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Ostern war gekommen, doch Frau Direktor und Aurora bewohnten noch immer das große Haus; zwar war für sie in Landeck ein Häuschen gemietet worden, doch wünschte Frau Direktor die Osterfeiertage noch einmal vereint mit ihren Söhnen zu verleben. Es war ein so natürlicher Wunsch, daß ihn Herr Uslar mit voller Bereitwilligkeit erfüllte und sich noch länger in dem kleinen Hause zu beschränken versprach.
Mit sehr verschiedenen Gefühlen wurden diese Feiertage erwartet. Die Uslars freuten sich darauf, sie in Sornitz zu verleben, wohin sie von Zarnikows eingeladen waren. Minna dachte, daß zu Ostern die Bewohner von Doszek zurückkehren wollten, und bei dem Gedanken an diese Rückkehr fing ihr Herz stürmisch zu klopfen an.
Ottel aber betrat die Feiertagswoche mit dem erhebenden Bewußtsein des Siegers. Er hatte sein Abiturientenexamen mit einer ›Zwei‹ glücklich bestanden und sollte nach wenig Wochen in Breslau Theologie studieren. Er war von seinen Eltern wie von allen Uslars natürlich mit Stolz und Freude empfangen worden; seine Mutter beglückte ihn mit seinen Lieblingsgerichten und fütterte ihn mit frischgebackenen Kuchen, und von seinem ›Alten‹ erhielt er ein Extra-Taschengeld und ein Kistchen Zigarren. In vollständiger glückseliger Verachtung aller griechischen und lateinischen Autoren und Grammatiker, die er gründlich ›über‹ bekommen hatte, sowie in ebenso vollständiger und glückseliger Bummelei – jedenfalls in einem beneidenswerten Zustande, genoß er seine Ferien.
Auf Herrn Uslar dagegen lag eine Last von Geschäften, und schon am Abend des zweiten Feiertags kehrte er mit Minna von Sornitz zu seiner Arbeit zurück; dafür sollte diese mit Ottel den Dienstag, der den Namen des ›dritten Feiertags‹ mit Unrecht führt, in Georgenberg im Pastorhause mit ihren Freunden verleben.
Auch die Natur feierte ihr Auferstehungsfest. Über Baum und Strauch breitete sich ein goldgrüner Schimmer, die Feldraine waren mit kräftigem Gras bedeckt und voll gelber und weißer Blüten, die gepflügten Felder zeigten das tiefe Schwarz frisch aufgeworfener Erdschollen, oder den jungen, rötlichen Trieb der Wintersaat, aus jeder Hecke drang das laute Gezwitscher der Sperlinge, aus dem Walde lustiger Vogelgesang. Die ganze Natur erwachte zu neuem, reichem Leben.
Minna und Ottel rollten in einem leichten Einspänner auf der Landstraße dahin. Sie waren, obgleich Altersgenossen, doch ein etwas ungleiches Paar: Minnas Gesichtchen voll Güte und Intelligenz, ihr silberhelles Lachen, die Anmut ihrer Sprache und Bewegungen, wie die Eleganz ihres einfachen Anzugs, zeigten einen Verein glücklicher Naturanlagen, gehoben durch die gute Erziehung; während sich Ottels vortreffliche Eigenschaften noch unter Schulstaub bargen und in klassischer Bildung eingesargt ruhten; sie mußten erst an dem mächtigsten Schleifsteine – dem Verkehr mit der Welt – herausgearbeitet und gefeilt werden.
Beide schauten vergnügt in die sonnige Welt. Minna dachte, ohne es sich selbst zu gestehen, an ein kommendes Glück. Ottel fühlte sich durch die Gegenwart beseligt. Das Pferdchen trabte munter und pflichtschuldig seines Weges, nur manchmal durch die Berührung der Peitsche aus seinem behaglichen Trott aufgeschreckt. Ottel erzählte – jetzt sein Lieblingsthema – von seinem Examen: was er gewußt hatte, aber auch welche Fragen er nicht beantworten konnte; Minna sprach vom Pastorhause und freute sich, Rosamunde als junge Hausfrau wiederzusehen.
Ihr gemütliches Beisammensein wurde unterbrochen. Über die Felder kamen zwei Herren geritten. Obgleich Minna noch nichts von des Barons Rückkehr erfahren hatte, erkannte ihr scharfes Auge schon von weitem in einem der Reiter den Baron Neitung. Den andern hielt sie, in der Art, wie beide Herren gestikulierten und sprachen, für seinen Inspektor.
Der Baron aber erkannte Minna erst, als er ihr auf der Landstraße entgegenritt. Wie hätte er sie wohl auch in dem kleinen Einspänner an Ottels Seite vermuten sollen? Merkwürdigerweise erregte dieser junge Mann nicht des Barons so leicht entzündliche Eifersucht, sondern eine große, reine Freude über dieses so ganz unerwartete Wiedersehen malte sich in seinen Zügen. Er verabschiedete seinen Begleiter mit einem Worte und sprengte dem Wägelchen entgegen. Unwillkürlich, jedoch weit entfernt die Freude zu teilen, hielt Ottel sein Pferdchen an; er kannte den Baron nicht persönlich, aber war es nur eine dunkle Ahnung, oder hatte Frau Rosine eine Anspielung nicht unterlassen können, kurz Ottel betrachtete die stattliche Erscheinung des jungen Mannes mit mißtrauischen Blicken, als ob ein Gegner nahe, gegen den er auf der Hut sein und gegen dessen Einfluß er seine errötende Gefährtin schützen müsse. Ottels Miene war ein Spiegel dieser nicht wohlwollenden Gesinnungen, aber, wie schon gesagt, – das Pferdchen hielt er an und zog die Mütze.
»Fräulein Uslar!« rief der Baron, »was verschafft mir das unerwartete Vergnügen, Sie hier auf dem Wege nach Doszek zu begegnen?«
»Wir fahren nach Georgenberg zu Pastor Steube,« entgegnete Minna, die Zeit gefunden hatte, sich zu fassen. »Erlauben Sie, Baron, daß ich Ihnen meinen Begleiter, Herrn Otto Grimmel, den Sohn unsrer mütterlichen Freundin, vorstelle.«
Die Herren verbeugten sich; Ottels Miene aber verdüsterte sich um einen Schatten. Mußte er, Otto Grimmel, als der Sohn einer mütterlichen Freundin eingeführt werden? War er, ein glücklicher Abiturient und bald ein Student, nicht eine selbständige Person?
»Also nach Georgenberg fahren Sie, zu Pastor Steube? Ich bin einer der Patrone des Pastors, und wie mir eben einfällt, bin ich ihm gewissermaßen einen Gegenbesuch schuldig. Sie glauben nicht, wie ich während dieser ersten Tage meiner Rückkehr mit Geschäften überhäuft war; die Arbeiten drängen sich, und mein ausgezeichneter Inspektor ist noch ganz fremd. Sie können versichert sein, daß ich schon längst gekommen wäre, Fräulein Uslar, Ihnen meine Aufwartung zu machen, aber ich wollte mich erst etwas freigearbeitet haben. Der Herr Vater und die Fräulein Schwestern befinden sich hoffentlich wohl?« – Doch ohne die Antwort abzuwarten, setzte er schnell hinzu: »Verzeihen Sie, daß ich es einen Augenblick vergessen konnte; ich muß ja Ihrem Herrn Vater noch gratulieren, daß er endlich, wenn auch leider durch den Tod Karlings sehr plötzlich, die Stellung erreicht hat, die ihm zukam.«
»Darf ich mich auch nach der Gesundheit der Frau Baronin und Fräulein Kamillas erkundigen?«
»O, Mama lebt ganz auf. Sie werden sie kaum wiedererkennen. Und denken Sie nur, Mama hat sich sogar auf Doszek gefreut und es wie eine alte Heimat begrüßt. Sie konnte das Haus früher gar nicht leiden.«
Ottel zerrte ein bißchen an dem Zügel, ganz unmerklich, wie er meinte; das Pferdchen spitzte aber sogleich die Ohren und gab Zeichen der Ungeduld, auch dem jungen Manne war die Bewegung nicht entgangen.
»Also Sie gehen nach Georgenberg. Wahrhaftig, es kommt mir vor, als sollte auch ich diesen Besuch nicht länger hinausschieben, noch dazu den Besuch bei einem geistlichen Herrn. Ich habe ohnedies auf meinem dort gelegenen Vorwerk zu tun. Vielleicht haben Sie die Güte, dem Herrn Pastor meine Grüße zu übermitteln? Wenn es meine Zeit nur irgend erlaubt, werde ich ihn heute nachmittag besuchen. Also auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein.« Er grüßte Ottel höflich und sprengte davon.
Ottel knallte mit der Peitsche, murmelte etwas Unverständliches und blickte nach Minna; ihr Gesichtchen aber war nicht zu sehen, sie schien mit Aufmerksamkeit die Gegend zu betrachten. Die fröhliche Unterhaltung wurde nicht wieder aufgenommen. Ottel schimpfte nach innen, da er sich nach außen in Minnas Gegenwart keine unehrerbietige Äußerung gegen den Baron erlauben wollte.
Minna sah, wie Ottel fand, soweit er sie von der Seite betrachten konnte, ›verstört‹ aus. ›Ganz natürlich,‹ dachte er, ›denn alle Gemütlichkeit bei Pastors muß ja aufhören, wenn dieser fremde Baron ins Haus geschneit kommt.‹ Aber bei der Ankunft in Georgenberg war Ottels argloses Herz schon bis zum Rande mit Eifersucht angefüllt.
Minna durchbebte ein seliges Empfinden, und das machte sie schweigsam; es war ihr, als sei das Glück, das unbestimmt vor ihr in der Zukunft ruhte, plötzlich in greifbare Nähe gerückt.
Das war ein fröhlicher Empfang in dem alten Pfarrhaus, unter dessen mit Tannenreisern geschmücktem Eingange Pastor Steube und seine junge Hausfrau standen.
»Ach, Minna, wie bin ich glücklich!« sagte Rosamunde und umarmte ihre Freundin innig. »Wenn ich doch Mama und Aurora von meinem großen Glück etwas abgeben könnte.«
Als Minna in das Wohnzimmer trat, wo der Tisch schon sauber gedeckt war, und als Rosamunde mit jungfräulicher Würde die Speisen austeilte, rief sie: »Nein, was für eine Hausfrau diese Rosamunde schon geworden ist! Man bekommt ja ordentlich Respekt vor ihr. Wie sie das alles nur in so kurzer Zeit lernen konnte! Das Haus sieht wie ein Schmuckkästchen aus, und das Essen – ich mache dir mein Kompliment, Rosamunde – es ist wirklich vorzüglich. Loben Sie doch auch ein bißchen, Herr Ottel; die Frau Pastorin verdient die Anerkennung.«
Minna hätte es gern Ottel überlassen, den Gruß des Barons und die Ankündigung seines Besuchs auszurichten, aber da Ottel über die Begegnung mit seinem Rivalen andauernd schwieg, nahm Minna ihren Mut zusammen und erzählte ohne Verwirrung das kleine Abenteuer, das sie unterwegs erlebt hatten.
Der Pastor fuhr auf und wurde rot wie ein junges Mädchen. »Sie hätten uns den Besuch meines Patrons früher melden sollen, Fräulein Minna; es bleibt uns jetzt keine Zeit, Vorbereitungen zu treffen und ...«
Minna lachte herzlich. »Die Sorge überlassen Sie nur Ihrer Frau; sie wird ihm eine gute Tasse Kaffee vorsetzen und ein Stück von dem herrlichen Napfkuchen.«
»Selbstgebackenen Kuchen! Damit nehmen Sie wohl vorlieb! Aber der Baron! Und in Georgenberg ist ja nichts zu haben. Ich bin wirklich in Verzweiflung.«
»Ach,« sagte Ottel plötzlich sehr verdrossen, »machen Sie sich doch keine Umstände, er kommt ja gar nicht, um Ihnen einen Besuch zu machen.«
»Welch andre Ursache könnte ich diesem Besuche unterlegen?« versetzte der Pastor mit großer Würde.
»Na ja, er nennt's einen Gegenbesuch, aber ...« Ottel murmelte etwas und stellte sich ans Fenster, er hörte Pferdegetrappel, und gleich darauf hielt ein Reiter vor dem Hause – es war Baron Neitung.
Der Pastor begrüßte seinen Patron in der Hausflur, benutzte aber die erste Gelegenheit zu entfliehen, um seiner Frau einige gute Ratschläge zu geben.
»Du wirst doch dein schwarzseidenes Hochzeitskleid anziehen?«
Und da Rosamunde aussah, als wäre sie geneigt, jeden, auch den wunderbarsten Wunsch ihres Gatten zu erfüllen, rief Minna schnell: »Unsinn! Eine Hausfrau im Hochzeitskleid! Rosamunde sieht in dem einfachen schwarzen Hauskleid allerliebst aus.«
Rosamunde hatte mit Hilfe ihrer Freundin den Kaffeetisch in einer zwar neu, aber in der einfachsten Weise erbauten Veranda gedeckt. Abermals erschien der aufgeregte Pastor.
»Und nur selbstgebackener Kuchen!« klagte er von neuem beim Anblick des schönen braunen Napfkuchens. »Du hast wohl auch vergessen, die Zuckerzange aufzulegen?«
»Wir besitzen keine Zuckerzange, Fritz.«
»Dann müssen wir uns eine kaufen. Was wird sich der Baron denken! – Es sieht auch noch recht kahl in der Veranda aus. Wirklich ungemütlich kahl!«
»Ja, im April blühen noch keine Rosen und rankt noch kein Wein!« rief Minna gutgelaunt.
»Vielleicht ist es dem Baron im Garten noch zu kalt; ich will ihn doch lieber erst fragen,« meinte der Pastor und rannte ins Haus zurück.
»Aber, Herr Pastor, wenn es für uns Damen nicht zu kalt ist!« rief Minna ihm nach.
Die Herren traten in die Veranda, und als Minna jetzt Baron Neitung begrüßte, war es ihr, als sei sie schon ganz vertraut mit ihm, als wären sie alte gute Freunde. Ja, sie hatten auch mancherlei miteinander durchlebt, davon nur sie allein wußten, niemand sonst!
Wenn der Pastor in dem Baron einen etwas strengen Patron gefürchtet hatte, so mußte er an diesem Nachmittag erkennen, daß seine Furcht vollständig unbegründet gewesen war. Der Baron war einer der liebenswürdigsten, leutseligsten jungen Herren, voll übersprudelnder Lustigkeit; freilich kamen auch Augenblicke, wo er ganz plötzlich sehr ernst wurde, aber selbst dann zeigten seine Züge nicht mehr das Bild des verzweifelten, schwermütigen Mannes, dessen Seele einst schwer belastet war.
Rosamunde, mit der Intelligenz des guten Herzens, hatte nach der ersten Begrüßung ihrer Freundin mit dem Baron begriffen, wem das Pastorhaus den Besuch des Patrons verdankte; ebenso erkannte sie auch, daß Minnas Augen den Gast mit einem ganz besonders freundlichen Strahl begrüßten.
»Sie lieben sich,« schloß die junge Frau nach der Erfahrung ihres jungen Lebens; »sie sehen sich nach langer Zeit wieder, und gewiß haben sie sich viel zu sagen. Wenn ich nur wüßte, wie ich Fritz und Ottel entfernen sollte.«
Aber als die hilfreiche Rosamunde beschloß, dem jungen Paare Gelegenheit zu einer Aussprache zu geben, hatte sie sich in ihrem Pastor und Ottel verrechnet. Ottel lehnte sich mit instinktiver Eifersucht gegen jede Entfernung auf, und der Pastor begriff weder Rosamundens Blicke noch ihre zarten Anspielungen. Er hielt es für seine Pflicht, den Patron mit den Angelegenheiten seiner protestantischen Gemeinde zu unterhalten, und so oft der Baron auch zu entschlüpfen versuchte, der Pastor kehrte mit Ausdauer stets auf die geistlichen Angelegenheiten zurück. Endlich, als es nach großer Anstrengung gelang, ihren Mann zu entführen, blieb Ottel, taub gegen ihre Winke, als der Dritte im Bunde in der Veranda zurück.
Nur als sich der Baron verabschiedete und Minna die Hand reichte, konnte er ihr mit einem warmen Blick sagen, er hoffe sie in den nächsten Tagen wiederzusehen.
Es war schon spät am Abend, als der kleine Einspänner im Hofe von Friedrichshütte einfuhr. Eines der oberen Fenster bei Grimmels, wo noch Licht brannte, wurde geöffnet, und eine besorgte Stimme rief den Heimkehrenden entgegen: »Ottel, du hast Fräulein Minna doch nicht umgeworfen? Bringst du sie auch gesund nach Hause?«
»Sehr gesund und sehr vergnügt,« beruhigte Minnas helle Stimme. »Herr Ottel hat mich vortrefflich kutschiert.«
Einige Tage später waren Grimmels zum Abend bei Uslars eingeladen; zugleich wurden die Schwestern von Sornitz zurückerwartet. Minna war deshalb ausgegangen, einige Einkäufe für das Abendbrot und einige Blumen für den Empfang der Schwestern zu besorgen. Jetzt brauchte sie ja nicht länger ängstlich zu sparen.
Das Wetter war wieder umgeschlagen; ein rauher Wind fegte durch die Straßen, und einzelne Schneeflocken tanzten in der Luft.
Als sie sich auf dem Rückweg befand, erkannte sie den Baron, der ihr entgegenkam.
»Ich hörte, daß Sie bald zurückerwartet würden, Fräulein Minna, darum bin ich Ihnen entgegengegangen,« sagte der Baron nach der ersten Begrüßung und kehrte mit Minna um. »Ich erfuhr zugleich, daß Ihre Schwestern noch heute zurückkehren. Die Gelegenheit, Sie einen Augenblick ungestört zu sprechen, ist wirklich nicht leicht zu finden, und doch liegt mir viel daran – mehr als Sie vielleicht glauben – eine Frage an sie zu richten.«
Minna sagte sich, daß sie ihm unbefangen entgegnen müßte, daß sie sich eigentlich stellen sollte, als ahne sie die Bedeutung der Frage nicht; aber das war ihr unmöglich, ihr Herz wußte ja, was er sie fragen würde. Verstellen konnte sie sich nicht; mit gebeugtem Kopf und klopfendem Herzen schritt sie schweigsam an seiner Seite durch die während der Abendstunde sehr belebte Straße.
»O, Fräulein Uslar,« fuhr der junge Mann leise aber dringend fort, »verzeihen Sie einem Manne, dessen Lebensglück von dieser Stunde abhängt, daß er es wagt, Sie gleich hier auf dem Wege zu fragen. Hatten Sie wirklich keinen andern Grund, meine Bitte in Sornitz zurückzuweisen, als die Liebe zu Ihrem kranken Bruder?«
»Ich habe Ihnen doch nur diesen einen Grund genannt?« entgegnete sie mit größerer Ruhe, als sie sich selbst zugetraut hätte.
»Sie – ach, Fräulein Uslar – verzeihen Sie meine unbescheidene Frage – Sie lieben keinen andern Mann?«
Ein schwaches Lächeln überflog ihr Gesichtchen, und sie fragte zurück: »Haben Sie das von mir geglaubt?«
»Ach, ich war ein verblendeter Tor und habe mich des seligsten Glückes vielleicht selbst beraubt. Können Sie mir vergeben, Fräulein Minna?«
»Es war ja nur ein Mißverständnis.«
»Und jetzt würde ich mich mit Ihrer Vergebung auch gar nicht begnügen,« sprach er lebhafter. »Ich würde die Frage wiederholen. Sie wissen, die Frage, ob sie meine Frau werden wollen?«
»Die Frage haben Sie aber gar nicht an mich gestellt,« sagte sie mit einem schalkhaften Aufblitzen ihrer Augen. »Ich habe ihre Worte gut gemerkt.«
»Um so besser, um so besser. Und wenn ich die Frage jetzt an Sie richte?«
»Sie überraschen mich wirklich, Herr Baron, so plötzlich und hier auf der Straße ...«
»Nun, Sie brauchen doch blos ein Ja auszusprechen,« rief er sehr munter, »ein Ja können alle Leute auf der Straße hören, ein Ja klingt nicht verfänglich.«
»Nein, es klingt nicht verfänglich; aber Sie müssen doch zugeben – eine Straße ist kein Ort, wo ein solches Ja ausgesprochen wird.«
»Aber, Fräulein Uslar – ich verpflichte mich, nach dem Ja ganz bescheiden neben Ihnen herzugehen, bis ...«
»Ach, da kommt Papa! Nein, trifft sich das nicht wunderbar? Er hat uns, glaube ich, noch nicht gesehen.« – Minna beschleunigte ihre Schritte. »Papa! Papa!«
Herr Uslar sah zerstreut auf, stutzte und erkannte schließlich den Baron, der ihn lebhaft begrüßte. Aber erst nachdem alle drei ein Stück miteinander gegangen waren, erinnerte sich Herr Uslar an die glückliche Wendung in dem Schicksal des Barons und fragte, ob er ihm erlaube, ihn deshalb zu beglückwünschen.
»Gewiß, Herr Uslar, ich nehme die Gratulation mit Dank an, sogar noch eine zweite Gratulation. Wollen Sie mir nicht auch zu meiner Verlobung gratulieren?«
»So, Sie haben sich verlobt, Herr Baron?«
»Noch nicht vollständig verlobt; ich möchte nur gern – ich bin im Begriff, wenn man so sagen darf, und sollten Sie Ihre Zustimmung aussprechen ...«
»Ich, Herr Baron? Was hätte ich damit zu tun?« Da fiel sein Blick auf Minna, die sich errötend an seinen Arm hängte.
»Nicht wahr, Papa, eine solche Unterhaltung paßt nicht auf die Straße?«
»Fräulein Uslar und ich, wir streiten uns schon eine ganze Weile, müssen Sie wissen, Herr Uslar, – bloß um ein einfaches Ja. Ich behaupte, daß ein Ja nichts Verfängliches hat.«
»Nun das kommt auf die Umstände an, Herr Baron,« meinte der Vater mit einem feinen Lächeln.
»Aber ist ein Ja denn schwerer auszusprechen als ein Nein?« fragte der junge Mann eifrig. »Ich kann das nicht finden, und doch hat sich Fräulein Uslar nicht gesträubt, in Sornitz ein entschiedenes Nein auszusprechen.«
»Davon habe ich ja noch gar nichts gehört!« Herr Uslar sah Minna von der Seite forschend an.
»O Papa, ich konnte doch Bruno nicht verlassen.«
»So war es; ich bildete mir aber durchaus ein, Fräulein Uslar habe noch andre Gründe, Nein zu sagen.«
»So war das Nein also doch nicht ganz verständlich.«
»O, die Schuld lag allein an mir, Herr Uslar. Und ich habe Ihr Fräulein Tochter deshalb auch schon um Verzeihung gebeten. Jetzt aber handelt es sich, hoffe ich, nicht mehr um das Nein, sondern nur um das Ja. – O ich wäre ganz unaussprechlich glücklich, wenn ich das Ja aus ihrem Munde hören könnte!«
Da zog Minna ihren Arm aus dem des Vaters und legte die Hand leicht auf den Arm des Barons, der sie mit großer Wärme ergriff und festhielt. Mit einem seligen Lächeln blickte sie dann zu ihm auf und sagte ganz leise: »Ja. – Sind Sie nun zufrieden?«
»Ob ich zufrieden bin! Wir haben Gott sei Dank auch nicht mehr weit nach Ihrem Hause; es kostet mich ja eine übermenschliche Anstrengung, Minna, Sie nicht in meine Arme zu nehmen und auf offener Straße ...«
»Sehen Sie wohl? Wie gut, daß ich so lange gewartet habe! – Nun, Papa? Gibst du auch dein Ja?«
»Du würdest am Ende eine andre Antwort nicht gern hören, mein Kind. Ich sehe schon, ich bin entthront und dieser Herr regiert.«
»Er wird regiert, Herr Uslar. Ich habe eine strenge Gebieterin, aber sobald wir den Hausflur betreten, nehme ich mir mit Bräutigams Recht dennoch den ersten Kuß.«
Natürlich hielt der Baron sein Wort – und natürlich sah Maruschka den Kuß.
Als sie nun die Stube betraten, erklärte Minna, jetzt müsse sie Hausfrau sein. »Meine Schwestern werden gleich ankommen und wollen dann eine Tasse Tee finden.« Damit war sie zur Tür hinaus.
Der Baron drückte Herrn Uslar die Hand. »Ich beraube Sie Ihres größten Schatzes, aber seien Sie versichert, ich werde ihn zu hüten wissen. Ich will alles tun, dieses herrliche Mädchen glücklich zu machen.«
Herr Uslar war tiefbewegt. Er fühlte erst jetzt, wie schwer es ihm wurde, seine Älteste einem fremden Manne anzuvertrauen. Aber er konnte Minnas Wahl nicht mißbilligen. Der ausgezeichnete Charakter ihres Bewerbers wurde von allen Seiten anerkannt, und so sehr er sie liebte, so schwer es ihm fiel, sie in seinem Hause zu missen, jetzt, nach des geliebten Knaben Tode, das fühlte er – wäre es selbstsüchtig, ja ein schweres Unrecht gewesen, sie zurückzuhalten.
»Lieber Herr Uslar,« sagte der glückstrahlende Bräutigam, »ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. In unserm großen, öden Schlosse sitzt eine einsame alte Frau. Mein Glück würde sie zu einer glücklichen Mutter machen, denn sie kennt kein andres Glück als das ihres Sohnes; wie wäre es, wenn wir alle gleich heute abend hinausführen?«
»Aber wir haben Rendant Grimmels schon zum Abend eingeladen ...«
»Nun, die nehmen wir mit.«
»Es ist auch ihr Sohn anwesend.«
»Den lassen wir natürlich nicht zu Hause. – Also sind wir acht Personen – dazu brauchen wir zwei Wagen. Wenn ich Ihre Erlaubnis habe, Herr Uslar, gehe ich sogleich und bestelle die Wagen.«
Da Herr Uslar die Erlaubnis nicht vorenthielt, so stürmte der junge Mann zum Tor hinaus, und als Minna wieder in die Stube trat – war der Vogel ausgeflogen.
»Aber wo ist – Er – denn hingeraten, Papa?« Sie konnte noch nicht nach dem Bräutigam oder Egon fragen; aber auch nicht mehr nach dem Baron, so blieb nur ›Er‹.
»Fort – entflohen – über alle Berge,« rief Herr Uslar und lachte dazu so heiter, wie ihn Minna – ach, so viele Monate nicht hatte lachen hören.
»Du bist ja ganz übermütig, Papachen. Ich glaube, du bist ordentlich froh, mich los zu werden.«
»Nun, warum soll ich darüber nicht froh sein? Kann ich mir mehr wünschen, als dich glücklich zu sehen, mein Herzenskind?«
Sie lag in seinem Arme. »Ach, ist es nicht ein unverhofftes Glück! Kein Mensch hat geahnt, daß heute so etwas Wunderbares passieren könnte!«
Ein Wagen fuhr vor, und Minna eilte hinaus, den Schwestern entgegen. Es war gerade, als hätten sie ihre ›Älteste‹ seit Wochen nicht gesehen, so stürmisch war die Umarmung. Herr Uslar machte ein ernstes Gesicht, nicht weil er minder stürmisch begrüßt wurde, aber er dachte: »Sie ahnen nicht, was für ein Verlust ihnen bevorsteht! Wer soll ihnen die Schwester ersetzen, die ihnen zugleich eine Mutter, eine Freundin, eine Beraterin gewesen ist?«
In die Stube tretend erklärte Ella, sie wären ganz erfroren und die Aussicht auf eine Tasse Tee sei geradezu ›erhebend‹.
Adele aber schaute sich in der einst so verachteten Stube um, wo Maruschka jetzt den Tisch deckte. »Ach,« rief sie, »wie behaglich ist es hier! Ob wir uns in dem großen Hause jemals so behaglich fühlen werden?«
Ellas forschende Augen hatten Minna mit einem verwunderten Blicke gestreift; jetzt fragte sie leise den Vater: »Papa, was ist denn mit Minna vorgegangen?«
»Wie meinst du das? Sieht Minna denn verändert aus?«
»Sie hat so strahlende Augen, Papa. Freut sie sich so sehr, daß wir zurückgekommen sind?«
Herr Uslar lächelte: »Es wird das beste sein, daß du sie selbst fragst, mein Kind.«
Aber Ella fand schon eine zweite Gelegenheit, sich zu verwundern. Sie zählte die aufgesetzten Tassen und Teller: »Grimmels sind drei und wir sind vier – warum ist denn für acht Personen gedeckt worden, Papa? Hast du jemand dazu geladen?«
Länger konnte sich Maruschka nicht halten; sie hielt die Schürze vor das Gesicht und lief kichernd hinaus.
»Unbegreiflich, woher diese Maruschka etwas gemerkt hat. Das Mädchen ist doch sonst nicht sehr scharfblickend,« dachte die arglose Minna.
Maruschkas Benehmen war den Schwestern natürlich nicht entgangen.
»Was geht denn mit der Maruschka vor?« fragte Adele und blickte ihr unzufrieden nach.
Ella aber erklärte: »Jetzt weiß ich alles! Sieh einmal unsre Minna an, Adele; merkst du nichts?«
»Was soll ich denn merken? Ich sehe nur, daß sie Schinken schneidet.«
»Aber ich habe es gemerkt,« triumphierte Ella. »Für unsre Minna hat der liebe Gott einen Bräutigam direkt vom Himmel herunterfallen lassen, denn wo sollte sie sonst in Friedrichshütte einen Bräutigam herbekommen?«
»Hm! Hm!« meinte Adele weise, »so ganz unmöglich wäre das doch nicht.«
»Fraget doch Minna selbst,« riet Herr Uslar.
Aber ehe der Rat noch befolgt wurde, tat sich die Tür auf und Baron Neitung trat ein.
Minna, die in dieser Stunde schon so Wunderbares erlebt hatte, fand es ganz in der Ordnung, daß ein Bräutigam in dem Augenblick, wo von ihm geredet wurde, auch erschien. Sie ging ihm mit einem holden Lächeln entgegen, mit dem ein Fremder von ihr niemals begrüßt worden wäre; sie gab ihm die Hand, die er küßte, und sprach mit bebender Stimme: »Da steht der vom Himmel heruntergefallene Bräutigam.«
Jetzt wurde selbst Ellas Übermut gedämpft. Sie sah diesen Bräutigam mit großen, erschreckten, aber durchaus nicht freundlichen Augen an. »Wollen Sie uns wirklich unsre Minna fortnehmen?« rief sie fast zornig, dann umschlang sie die Schwester, verbarg ihr Gesichtchen und weinte.
Adele war ganz bleich geworden. Sie hätte nicht sagen können, ob ihre Freude bei dieser Verlobung, oder ob der Schreck darüber größer wäre. Ach, sie fühlte es in diesem Augenblick mit Schmerz, daß die geliebte Schwester ihr nicht mehr zu eigen gehörte, daß sie sie verloren hatte; Baron Neitung kam ihr deshalb wie ein Räuber vor. Mit abgewendetem Gesicht reichte sie ihm die Hand, stürzte dann aus dem Zimmer und weinte sich draußen aus.
Der junge Mann blickte ihr betroffen nach. »Ich fürchte, daß ich Ihre ganze Familie unglücklich mache, Herr Uslar.«
»Sie sehen nur, wie teuer uns allen der Schatz ist, den Sie heute gewonnen haben,« entgegnete der Vater mit trübem Lächeln. »O, hüten Sie ihn wohl, wie Sie gelobt haben! Ersetzen Sie meiner Tochter die Liebe, die sie Ihretwegen aufgeben muß.«
»Gott ist mein Zeuge, Herr Uslar, daß ich streben will, Minna, soweit es in meiner Macht liegt, glücklich zu machen. Aber warum wollen Sie sie verlieren? Sind wir uns nicht nahe? Werden wir nicht fortan eine Familie sein?« Und während er Herrn Uslar die Rechte entgegenstreckte, umschlang er mit dem andern Arm seine liebe Braut.
Maruschka erwartete indes in der Hausflur die Gäste. Es ging gegen ihre Begriffe von Anstand, daß Grimmels eintreten und der Familienszene unvorbereitet beiwohnen sollten. Das Weinen ihrer jungen Damen konnte sie durchaus nicht billigen, denn in ihren Augen war eine Verlobung der Gipfel irdischer Glückseligkeit.
Als Grimmels das Haus betraten, kicherte und pustete sie wieder vernehmlich hinter der Schürze und bezeugte in dieser Weise, daß sich ein außergewöhnliches, aber durchaus nicht betrübendes Ereignis zugetragen habe.
»Nein, höre nur, wie die Maruschka kichert, Grimmel, nein, wie sich das Mädchen anstellt,« sagte Frau Rosine.
»Muß man was sehr Komisches passiert sein.«
Maruschka, die vor Lachen nicht reden konnte, deutete auf die Wohnstube.
»Da drin?« fragte Frau Rosine zweifelnd. »Na, ich höre aber da drin doch niemand lachen.«
Ottel, mit schärferem Gehör als seine Eltern begabt, vernahm die Stimme seines Rivalen. »Ich verstehe nicht, wie Sie in einem Besuche des Herrn Barons Neitung etwas Lächerliches finden können,« versicherte Ottel der verblüfften Maruschka mit einem strafenden Blick.
Da belehrte ein lautes Lachen Ellas – sie hatte sich entschlossen, ihrem Schwager den ersten Kuß zu geben – die Familie Grimmel, daß es bei Uslars allerdings besonders lustig zuginge. Frau Rosine schüttelte zweifelnd den Kopf, Maruschka aber sah sehr schlau und Ottel sehr wissend und dabei sehr grimmig aus.
Im Hofe fuhr ein Wagen vor, dann ein zweiter Wagen, und lautes Peitschenknallen, das in der Kutschersprache heißt: ›Vorgefahren – nun kann's losgehen –‹ erschallte.
Maruschka riß die Stubentür auf und meldete: »Gnädiges Fräulein, die Wagen sind schon vorgefahren.«
Grimmels blickten sich gegenseitig verblüfft an, und ihr Staunen minderte sich nicht, als Maruschka erklärte: »Hier ist heute abend nichts los, Frau Rendant. Sie fahren alle nach Doszek zu Baron Neitungs.«
»Aber – da muß man ein Irrtum obwalten; wir sind man doch alle zum Abendbrot eingeladen,« bemerkte Grimmel und machte eine etwas enttäuschte Miene.
»Nein nein, kein Irrtum, Herr Rendant,« versicherte Maruschka und bemühte sich, Frau Rosine den Mantel wieder umzuhängen, den diese abzulegen bemüht war. »Ziehen Sie sich nur den Überzieher auch wieder an, Herr Rendant; Sie fahren alle mit, es ist ja heute abend Verlobung.«
»Verlobung?« schrie Ottel vernehmlich. »Wie ist denn das möglich! Vorgestern waren sie ja durchaus noch nicht verlobt.«
»Willst du nicht so gefällig sein und uns sagen, wer sich verlobt hat?« fragte der Rendant seinen Sohn. Frau Rosine aber nickte und sagte: »Ach so! Na, ich hab's mir ja gleich gedacht!« und es gab ihr im Herzen ordentlich einen Stich. »Wie selig muß die Mutter sein, deren Sohn Minna Uslar gewinnt!« dachte sie. Im nächsten Augenblick aber schämte sie sich ihres selbstsüchtigen Wunsches. »Ottel ist ein braver Junge, Gott segne meinen Ottel; aber die Uslars passen nicht für ihn.«
Ehe Frau Rosine den Gedanken weiterspann und zu der reinen Freude über die glückliche Verlobung ihres Lieblings gelangte, wurde die Tür aufgerissen und Minna umarmte sie halb lachend halb weinend. »Ich bin so glücklich, liebe Frau Rendant!«
Baron Neitung kam Minna auf dem Fuße nach und umarmte, ihrem Beispiel folgend, den Rendanten.
»Und jetzt fahren wir alle – Sie natürlich mit – zu meiner lieben neuen Mama, damit sie an unserm Glück teilnehmen kann,« versetzte Minna.
»O nein!« rief der Rendant abwehrend. »Eine Familienfeier! Wir werden uns nicht eindrängen!«
Ottel puffte den Vater leise in den Rücken.
»Nein nein, Minna,« wehrte auch Frau Rosine, »in einer solchen Stunde will man unter sich sein!«
Ottel stieß jetzt seine Mutter an; er fand ein grimmiges Vergnügen darin, den Kelch bis auf den letzten Tropfen zu kosten – das heißt die improvisierte Verlobungsfeier mitzumachen.
»Hier werden gar keine Umstände gemacht,« erklärte Baron Neitung und setzte Frau Rosine ihre riesenhafte Winterkapotte verkehrt auf. »Sie haben diesen Abend Uslars versprochen, Uslars und Neitungs sind jetzt aber eine Familie; wir wechseln nur die Räume, in denen wir Gesellschaft und Verlobung feiern. Sie werden einer einsamen alten Frau doch das Vergnügen gönnen, die Braut ihres Sohnes schon heute in ihre Arme zu schließen?«
War da noch ein Widerstand möglich? Auch ohne Ottels Puffen wäre eine solche Einladung nicht abgeschlagen worden. Fünf Minuten später saß die ganze vergnügte Gesellschaft in den Wagen und rollte durch die angebrochene Nacht dem einsamen Schlosse zu.
Trotz seiner Bräutigamslaune hatte der Baron nicht vergessen, seinen kleinen Jagdwagen, in dem er nach Friedrichshütte gekommen war, nach Hause zu schicken und dem treuen Philipp streng zu befehlen, mit Vermeidung jeden Geräusches in den Hof zu fahren; dann aber solle er sofort ernsthaft Rücksprache mit der Köchin nehmen und ankündigen, daß der Baron mit sieben Gästen noch an diesem Abend eintreffen würde, die er auf das Beste – soweit es natürlich in so kurzer Zeit möglich wäre – zu bewirten gedächte. Zweitens habe sich Philipp bei der Stabele zu melden; diese solle dafür sorgen, die Gäste – die Zahl der Zimmer und Betten wurde auf einem Zettel notiert – zu übernachten. Die Hauptsache aber wäre, alle diese Vorbereitungen ganz im geheimen zu treffen, so daß weder die Baronin noch Fräulein Kamilla das geringste von der Ankunft der Gäste erführen.
Da es Philipp nicht verboten war, sich über diese geheimnisvollen Gäste Gedanken zu machen, so erlaubte er sich dieses Vergnügen und kam zu dem Schlusse, daß eine Unterredung in Sornitz zwischen seinem Baron und Fräulein Uslar, sowie die Bewirtung der sieben Gäste in einem gewissen Zusammenhang stehen müßten.
Die Überraschung war vollständig gelungen, und ohne Ahnung des Glückes, das im Frühlingssturm, doch wie Sommersonnenschein dem einsamen Schlosse näher und näher kam, saß die Baronin mit ihrem treuen Kamillchen wie allabendlich am Kamin und spielte ihre Partie Pikett.
Sobald die Baronin gute Karten bekam und eine Partie gewann, lächelte sie ganz vergnügt Kamillchen an und sagte: »Du hast natürlich wieder ganz schlecht gespielt.« Verlor sie aber die Partie, dann zog sie die Uhr, seufzte und sagte – natürlich mit kleinen Variationen: »Kannst du begreifen, wo Egon heute abend so lange bleibt? Ich wundere mich doch sehr, daß er uns allein sitzen läßt. Wenn er in einer halben Stunde nicht da ist, wollen wir ihn strafen und unser Diner allein verspeisen.«
Es war aber nicht nur eine halbe, sondern weit über eine ganze Stunde vergangen, und die Damen hatten noch immer nicht befohlen, das Diner für sie allein anzurichten; sie spielten auch nicht mehr Pikett: der Appetit wie die Lust am Spiele waren der Baronin vergangen. Sie versuchte, sich mit den Zeitungen zu trösten, aber selbst die Politik vermochte nicht, ihre Unruhe und Angst zu beschwichtigen. Sie war jetzt soweit, daß sie nicht einmal mehr ruhig sitzen konnte, sondern sehr aufgeregt umherlief und öfters ans Fenster trat, um hinauszuschauen. Aber weil ihr das Glück durch den schwarzen Nebelvorhang verborgen wurde, erschien ihr der Blick in pechfinstere Nacht wenig hoffnungsvoll.
Kamillchen versuchte alle bei solchen Gelegenheiten schon öfter angewendete Trostgründe und mit demselben Mißerfolg; sie glaubte ja selbst nicht an die Möglichkeiten, durch die sie Egons Ausbleiben zu erklären versuchte, sondern befand sich in einem Zustand hochgradiger Nervosität. Es lief ihr immer eiskalt den Rücken hinunter, und es gelang ihr nur mit großer Anstrengung, das ununterbrochene Seufzen und Stöhnen zu unterdrücken; das heißt, Kamillchen erlaubte sich zwar, ein wenig zu seufzen und zu stöhnen, doch immer nur, wenn sich die Baronin am entgegengesetzten Ende des großen Zimmers befand. Die abergläubischen Vorstellungen, zu denen ihr Gemüt neigte, trugen auch nicht dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Drei Krähen – man beachte die Zahl – hatten auf der Ulme vor Kamillchens Zimmer gesessen, wohl eine Stunde lang immer nach dem Schlosse geschaut und – gekrächzt. Das Krächzen war natürlich kein gewöhnliches Krächzen, sondern eine Unheilsverkündigung, die die Krähen den Schloßbewohnern warnend zuriefen.
»Ach, hätten wir Egon nur heute nicht fortgelassen,« dachte Kamillchen, vergaß die Vorsicht und stöhnte laut.
»Warum stöhnst du denn so fürchterlich, Kamillchen?« fragte die Baronin, hielt im Gehen ein und blickte das geängstigte kleine Fräulein forschend an.
»Ach, Tantchen – mir war's gerade so – ich meine, als sich Egon von dir empfahl – weißt du – als hätte er so – so ganz besonders ernst ausgesehen, weißt du.«
»Ist es dir wirklich so vorgekommen?«
»Mir ist es so vorgekommen, Tantchen, aber ich kann mich ja getäuscht haben; es fällt mir jetzt nur alles auf einmal ein.«
»Ich gebe auf solche Sachen nichts. Wenn ich nur wüßte, wohin er gefahren ist und weshalb,« sagte die besorgte Mutter.
»Ach!« schrie Kamillchen.
»Was denn?«
»Es fährt ein Wagen vor.«
»Gott sei gedankt!«
»Ach, Tantchen!« Kamillchen war blaß geworden. »Es fährt ein zweiter Wagen vor.«
»Das bildest du dir ein.« Die Baronin zog die Klingel; in dem alten Schlosse gab es noch keine elektrischen Klingeln.
Die Tür nach dem Speisezimmer sprang auf, und das ehrliche Gesicht Philipps zeigte sich. »Frau Baronin befehlen?«
»Wo ist denn dein Herr? Bist du denn ohne deinen Herrn nach Hause gefahren?« fragte die Baronin scharf.
Philipp hatte vergessen, daß er in das Geheimnis eingeschlossen war und sich nicht zeigen durfte; er machte ein sehr verlegenes Gesicht und ließ die Tür offen.
»Tantchen – es ist etwas los,« sagte Kamillchen und deutete nach dem Speisezimmer, in dem eine große gedeckte Tafel stand, strahlend im Glanze des Silbers und der Kerzen.
Ehe aber die Baronin auf eine Erklärung dringen konnte, wurde die entgegengesetzte Tür geöffnet und der so schmerzlich ersehnte Sohn des Hauses trat ein.
Mit fast jugendlicher Lebhaftigkeit eilte ihm die Baronin entgegen. »Kommst du endlich, mein Herzensjunge?« rief sie, und in der Freude vergaß sie Philipps verlegenes Gesicht und die gedeckte Tafel; aber sie hatte nur einen Blick auf den Sohn geworfen, als sie wie überrascht einen Schritt zurücktrat. »Dir ist was begegnet, Egon!«
»Ja, Mama, rate einmal, wen ich dir bringe.«
»Wenn du mich nicht sehr täuscht, ist es deine Braut.«
»Das hat dein Herz erraten, Mama! Ja meine Braut und noch dazu die, die du mir am meisten gewünscht hast.«
Er öffnete die Tür, durch die nun unsre liebe Minna trat, die von der Schwiegermutter innig umarmt wurde.
»Was für ein Glück ist es doch, an solchem Glücke teilnehmen zu dürfen!« sagte Kamillchen mit Tränen in den Augen. Sie war selig und hatte doch immer nur daneben gestanden und zugesehen, wenn andre glücklich waren.
Frau Rosine benutzte den kleinen Aufenthalt, ihrem Ottel noch einige gute Lehren zuzuflüstern. »Handküsse – vergiß nicht, Ottel – und um Gottes willen tritt der gnädigen Frau nicht auf die Schleppe – und halte dich immer mitten im Zimmer, damit du nicht Kostbarkeiten herunterschmeißen kannst, und dann, Ottel,« – leider konnte Frau Rosine die letzte Warnung nicht mehr aussprechen, und alle warnenden Blicke, die sie während der Tafel ihrem Ottel zukommen ließ, schienen von ihm nicht bemerkt zu werden. »Ist denn der unglückliche Junge kurzsichtig geworden?« dachte die besorgte Mutter.
Natürlich kam, was nicht kommen sollte; Ottel trank Wein – zuletzt noch Punsch, und als Herr Uslar das Brautpaar leben ließ und sich alles umarmte, wollte er auch jemand außer Papa und Mama umarmen, so umarmte er Kamillchen und sang mit dem Basse, den er in diesem Jahre bekommen hatte: »Juvivallera! Juvivallera!«
Frau Rendant meinte vor Schreck in Ohnmacht fallen zu müssen, aber niemand schien bemerkt zu haben, daß etwas Ungewöhnliches vorging. Sie waren alle zu sehr mit den eignen Gedanken und Empfindungen beschäftigt. Das Glück, das aus den Augen des jungen Brautpaars strahlte, legte sich wie Sonnenglanz über den kleinen Kreis. Aller Augen wurden feucht, aller Herzen waren mit Dank erfüllt gegen Gott, der den Kummer, der auf beiden Familien schwer gelastet, in Freude und Glück gewandelt hatte.