeln, die den Alkäus in Erregung hielten, gelang es ihr sich ganz fern zu halten.Mit diesen Zahlen im Text ist auf dieselbe Ausgabe verwiesen. Sie lebte beruflich dem Gottesdienst und seiner Verherrlichung und den Festfeiern, die es in den Familien gab, und gründete eine Schule für weiblichen Chorgesang, die unter religiösem Schutz stand und sich an die Heiligtümer der Göttinnen Hera und Aphrodite anlehnte. Aphrodite ist hier nicht, wie vielfach anderen Ortes, die vulgäre des Dirnenwesens. In Sapphos Gedichten kommen keine anderen Götter als diese vor nebst Eros und den Musen.Zeus wird nur in der Bezeichnung der Aphrodite als παῖς Διός erwähnt, Nr. 3. Das ist bezeichnend.

Schließlich heißt es, daß sie irgendwann ihre Heimat verließ und nach Sizilien übersiedelte. Sizilien gehörte dem Westgriechentum; im Westen lag aber auch die Insel Leukas, und so wurde nun in der späteren, sentimentalen Dichtung des Hellenismus, in der das Sterben vor Liebe ein Lieblingsmotiv war, Sappho zu einer Romanfigur umgedichtet, die dort ihr Schicksal ereilt. Es handelt sich um Phaon, ursprünglich eine mythisch-mystische Figur und Lichtgeist. Er wurde aufgegriffen und vermenschlicht. Er sollte ihre Liebe verschmäht und sie auf der Insel Leukas 85 im Freitod ihr Ende gefunden haben. Im Westen geht eben das Sonnenlicht unter. Vom leukadischen Felsen sprang sie, so dichtete man, ins Meer. Wir sahen indessen, daß sie ein hohes Alter erreichte. Als Greisin ist sie aus dem Leben gegangen.

Porträtköpfe edelen Stils, auch Münzbilder sind von ihr vorhanden. Sie werden einer viel späteren Zeit verdankt und beruhen also auf Phantasie. Historisch treu ist daran nur die eigentümliche Haube, die sie trägt und die sie in der Nummer 97 unserer Fragmentsammlung selbst erwähnt.

Ist es uns nun möglich, eine Vorstellung von ihrer Kunst zu gewinnen? Die Aufgabe scheint unlösbar. Denn trotz aller Bewunderung, mit der das Altertum von Sappho redet, hat es uns von ihr doch nur ein paar Gedichtstücke, zumeist nur abgerissene Versfetzen überliefert. Gleichwohl sei hier ein Versuch gewagt. Dabei wird indes, was ich gebe, oft die Form der Untersuchung annehmen, und mit Anmut im Hain der Muse zu lustwandeln wird uns nicht gelingen. Übersetzungen, wie ich sie einschalte, können nur verflachend und reizlos auf den wirken, der den Urtext, das Griechisch der Sappho selbst gelesen und ihre Sprache kennt, die Kunst und Natur ist in wunderbarer Verbindung.

Ihr Nachlaß war mannigfaltig und umfangreich. Auch rein erzählende Dichtungen in sangbaren Versen fehlten nicht. Was sie aber berühmt machte,Dies zeigt uns Diskorides Anthol. Pol. VII 407. waren vor allem ihre Hochzeitslieder größeren Umfangs und jene kleinere Gattung der 86 Liebes- und Freundschaftslieder, zumeist in der sapphischen Strophe, für die Brahms die Musik in einem Gesangston gefunden hat, wie wir ihn brauchen.

Zu Sapphos Zeit gab es noch kaum das, was wir ein Buch nennen. Ein Buch gab es nur in Rollenform; aber auch diese Rolle, die Papyrusrolle, kam zu den Griechen aus Ägypten erst kurz vor Lebzeiten dieser Dichterin. Es ist wahrscheinlich, daß sie den Text ihrer Gedichte nur auf Schreibtafeln festgelegt hat, vielleicht auch in Bleiröllchen winzigen Umfangs.Vgl. »Kritik und Hermeneutik« S. 278. Diese wurden von ihr in den Tempeln der genannten beiden Göttinnen niedergelegt. Die Athener, die früh im literarischen Schreib- und Buchwesen die Führung nahmen und auch die homerischen Epen in Papyrusrollenform aufschreiben ließen,Vgl. »Kritik und Hermeneutik« S. 278. sie sind es auch gewesen, durch die Sappho für die weitere Umwelt gleichsam entdeckt und dem allgemeinen Publikum zugeführt wurde.So heißt es denn: Sappho war für die Lyrik, was Homer für die Epik war, Anthol. Pal. VII 14 ff. Ihnen wird man die Rettung ihres Nachlasses durch Kenntnisnahme der Originale, die in Lesbos lagen, zu verdanken haben.Ob hier der zufällige Umstand von Einfluß gewesen ist, daß eine Lieblingsschülerin der Sappho Atthis hieß? Stammte diese aus Athen? Vielleicht wurde hierdurch die Wertschätzung der Athener auf Sappho gelenkt oder gesteigert. Die letzte Sicherung brachten dann die alexandrinischen Philologen, die den Nachlaß auf neun Bücher verteilten, und wir sehen nun, daß Sappho noch lange Zeiten mit Liebe gelesen worden ist. Der Römer Catull übersetzte sie ins Latein; griechische Gelehrte zitieren Stellen aus ihr. Bereichernd sind neuerdings aus Ägypten Papyrusblätter in brüchigem Zustand hinzugekommen, die uns verraten, daß sich Privatleute noch in den Zeiten nach Christi Geburt Abschriften ihrer Gedichte 87 hergestellt haben. Noch um das Jahr 400 n. Chr. hat eine Halbgermanin, die Tochter des Vandalen Stilicho, als Braut die Liebeslieder der Sappho gelesen.Claudian, Epithal. de nuptiis Honorii 233; vgl. d. Index meiner Ausgabe S. 445.

Möge sie denn endlich selbst zu Worte kommen. Was wir haben, sind, wie gesagt, zumeist nur abgerissene Sätze. Nur wenige Gedichte liegen uns vollständig oder annähernd vollständig vor.

Für Hochzeiten, die es auf Lesbos gab, dichtete sie Chorgesänge, die man Hymenäen oder Epithalamien nennt. Eigennamen wurden darin nicht genannt; die Sachen sollten also für jede kommende Gelegenheit passend sein. Gleichwohl schrieb sie davon immer neue.Daß es eine größere Anzahl von Epithalamien war, beweist Dioskorides, der Anthol. Pal. VII 407 die Epithalamien als besondere Gruppe ihres Nachlasses verzeichnet. Unter den Fragmenten der Sappho verweise ich auf Nr. 124 und 125. Sie fand Freude daran, das Glück der Ehe zu preisen, aber so, daß ihr Interesse, wie uns gesagt wird,Dies zeigt Dioskorides Anthol. Pal. VII. den heiratslustigen Jünglingen, also dem Bräutigam und nicht der Braut galt.

Ein Epithalam liegt uns zum Glück in der mehr oder weniger freien Übersetzung vor, die Catull den Römern gab, und es sei verdeutscht hier vorangestellt.

Ein Hochzeitsmahl findet statt. An Tischen verteilt speisen getrennt hier die Jünglinge als Gäste, dort die Mädchen. Das ergibt zwei Chöre. Vielleicht waren es vier Tische der Mädchen, sechs Tische der Jünglinge.Vgl. Athen. p. 644 D; Beckers »Charikles« III2 S. 240. Die Braut wird gleich erscheinen, die man in des Bräutigams Gemach überführen wird. Ein Wettsingen entsteht: die Mädchen beklagen den Verlust der Jungfräulichkeit,Die Braut fürchtet die erste Nacht: Anthol. Pal. VII 240. die Jünglinge fordern das Recht der Ehe. Das Ganze aber ist belebtes Drama: erst 88 Vorbereitung zum Liede, dann das Streitlied selbst, endlich das entscheidende Schlußwort.Die Begründung meiner Auffassung dieses Gedichtes, die in manchen und wesentlichen Punkten von der üblichen abweicht, habe ich im Rhein. Mus. 59 S. 407 ff. ausführlich gegeben und freue mich, davon hier die Nutzanwendung machen zu können, indem ich für alles Einzelne auf jenen Aufsatz zurückverweise. Schon gleich die ersten Worte lauten bei Catull vesper adest. Hier pflegt man vesper für den Abendstern zu nehmen. Diesen aber nennt Catull hernach Hesperus; er unterscheidet also beides deutlich, und es ist mehr als sonderbar, daß man den gemachten Unterschied verwischt. Welches Wort hätte der Dichter denn sonst setzen sollen, wenn er den Abend meinte? Ausführlich habe ich a. a. O. über den Gebrauch von vesper gehandelt. Doch kann ich im Verfolg hier jedes einzelne dort Vorgetragene nicht wiederholen. Die Landschaft, in der die Szene spielt, ist in Catulls Wiedergabe anscheinend nicht in Lesbos selbst gedacht, sondern nach Pïerien, der Heimat der Musen, verlegt oder doch so verschoben, daß man das Gebirge des Olymp und auch den Berg Oeta sieht.Dabei vertreten die beiden himmelstützenden Berge hier zugleich den Himmel selbst; s. Rhein. Mus. 59 S. 410 f.

Ich bemerke noch, daß im Originaltext hinter jeder Strophe die Anrufung des Ehegottes Hymen steht, ob sie dort paßt oder nicht. Ich habe sie weggelassen. Sie lautet:

Hymen, o Hymenäus! O Hymen komm, Hymenäus.

 

Das Epithalam.

Chorführer:
Abend wird's. Steht auf, ihr Jünglinge. Eben erhebt jetzt
Überm Olymp, wie wir hofften, der Abend die Sterne am Himmel.
Zeit ist's, aufzustehn. So verlaßt denn die üppigen Tische.
Gleich schon kommt sie, die Braut, und der Festhymenäus beginnt dann.

Chorführerin:
6. Seht ihr Jungfrau'n dort die Jünglinge? steht denn auch ihr auf.
Über dem Oeta bringt ja der Abend den stürzenden Tau schon.Im v. 7 ist imber der Tau; ebda. S. 412, wo auch das visere im v. 9 erklärt ist.
Ja, so ist's. Schaut nur, wie sie eifrig vom Sitze gesprungen,
Und nicht umsonst. Sie rüsten Gesang. Aufmerken ist nötig.

Chorführer:
11. Nicht so leicht, ihr Genossen, erringt ihr die Palme im Wettstreit.
Seht, wie die Jungfrau'n dort miteinander beraten und sinnen,
Und nicht umsonst. Sie haben bereits, was sie woll'n, im Gedächtnis,
Freilich! weil sie sich müh'n mit völlig gesammeltem Geiste. 89
15. Wir sind zerstreut, sind hier mit dem Geist und dort mit den Ohren.
Drum ist's recht, wenn sie siegen. Der Sieg liebt Fleiß; er verlangt ihn.
Also zum wenigsten jetzt merkt auf mit euren Gedanken;
Denn schon heben sie an, und gleich antworten ist nötig.

        (Die Braut erscheint und der Hymnus beginnt:)

Mädchenchor:
20. Grausamer Abendstern! Welch Licht flammt böser am Himmel?
Der du die Tochter zu reißen vermagst aus den Armen der Mutter,
Ja, aus den Armen der Mutter die sträubende Tochter zu reißen
Und die noch Unberührte dem glühenden Jüngling zu geben.
Ist denn der Feind grausamer, der Feind, wenn er Städte erobert?

Jünglingschor:
26. Freundlicher Abendstern! Welch Licht strahlt schöner am Himmel?
Der du so leuchtend dem Bund der versprochenen Ehe zum Ziel hilfst,
Ihm, den die Väter bestimmt, den die Eltern im voraus beschlossen,
Eher jedoch nicht vollzieh'n, eh' nicht dein Schimmer uns aufging.
30. Glücklich die Stunde! Wie könnten die Götter Erwünschteres geben?Hier sind von mir zwei Strophen, die lückenhaft überliefert und daher schwer verständlich sind, ausgelassen. Ich habe sie folgendermaßen ergänzt und zu berichtigen versucht (Rhein. Mus. 59 S. 417), v. 32 ff.:

Puellae: Hesperus e nobis, aequales, abstulit unam.

32a [Nocte latent fures; furtum tegit Hesperus ille

32b Quo rapit invitam sponsus fulgente puellam.

32c Invitae rapimur; nolentibus insidiantur.

32d Hesperium vitate, optate ardescere Eoum.]

Juvenes: 34 Nocte latent fures, quos idem saepe revertens,

35 Hespere, mutato comprendis nomine Eous.

33 Namque tuo adventu vigilat custodia semper.

36 At libet innuptis ficto te carpere questu,

37 Questu si carpunt, tacito quem mente requirunt.

Dabei habe ich v. 33 hinter v. 35 gestellt, im v. 37 Questu für Quid tum gesetzt. Der Vers 32d ist von mir aus Ciris 352 entnommen. Die Ciris wimmelt ja von Catulliana. Der Ausfall der Verse aber erklärt sich daraus, daß der Schreiber vom Nocte im v. 32a zum Nocte im v. 34 abirrte. Die Dissertation von E. Mangelsdorf »Das lyrische Hochzeitslied bei den Griechen und Römern« (Hamburg 1913, S. 30 ff.) ignoriert, was ich Rhein. Mus. 59 ausgeführt habe.

Mädchenchor:
39. So wie die Blume gesichert erblüht im umhegeten Garten,
Unzugänglich dem Vieh, auch nie gerauft von der Pflugschar –
Lüfte umkosen, die Sonne ernährt sie, es tränkt sie der Nachttau
Und so erfüllt sie die Lüfte beglückend mit schwelgendem Dufthauch;Dieser Vers ist nicht überliefert; ich habe ihn um der Responsion willen eingeschaltet.
Viele der Jünglinge suchen sie dann und viele der Mädchen:
Aber sobald sie geknickt von zierlichen Fingern entblüht ist,
Nimmer dann suchen die Jünglinge sie und nimmer die Mädchen –; 90
45. Also die Jungfrau, wenn sie es bleibt, umhegt von den Ihren.
Wenn sie der Keuschheit Blüte verliert und sich selber dahingibt,Statt des »und sich selber dahingibt« steht drastischer im Text: »mit geschändetem Leibe«.
Reizt sie nicht Jünglinge mehr, und auch die Mädchen verschmäh'n sie.

Jünglingschor:
49. So wie die Rebe, die hilflos im saatlosen Acker gepflanzt wird,
Nie aufranken sich kann, nie liebliche Trauben emportreibt,
Sondern, so zart sie ist, da die eigene Last sie herabdrückt,
Niedrig alsbald die Wurzel berührt mit den obersten Ranken –
Weder der Landmann hält bei ihr Rast dann, noch auch die Herde;Zu diesem Vers 53 und der überlieferten Lesung accoluere s. Rhein. Mus. 59 S. 419 f. Dies betrifft auch den Vers 55.
Wird sie indeß als Gattin verknüpft und vermählt mit dem Ulmbaum,
55. Dann oft rasten im Schatten bei ihr der Landmann, die Herden –;s. hierzu und zur Erwähnung des Schattens die vorige Anmerkung.
Also die Jungfrau, wenn sie es bleibt, wird alt und vergessen.
Aber gelangt sie bei Jugendreife zum richtigen Ehbund,
Ist sie dem Gatten ein Schatz und zugleich den Eltern zur Last nicht.

Schlußwort desselben Chors:
60. Geh' nun und hadere nichtIch lese hier I nunc nec pugna statt des überlieferten Et nunc nec pugna. Das nec ist beizubehalten; s. Rhein. Mus. 59 S. 421. mit so trefflichem Gatten, o Jungfrau!
Hadern mit dem ist nicht recht, dem dich dein Vater gegeben,
Vater und Mutter zugleich. Die Pflicht ist's, beiden gehorchen.
Dein ist nicht ganz dein Jungfrauntum; auch den Eltern gehört es;
Erstlich ein Drittel dem Vater, ein anderes Drittel der Mutter,
63. Und nur ein Drittel ist dein. Drum streite nicht wider die beiden,
Die an den Eidam dich selbst hingaben, zugleich mit der Mitgift.

 

Es fällt auf und ist charakteristisch, daß das 91 Wort Liebe im Hochzeitslied ganz fehlt; es fehlt auch der Gott Eros. Der Ehegott Hymen tritt an seine Stelle. Daher auch die scheinbar' so prosaisch nüchterne Erwähnung der Mitgift am Schluß. Sie war im Ehekontrakt, den die beiderseitigen Eltern schlossen, fast so wichtig wie die Braut selbst. Hymen ist also der Gott der Ehe; Eros gilt als der Gott der freien Liebe, die zu den Hetären führt und unter dessen Schutz auch die Knabenliebe der Griechen stand.Daher denkt Diotima in Platos »Symposion« p. 211 D nicht daran, das Wirken des Eros mit der ehelichen Liebe zu erläutern, sondern redet nur von der Knabenliebe, da sie die Hetären nicht erwähnen mag.

Auf zweierlei sei noch hingewiesen, daß der Sappho in solchen Anlässen auch ein Chor von Männern zur Verfügung stand; sodann aber, daß sie nicht nur die Ehe hochschätzt, sondern dabei zugleich die Superiorität des Mannes betont und anerkennt.Vgl. Rhein. Mus. 59 S. 413 und 415. Denn im Wettgesang siegen die Jünglinge, und sie stehen auch als die Begabteren da; denn die Mädchen müssen über ihre Gesangleistung sorglich nachsinnen und sich vorbereiten mit Fleiß; die Jünglinge sind genialer; sie sind zerstreut und ohne Fleiß und finden doch Worte, die den Sieg verbürgen.

Daß wir in diesem schönen und für uns so wertvollen Gedicht die echte Sappho vor uns haben, steht für mich außer Zweifel. Kein Anzeichen weist auf Römisches, das etwa Catull hineingetragen hätte. Schön ist hier und volkstümlich zugleich die Vergleichung des Mädchens mit der Blume, die gepflückt werden soll, und mit der Rebe, die in der Ehe am Ulmenbaum sich hochrankt. Dies ist so echt wie möglich; denn genau dieselbe Art des Vergleiches finden wir auch in erhaltenen griechischen Resten ihrer 92 Epithalamien, wo wir lesen: »So wie der süße Apfel auf hohem Zweig, hoch auf dem höchsten, sich rötet – die Apfelpflücker können ihn nicht finden; sie können ihn endlich doch finden, aber können ihn nicht erreichen –, (ihm gleichtSo muß das Gleichnis fortgesetzt worden sein. das Mädchen, das im vornehmen Hause verborgen heranwuchs. Der Bewerber sieht sie nicht; er sieht sie endlich doch, aber er kann ihr kein Wort sagen).« Echt ist aber auch das Gleichnis von der Rebe, die sich zur Stützung dem Baum vermählt. Nur so hoch gerankt ist sie beliebt und kann Schatten geben, wie auch die Maid, die Frau geworden ist, für viele sorgt.Zur Echtheitsfrage sei noch mancherlei hinzugefügt. In den Pflanzungen, wo man Weinbau für den Handel betrieb und steigerte, wurde die Rebe bei den Griechen, wie noch heute, niedrig gehalten, der Hochwuchs verhindert. Daher redet weder Xenoph. Oekon. 19, 12 noch Theophrast De causis plant. III 11 ff. vom hochgewachsenen Wein. Die Reben, die ἐπιδενδράδες hießen, waren Wildwuchs, aber auch sie trugen natürlich Trauben, und unter ihnen konnten also das Vieh und der Landmann, wie es im Epithalam heißt, Schatten finden. So werden sie Anthol. Pal. VII 193 vorausgesetzt. Im Ölbaum ranken sie (ib. IX 130 und 668 v. 9), in den Platanen (ib. 220; 231; 247),in Myrten, Lorbeer und Zypressen (ib. 437). Der Gott Pan hütet sie und ihre roten Trauben (ib. 249). Man wandelt unter ihnen (Athen. p. 685 A). Nach den Trauben wird mit Steinen geworfen (Anthol. Pal. IX 74). Ein Vogel sitzt im Weinlaub (ib. 87). So wird auch im Psalm 79 v. 11 das Judenvolk mit den ἀναδενδράδες verglichen, die auf den Zedern ranken. Vielleicht hat Catull den Ulmbaum seinerseits eingesetzt, wo Sappho vielleicht die Platane nannte, wobei es ihm gleichgültig war, daß in dieser Ehe die Ulme so weiblich wie die Rebe ist. Bei den Griechen wird die Ulme in Verbindung mit der Rebe m. W. nur im Scholion zu Theokrit 7, 65 erwähnt, wo zu οἴνος Πτελεάτικος unter anderem angemerkt wird: ἢ τὸν ἐξ ἀναδενδράδων (sc. οἴνον), παρόσον ταῖς παρακειμέναις πτελέαις ἀναπλέκονται. Übrigens sollte es, wie es da heißt, auf Kos eine Stadt Πτελέα gegeben haben, was zu beanstanden mir nicht nötig scheint; denn das Adjektiv Πτελεατικός, das Theokrit gibt, ist korrekt gebildet. Wie von Ἀσία und Ἀσιάτης Ἀσιατικός, ergab Πτελέα ein Πτελεάτης und Πτελεατικός.

Keine Berechtigung hat sodann die Behauptung, der Vergleich der besprochenen Umrankung mit der Ehe sei erst alexandrinisch, wofür man geltend macht, daß gewisse Bäume in der alexandrinischen Dichtkunst als Liebende erscheinen (Rothstein zu Properz I 18, 19 und danach Kroll). Dies beruht auf Begriffsverwirrung; denn das Epithalam redet eben nicht von Liebe, sondern nur von Ehe. Daß diese im Epithalam mit Verliebtheit nichts zu tun hat und nur durch Kontrakt und äußeren Einfluß zustande kommt, zeigte ich schon. Sie ist nur ein ζεῦγος, Zusammenjochung. Warum soll Sappho die Verbindung der Bäume nicht als ein συζεύγυμα, das sich von selbst ergibt, betrachtet haben? Ein solches besteht zwischen Gatten und Gattin wie bei den ἀναδενδράδες. Um das zu sehen, braucht man kein Alexandriner zu sein.

Daß ferner der Anruf Hymen o Hymenaee wirklich der Sappho gehörte, zeigt Anthol. Pal. VII 407.

Man hat aber auch gemeint, die Form des Wettgesangs, den das Gedicht durchführt, sei von den Bukolikern, also etwa von Theokrit beeinflußt. Da ist doch aber auf einen wesentlichen Unterschied hinzuweisen. Denn bei Theokrit und Vergil folgt auf das Wettsingen immer am Schluß wie geschäftsmäßig die Entscheidung über den Sieg oder die Preisverteilung. Davon weiß unser Sapphogedicht noch nichts; nach der Erwähnung der Palme im v. 12 kann man dies geradezu vermissen. Aber auf die Hauptsache dringend ist Sappho und mit ihr Catull genial darüber hinweggegangen. Es verrät sich darin ein früheres naiveres Verfahren.

Sodann haben die starken Wortwiederholungen bei Catull, die wie Stichworte wirken, Bedenken erregt. Auch darin glaubt man den Einfluß der Bukoliker zu spüren. Wer aber will beweisen, daß dies Sappho nicht ebenso zu bringen verstand? Jedenfalls ist, wie oben S. 91 f. nachgewiesen, echt sapphisch in dieser Dichtung der Aufbau der Gleichnisse mit den breit eingebauten Paranthesen, wie Catull sie v. 39 ff. und v. 49 ff. gibt. Die Reste der sonstigen Epithalamien der Dichterin aber sind zu verschwindend dürftig, um auch das, worum es sich jetzt hier handelt, als sapphisch zu erweisen. Eine Epanophora finden wir dort in den Worten an den Hypnos (Nr. 229): φέρεις ὄιν, φέρεις αἶγα, φέρεις δ᾽ ἄπυ μάτερι παῖδα. Ganz wohl aber läßt sich in Nr. 133 die pointierte Wiederholung des ἄκρον und des λανϑάνειν zum Vergleich heranziehen: ἐρεύϑεται ἄκρῳ ἐπ᾽ ὔσδῳ, ἄκρον ἐπ᾽ ἀκροτάτῳ· λελάϑοντο δὲ μαλοδρόπηες· οὐ μὰν ἐκλελάϑοντο. Der Stil der Bukoliker war, wie schon dies verrät, ohne Frage älter als sie selber. Schreibt doch sogar Xenoph., Oekon. 10, 3, als ließe er einen Hirten sprechen: βουσὶ δὲ βοῦς ἥδιστον, προβάτοις δὲ πρόβατον· οὕτω καὶ ἄνϑρωποι κτλ., welche Worte sogar daktylisch einsetzen.

Beweisend aber scheint mir endlich noch das Metrische. Catull folgt sonst im Bau der Versschlüsse des Hexameters den Alexandrinern, besonders wo diese Dichter deutlich sein Vorbild sind wie in Nr. 64, 66 und 68 B. Gemeint ist der häufige Spondeus im 5. Fuß. Im Epithalam dagegen fehlen solche Verse bei ihm auffallenderweise ganz. Dies Gedicht zeigt hierin eine wesenlich andere, eine voralexandrinische Behandlung des Verses. Das kann bei einem solchen Dichter und bewußten Versbildner nicht Zufall sein und läßt sich nur aus der abweichenden Beschaffenheit seiner Vorlage erklären, die somit selbst voralexandrinisch war.

Soweit das Hochzeitslied. Ein frischer lebenbejahender, ja, wonniger Ton herrscht da, und wir wünschten, eine Sappho könnte unsern Hochzeitern auch heute noch ähnliches geben. Trauergesänge bei Bestattungen zu dichten hat sie dagegen ausdrücklich abgelehnt.s. Nr. 61. Die Grabinschriften, Nr. 164 und 165, die unter Sapphos Namen gehen, sind also auffällig und wohl zu beanstanden.

Die liebe, gütige Frau, ganz persönlich tritt sie uns nun in den Liedern, in denen sie selbst vor uns ihr Herz öffnet, entgegen. Sie öffnet es impulsiv in Freimut und schöner Regung ihren Nebenmenschen, den Mädchen nicht nur, auch den Männern, in zarten und in heißen Empfindungen, in Naturfreude, in sinniger Betrachtung und auch in schalkhaften Wendungen. Es ist ihr Umgang mit Menschen und mit der Natur, den wir jetzt belauschen. Eigennamen werden von ihr oft genannt, und es sind nie Decknamen. Sappho gab den Angeredeten die Lieder in die Hand wie Briefe oder Billets intimen Inhalts. Die Niederschriften aber wurden sorglich aufgehoben.

93 Da sind zunächst die Schülerinnen, die jungen Wesen, die sie zu Gesang und Tanz erzieht. Sie nennt sie Kameradinnen, und ihnen zum Genuß will sie singen;Kameradinnen, d. i. »Hetären«, Nr. 34. Das Zusammenleben mit ihnen war also eine Hetärie (vgl. oben S. 47). Übrigens wurden die jungen Mädchen auch in dem Epithalam, das Catull uns gab, v. 6, anscheinend ebenso bezeichnet; denn was da der Codex Thuaneus bietet, scheint die Lesung vorauszusetzen: cernitis innuptae iuvenes; consurgite hetaerae (s. Rhein. Mus. 59, S. 413). dabei versichert sie: »Euch bleibt mein Sinn immer treu« (Nr. 33). Eine, die neu sich einstellt, heißt sie willkommen: »Sei uns gegrüßt« (Nr. 45). Und wir sehen nun, wie es da hergeht. Sie tanzen um den Altar auf blumigem Rasen (Nr. 86), auch bei Mondschein (Nr. 76). Die Jüngeren winden Girlanden (Nr. 78). Da ist eine, die lernt gut, wie Sappho feststellt (Nr. 23), und so fanden sich einige, die, durch Anmut ausgezeichnet, vor allen anderen ihr Herz gewannen.

Was sie bekümmert, ist der Abschied von ihnen, bald der einen, bald der anderen, und da hören wir rührende Worte. Denn die Schülerinnen wechselten natürlich annähernd jedes Jahr, wie jeder Lehrer, jede Lehrerin es auch heut erlebt. Die Mädchen heirateten,Daher fragt Sappho in Nr. 36 die Schülerin: »liebst du unter den Menschen (nicht Frauen) einen mehr als mich?« oder sie verreisen und kehren nach Haus zu ihren Eltern; denn sie stammen oft von auswärts. Die Meisterin bleibt allein und sieht sie scheiden. »Die leichtfüßige Hero, die so gut im Reigen tanzte, habe ich nun zu Ende unterrichtet« (Nr. 20), und sie ruft trübe: »Ihr vergeßt mich!« (Nr. 35).

Da ist die junge Atthis; die redet sie an: »Ich liebte dich schon vor langer Zeit, als du noch klein warst und die Anmut, die dein eigen, noch nicht hattest« (Nr. 18). Aber Atthis wird ungetreu: »Deine Gedanken sind mir jetzt feind, und du flatterst zur Andromeda« (Nr. 19). War diese Andromeda eine Konkurrentin und auch sie 94 Lehrerin gleicher Art? Dann kommt die Trennung, und wir lesen das Zwiegespräch (Nr. 7): »Ich möchte sterben vor Betrübnis. Atthis aber weinte beim Abschied und sprach: »Wie Schweres leiden wir, o Sappho! Aber ich gehe wider Willen.« Ich aber antwortete: »Sei glücklich und gedenke mein. Du weißt, wie ich dir sorgend nachgegangen. Weißt du es nicht, so will ich daran erinnern, wie Schönes und Liebes wir erlebt haben, wie du bekränzt mit Veilchen und Rosen, den vergänglichen, bei mir saßest, um den zarten Nacken ein Gewinde von wonnigen Blumen, das wir gefertigt,Diese Mode der jungen Frauen, Kränze und Bänder um Arme und Brust zu tragen, sieht man auch auf Bildwerken; vgl. R. E. VIII S. 1348. und mit Myrtenduftwerk hattest du dein Haupt durchduftet, und weich war das Kissen (darauf wir saßen).«

An den frommen Festtagen schmückten die Mädchen sich so mit Blumen. Es war Sommer, und sie werden so im Freien und nicht etwa im Hause beisammen gesessen haben.

Auch noch eine zweite ist da, die Gorgyla, aus Kolophon gebürtig, deren langes Gewand sie bewundert (Nr. 5). Das Mädchen zeigt sich ablehnend; da ruft Sappho Aphrodite selbst zur Hilfe, und die Göttin erscheint ihr wirklichSie erscheint ihr im Traum; vgl. Nr. 94. und spricht (Nr. 3): »Liebt sie dich jetzt noch nicht, so soll sie dich doch lieben, auch wenn sie nicht will.« Der Schulbetrieb lehnte sich, wie gesagt, an den Aphroditekult an; daher muß diese Göttin für die Freundschaft (φιλότης) ihre Hilfe gewähren.Vgl. auch Nr. 7: »auch ich habe einst Aphrodite verachtet und gescholten«. Von Eros ist hier natürlich nicht die Rede.

Gorgyla ist endlich fern und nach Sardes, der Stadt der Lyder, abgereist. Da versenkt sich die 95 Dichterin in die Gefühle des Mädchens (Nr. 6): »Sie freute sich früher an unseren Gesängen. Nun sehnt sie sich zurück dort unter den lydischen Frauen. In die Nacht horcht sie hinaus, wenn der Mond nach Sonnenuntergang, der strahlenfingrige,Hier steht ῥοδοδάκτυλος. Schon diese Stelle zeigt, was ich im »Kulturleben der Griechen und Römer« S. 442 Anm. 31 ausgeführt habe, daß dies homerische Wort nicht »rosenfingerig« bedeutet. Denn der Mond ist nicht rosig. alle Sterne überstrahlt und seinen Schein auf das ferne Meer und auf unsere blumigen Gefilde wirft und der Tau hier auf unsere Rosen fällt und auf die Anthryskumblüten und den Honigklee. Umherwandelnd denkt sie dann oft sehnsüchtig an unsere Atthis zurück und verzehrt ihr Herz, das ihr schwer ist, und ruft nach uns. Aber die Nacht läßt es uns aus so weiter Ferne nicht hören.« Zum Verständnis muß man sich gegenwärtig halten, daß Gorgyla von Lydien her nach Westen blickt, wo sie den Sonnenuntergang wahrnimmt und wo für sie das Mittelmeer und die Insel Lesbos liegen.

In Hinblick auf diese und ähnliche Verse, auf diese Gefühlshingabe an die Mädchen, die Sappho im Chor singen und tanzen und sich festlich schmücken lehrte, haben ihr nun die späteren Spottdichter Athens das Laster der sogenannten lesbischen Liebe angedichtet, des erotischen Verkehrs von Weib zu Weib, der übrigens den Lesbierinnen gar nicht speziell eigentümlich, sondern natürlich überall anzutreffen war.Es genügt auf Physiognomonika II S. 114 zu verweisen, wo mit Beziehung auf Aristoteles allgemein gelehrt wird mulieres coïre cum mulieribus, quarum species est muliebris, masculis autem magis deditas, quae magis ad virilem speciem respondent quae ἀρρενικαί dicuntur. Eine ungeheuerliche Vorstellung, schon gesellschaftlich undenkbar; denn viele unter den Schülerinnen hätten solches Treiben der Lehrerin beobachtet; an Skandal und Schandreden hätte es schon damals unter ihnen nicht fehlen können, und Sapphos Stellung wäre unhaltbar gewesen. Oder 96 wird man sich dazu versteigen, das Ganze sich als Mädchenbordell für Frauenbenutzung unter dem Schutz der Aphrodite vorzustellen? Es verlohnt gar nicht, davon zu reden. Alkäus nannte Sappho die heilige oder keusche (ἁγνά), und schon das genügt. In sämtlichen Versen, die uns vorliegen, spüren wir obendrein den frauenhaft edelen und reinen Ton. Daß solche Frau auch einmal zum Tode betrübt ist beim Abschied (Nr. 7), wen kann das wundern, zumal bei einer Südländerin? Nirgends ist ja auch vom UmarmenIn Nr. 48 gehört das Wort περιπτύξωμα dem Julian und nicht der Sappho. oder gar vom Kuß, nirgends auch nur von körperlicher Berührung ein Wort zu finden. Das höchste ist, daß Sappho neben ihrer Schülerin sitzt und sich an ihr freut, die sich mit Blumen geschmückt hat. Nur von Freundschaft, vom Liebhaben (φιλότης), nicht vom Eros ist hier je die Rede. Wir brauchen keine Rettungen der Sappho mehr.

Aber ihr Herz hatte noch Raum für vieles andere, und ihr Leben ging nicht auf im Schulbetrieb. Kinderlieb war sie und nimmt Anlaß, das zu erwähnen. Von der Freude an Kindern zu reden ist sonst etwas so Seltenes in der griechischen Literatur der älteren Zeit.Kinderliebe bei Sappho, s. Nr. 157. Im übrigen sei auf »Aus dem Leben der Antike« 4. Aufl. S. 139 f. verwiesen. Aber sie hatte auch noch Blick für die Männer und die Männer für sie. An Gastgelagen nahm sie teil, wo offenbar Reichtum herrschte: »Heut,« ruft sie da, »soll uns Aphrodite selbst den Wein kredenzen, der aus vergoldeten Bechern getrunken wird« (Nr. 89). Sanft lächelnd fand sie Alkäus und jugendlich, einen Veilchenkranz im Haar. Kein Wunder, daß man die Witwe, wie wir sahen, 97 wiederholt zur Ehe begehrt hat. Aber sie zog nicht nur die Blicke auf sich; auch sie gab acht auf das andere Geschlecht, und da urteilt sie: »Der Mann, der schön ist, ist eben schön; wenn er gut ist, so ist er schon dadurch schön« (Nr. 63). Sie fordert aber auch unverlegen: »Steh da und laß mich sehen, wie schön du bist« (Nr. 26). Sie klagt: »Der Freund hat mich verlassen« (Nr. 11), und wir hören den Seufzer der Ratlosen, wo sie zu wählen hat (Nr. 43):

Ich weiß nicht wohin.
Auf zweierlei steht mein Sinn.

Ausführlicher lautet eine Begrüßung (Nr. 45): »Es ist gut, daß du kamst. Ich verlangte schon nach dir. Mein Sinn brannte schon vor Sehnsucht. Sei uns willkommen für immer und nicht nur für so viel Jahre, als du uns fern warst.« Wüßten wir nur, an wen diese Verse sich richteten.Die Worte richteten sich gewiß nicht an eine Schülerin; denn diese blieben nicht für immer. Ist also ein Freund oder etwa ihr Bruder gemeint? Noch sei Nr. 41 zitiert, wo Z. 11 ein Freund angeredet ist; dabei redet dieses Gedicht von der Musik, die alle Sorgen beschwichtigt.

Aber ihre Seele stand für jede Schönheit offen und gab sich auch an die Natur und ihren Zauber mit lieblichen Worten hin. Der Morgen naht; so sieht sie das Morgenrot, es ist »die goldbeschuhte Eos«. Oder es ist Nacht; da dichtet sie (Nr. 75):

Alle Sterne rings, in das tiefste Dunkel
Sinkt ihr Glanz dahin, wenn der Mond, der schöne,
Kam und vollaufstrahlend sein Goldlicht gießt auf Himmel und Erde.Am Schluß der Strophe ist etwa γᾶν καὶ Ὄλυμπον zu ergänzen.

Im Baumgarten aber träumt sie (Nr. 72):

Kühl rauschen rings die Quell'n, wo in den Zweigen
Die Früchte sich der Apfelbäume neigen,
Und aus dem sanftbewegten Laub der Wipfel fließt
Der Schlummer nieder, der mir sanft das Auge schließt!

98 Tauben gab es wie heute bei allen Tempeln oder Gotteshäusern. Da trauert sie (Nr.79):

Meine Tauben lassen die Flügel hängen.
Sind sie tot? Ist ihnen das Herz erfroren?

Aber auch zu klugen Sätzen der Lebenserfahrung sammelt sich die weise Dichterin, und auch da herrscht ein heller Optimismus. Zunächst die sittliche Haltung: »Sinnenlust und Sonnenfreude sind wohl vereinbar mit der Tugend« (Nr. 41), und dasselbe nochmals (Nr. 66):

Kein Reichtum wird ohne Tugend allein
Treu uns ein Hausgenosse sein.
Wo beide vereint und ohne Streit,
Da ist wirklich Glückseligkeit.

Vom Tod redet sie fast mit Humor: »Er ist ein Übel. Wäre er etwas Schönes, da würden doch auch die Götter sterben« (Nr. 64). Wie weise ferner der Rat: »Im Zorn hüte deine Zunge« (Nr. 65)! Aber auch auf äußerlich gute Lebensart hält sie und verspottet ein bäurisches Mädchen, das, bei Tisch liegend, ihr Kleid nicht über die Füße zu legen versteht (Nr. 15), und für eine Person, die die Kunst nicht schätzt, hat sie die Worte (Nr. 24): »Die pïerischen RosenÜber Pïerien s. oben S. 88. erblühen dir nicht, und vergessen gehst du zum Hades.«

Alles dies macht uns das Bild der seltenen Frau lebendig. Ist dies nun aber schon alles? O nein. Was mir das Bewundernswerteste scheint, das soll noch folgen. Ein rechter Dichter muß sich auch als wahrer Herzenskünder in die Seelen anderer versetzen können. So weiß auch Sappho dem Seelenleben ihrer Mitmenschen, ob Männer, 99 ob Frauen, Worte zu verleihen, und auch da weiß sie tief zu greifen. Ein Beispiel dafür war uns schon das Lied von der Gorgyla, die sich aus dem fernen lydischen Land nach Lesbos zurücksehnt. Ein Volkslied glauben wir zu hören – so naiv ist der Ton –, wo es sich um ein anderes Mädchen handelt. Das Mädchen spricht (Nr. 53):

O süße Mutter, ich kann nicht mehr drinnen
Weben und weben, spinnen und spinnen.
Ich habe Sehnsucht nach dem Knaben,
Sehnsucht hab' ich, den Liebsten zu haben.
Die hat entfacht
Der Aphrodite heilige, zärtliche Macht.Um ein deutsches Gedicht herzustellen, habe ich den sehr prägnanten, vierzeiligen Text der Sappho etwas erweitern müssen.

Ein anderes aber läßt sie so sprechen; es ist nur ein Seufzer der Einsamen, ganz schlicht und stimmungsvoll:

Die Stunde ist gekommen,
Sterne und Mond verglommen.
Mitternacht hüllt mich ein.
Ich aber schlummre allein.Zu dieser Nr. 71 vgl. »Von Homer bis Sokr.« S. 107. Sie ist zwar nicht unter Sapphos Namen überliefert; aber man hat ihr die vielbewunderten Verse mit großer Wahrscheinlichkeit zugeschrieben. Daß Sappho sich darin aber selbst sprechend einführt, ist nach allem, was wir über sie festgestellt, undenkbar. Vielleicht ist dies nur ein Fragment, und die Person war irgendwie einleitend eingeführt, die redend gedacht ist.

Das ist Klassizität, Vollkommenheit im kleinen.

Ganz ebenso dichtete sie nun aber auch Lieder für Männer; sie dichtete aus der Seele der liebenden Jünglinge heraus. Dies sagt uns ausdrücklich ein antiker Zeuge, dem ihr ganzer Nachlaß noch hat vorliegen können; es ist der hellenistische Dichter Dioskorides.Anthol. Pal. VII 407. Da heißt es: »O Sappho, du warst den liebenden Jünglingen (mit deinen Liedern) eine Stütze und hast außerdem Hymenäen für die Verlobten geschaffen« usf. Es ist bemerkenswert, daß die an die Schülerinnen gerichteten Gedichte der Sappho von ihm gar nicht mit erwähnt werden. Dioskorides als Mann 100 interessierte sich nicht für sie. Dagegen weiß er, daß sie das sang, was das Männerherz braucht, stellt dies voran und unterscheidet es bestimmt von den Hochzeitsgesängen. Dies ist hiermit klargestellt, und es dient uns zum Verständnis anderer Bruchstücke, die zu erwähnen uns noch übrig ist.

So ermahnt sie einen Ungenannten, der kriegerisch gesonnen ist, einem Mädchen, der Anaktoria, nachzugehen: »Die einen halten den Krieg zu Roß oder zu Fuß für das Schönste, die andern die Seefahrt, ich aber das, in was man verliebt ist. So raubte Paris einst die Helena, worüber Troja zugrunde ging. So gedenke du denn an Anaktoria, die fern ist. Ich wenigstens möchte sie lieber sehen als die Streitwagen der Lyder und ihr Fußvolk in Waffen.«Nr. 8. Ich habe dies Stück erheblich verkürzt wiedergegeben.

Ein Liebender selbst aber spricht: »Wie ein Knabe zur Mutter bin ich zu dir auf Flügeln gekommen.«Nr. 52. Man vgl. dazu Plautus Trin. 651: »ich liebe dich noch mehr, als ich meine Mutter liebe«.

Ebenso, wenn wir den Wunsch hören, »möge die Nacht sich verdoppeln« (Nr. 50). Der da das Wort führt, möchte es halten wie Jupiter mit der Alkmene.

Aber auch vom Eros die brünstig leidenschaftlichen Worte gehören hierher: »Wieder löst mir Eros die Glieder, das unbezwingliche, bittersüße, schlangenhafte Getier.Eros wird als Schlange gedacht; daher steht hier bei Sappho frg. 46 ὄρπετον, d. h. Reptil. So heißt Amor im Epigramm bei Apulejus, Met. 4, 33 v. 4 das vipereum malum. Dies ist von R. Reitzenstein in seiner Schrift »Das Märchen von Amor und Psyche« vollständig mißdeutet worden; vgl. »Kritik und Hermeneutik« S. 205 f. und »Alexander der Große«³ S. 492 Anm. 64. Er erschüttert meinen Sinn wie der Sturmwind, der in die Eichen fährt« (Nr. 46 u. 47). Daß auch dies ein Mann spricht, beweisen die entsprechenden Verse des Dichters Ibykus, die ganz dasselbe bringen: »Der Eros läßt mir nicht Ruh'; mit Blitzen wie Ungewitter kommt er über mich, springt an mit dem flammenden 101 Rasen der Sturmnacht, schüttert mit Macht mir der Seele Tiefen bis ins innerste Mark.«Vgl. »Von Homer bis Sokr.« S. 106. Einer lyrischen Erzählung der Sappho gehört es an, was wir Nr. 100 lesen: »Eros, der Gott selbst, kam in purpurner Chlamys«.

Und so ist es schließlich auch ein Mann, der zum Mädchen redet in dem berühmtesten Liede, das hier den Abschluß bilde, der vielbewunderten pathologischen Studie, die auf alle Fälle für das Seelenleben von Frauen befremdlich ist; es ist das Lied, in dem Sappho den Zustand dessen schildert, der in Liebe entbrennt. Es lautet (Nr. 4):

Wahrlich gleich zu achten den Göttern droben
Ist der Mann, so sag' ich, der gegenüber
Nah' dir sitzen darf und so zuhört deinem süßen Gespräche,

Auch dein Lachen hört, das die Sehnsucht weckt, das
Mir das Herz erschütternd bewegt im Busen.
Denn da ich dich schaue, versagt mir jählings völlig die Stimme,

Und starr wird die Zunge mir gleich. Ein Glühen
Fährt mir durch das Blut wie geheimes Feuer.
Meine Augen werden mir blind; wie wirbelnd rauscht mir's im Ohre.

Kalter Schweiß rinnt über mich hin. Ein Zittern
Jagt mich auf. Farbloser als welkes Gras schon
Bin ich wie gestorben, und bar von Sinnen schein' ich mir selber.

Aber alles gilt es zu wagen . . .

Hier bricht das Lied ab. Es ist unvollständig erhalten. Hat man wirklich glauben können, Sappho selbst führe hier das Wort, und es handle sich um die Liebe des Weibes zum Weibe? Aber der sehr männliche Catull hat ja das Gedicht übersetzt und diese Erregungen mit Sapphos Worten als die seinen geschildert.Catull c. 51. Den Zustand, 102 der hier vorgeführt wird, bezog Catull, der verliebte, auf sich selber. Er glaubte oder wußte, daß hier ein Mann spräche. Daß man sich so den Zustand verliebter Männer dachte, beweist auch der ärztliche Bericht über den liebeskranken Antiochus, den Sohn des Königs Seleukus; denn da werden uns ganz dieselben Symptome aufgezählt: Verwirrung, Stocken der Stimme, fahle Blässe und Angstschweiß bis zur Ohnmacht.Plutarch Demetr. 38. Übrigens findet man dieselben Symptome auch noch bei Properz I 5, 14 f. und bei Horaz carm. I 13, 5 f., und sie betreffen auch da verliebte Männer. Die Sache ist somit klar, und das Schlußwort des Gedichtes: »aber alles gilt es zu wagen«ἀλλὰ πᾶν τόλματον. beweist dasselbe. Denn was hätte Sappho, wäre sie in eine Schülerin so verliebt gewesen, viel zu wagen gehabt? Vielmehr redet hier ein Jüngling, der das Mädchen kennt, aber in ihr Haus nicht dringen kann und der den beneidet, dem auch nur neben ihr zu sitzen und dabei ihr Plaudern und Lachen zu hören vergönnt ist; er fühlt, daß er schließlich alles wagen muß.Mit diesem Gedicht ist auch Nr. 40 zu vergleichen.

In Hinblick auf dies Gedicht und ihm ähnliche pries somit Dioskorides die Sappho im Namen der liebenden Jünglinge, und daher hat also auch Horaz unsere Dichterin die mascula Sappho genannt.Das mascula Sappho steht bei Horaz Epistl. I 19, 28. So überträgt Horaz denn auch, was Sappho in Nr. 42 gibt, auf seine männlichen Gefühle, Ode I 26, 1. Er wußte so gut wie jener von diesen Dichtungen, die sie bei den Männern beliebt machten. Es schien wohl ein Mirakel, war im Grunde aber nichts anderes, als was uns Chamisso gegeben, der als Mann von Frauenlieb' und Leben sang; und ein Schumann – nicht Schumanns Frau – hat für dies Frauenleben die Tonsprache gefunden.

Hiermit verstummt Sappho für uns. Ihr lauterer Ruhm währte im Altertum durch ein 103 Jahrtausend.s. oben S. 86 f. Möchte das, was ich hier gegeben habe, auch uns noch helfen, dies zu begreifen. Sie selbst ist sich des Wertes ihrer Kunst voll bewußt gewesen. »Ich habe teil,« sagt sie, »an den veilchenbekränzten Pïeriden. Möchte mein Ruhm den Himmel berühren. Den Musen verhaßt ist die Vergessenheit.«Nr. 57–60. 104

 


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