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18. Eine schwere Aufgabe.

Es war in den ersten Tagen des neuen Jahres; die drei Schwestern kehrten von ihrem gewohnten Spaziergange zurück. Plötzlich vernahmen sie hinter sich verworrenen Lärm und das Rasseln eines in rasender Eile daherstürmenden Wagens; zugleich schrien und winkten einige ihnen entgegenkommende Männer, als ob sie die Mädchen vor nahendem Unheil warnen wollten.

Minna, die Gefahr ahnend, riß die Schwestern zur Seite, da flogen auch schon die scheugewordenen Pferde mit der offenen Chaise des Direktors Karling an ihnen vorüber; es war nur ein Augenblick, und doch hatten sie gesehen, wie sich der hinten aufsitzende Kutscher vorbeugte, um seinem Herrn beim Anziehen der Zügel beizustehen.

Nicht weit von der Stelle, wo die erschreckten Mädchen standen, machte die Straße eine scharfe Biegung, und was Minna, wie die von allen Seiten herzuströmenden Leute befürchteten, war eingetreten: der Wagen prallte an, schleuderte die Insassen heraus, und die scheuen Pferde schleiften die zertrümmerte Chaise weiter, bis sie endlich erschöpft waren und von der starken Faust eines stämmigen Arbeiters aufgehalten wurden.

Da wo das Unglück geschehen war, bildete sich sogleich ein dichtes Menschenknäuel. Minna wendete sich voll Teilnahme an die ihr Zunächststehenden mit der Frage nach dem Schicksal des Direktors.

Der Arbeiter konnte selbst nicht sehen, was sich zugetragen hatte, und war auf die Mitteilung der den inneren Kreis bildenden Männer angewiesen.

»Der Kutscher soll gut weggekommen sein,« berichtete er Minna. »Er ist auf 'nen Schneehaufen gefallen; den Direktor heben sie eben auf.« – Er wendete sich wieder zu seinem Berichterstatter. »Tot? Ach, ne doch – sag doch nicht so was! Wird schon wieder zu sich kommen; – Schädel zerschmettert? – Ach, du gütiger Himmel! – Er soll tot sein, Fräulein,« meldete er nun, zu Minna gekehrt. »Gleich ganz tot!«

Bleich und erschüttert versuchten sich die Mädchen aus der immer mehr anwachsenden Menge zu entfernen, als sie plötzlich eine energische Männerstimme fragen hörten: »Ist denn niemand hier, der mit Frau Direktor bekannt ist? Man kann der unglücklichen Frau doch nicht ihren toten Mann so ohne jede Vorbereitung ins Haus bringen.«

Minna fühlte recht gut, daß diese traurige Pflicht ihr auferlegt sei, und konnte sich doch nicht entschließen, sich freiwillig dazu zu erbieten.

Da hörte sie, wie Ella zu dem Manne, der ein Werkführer zu sein schien, sagte: »Wir sind mit Direktors bekannt,« und zugleich zog sie Minna an der Hand, als wolle sie diese an ein Versäumnis mahnen.

»Ach, Fräulein Uslar,« sagte der Mann, sich jetzt direkt an Minna wendend. »Es ist freilich eine schwere Aufgabe, der Sie sich unterziehen wollen, aber Sie werden es auch am besten verstehen.«

Aller Augen richteten sich bei diesen Worten nach den drei bleichen Mädchen, die dicht aneinandergedrängt schüchtern unter den Arbeitern standen.

»Wollen Sie so gut sein und Platz machen, damit wir das Haus erreichen, ehe Frau Direktor von dem Unglück erfährt?« bat Minna mit leiser, bebender Stimme.

Sogleich bildete sich eine Bahn, durch die die Mädchen hinaustreten konnten, doch vernahmen sie noch, daß ihr Name von allen Seiten ausgesprochen wurde.

»Die kenne ich; die ist ein Engel,« sagte eine Frau.

»Die fühlen, wie's tut; haben ja jetzt selbst den kranken Jungen verloren,« sagte eine andre Stimme; und so ging das Reden von allen Seiten. Es war, als erzählten sich die Leute, ohne auf ihre Gegenwart Rücksicht zu nehmen, alles, was sie von dem Schicksal und dem guten Charakter der Uslars erfahren hatten.

Einer der Leute wollte auch eine unfreundliche Bemerkung über den verunglückten Direktor Karling machen, aber die Umstehenden verwiesen es ihm sogleich.

Die Aufgabe, die ihr so unfreiwillig aufgedrängt worden war, erschien Minna fast unausführbar. »Ach, Ella, warum hast du nur etwas gesagt?« klagte das erschreckte Mädchen. »Was soll ich denn mit der unglücklichen Frau reden?«

»Sei nicht böse, liebe Minni,« bat Ella und ergriff wieder zärtlich ihre Hand. »Ich dachte, niemand kann so gut reden, wie unsre Minna.«

»Es wird dir gewiß einfallen, wie du Frau Direktor vorbereiten sollst,« meinte nun auch Adele. »Du bist klug und bist gut, du wirst schon die rechten Worte finden! – Ach, ich muß an die arme Rosamunde denken; die wird den Schlag am tiefsten fühlen.«

Minna erwiderte nichts, sondern schritt mit großen, energischen Schritten weiter; kaum vermochten die Schwestern ihr zu folgen. Und doch war das Gerücht noch schneller gelaufen. Im Hof stand schon ein Kreis erregter Leute und Maruschka, eifrig gestikulierend, darunter. Sie lief gleich ihrer jungen Herrschaft entgegen, um die schreckliche Nachricht zu verkündigen.

»Wir wissen alles, wir sind ganz nahe dabei gewesen,« entgegnete Minna erregt. »Hat denn Frau Direktor schon etwas erfahren?«

»Nein, im großen Hause wissen sie noch von nichts,« versetzte Maruschka.

»Sie fürchten sich alle, es zu sagen,« meinte Anuscha.

»Ich werde zu Frau Direktor gehen,« und mit schnellem Entschlusse schritt Minna auf das Haus zu.

Sie klingelte und hörte, wie Joseph die Treppe herunterpolterte. Als er Minna erblickte, machte er ein etwas verblüfftes Gesicht. »Ach, Sie sind's, Fräulein Uslar; ich dachte, es wäre unser Herr.«

Minna trat ein, und als sie jetzt in das Bereich der Hauslampe kam, merkte Joseph, daß sie ganz verändert aussah. »Es ist doch kein Unglück geschehen?« fragte er besorgt.

»Ach ja, es ist ein großes Unglück geschehen,« erwiderte Minna und zwang sich gewaltsam ruhig zu reden. »Die Pferde sind mit dem Herrn Direktor durchgegangen; er ist aus dem Wagen geschleudert worden.«

»Ach, du mein Himmel; er ist wohl gar tot?« rief der erschreckte Mensch und wurde kreidebleich. »Und Sie wollen's wohl der Madame sagen? Ach Gott! Ach Gott! Die wird aber jammern und schreien! Bei jeder Kleinigkeit macht sie ein Geschrei – und nun so 'n Unglück! Ach, du lieber Himmel! Nun werden wir ja alle brotlos.« Und der arme Mensch setzte sich auf einen Stuhl, als trügen ihn die Füße nicht mehr; er nahm wohl auch teil an dem Kummer seiner Herrschaft, aber die Sorge um das eigne Schicksal ging ihm doch näher.

Während Minna die Treppe hinaufstieg, überlegte sie, daß es vielleicht das beste wäre, zuerst mit Aurora zu reden, um durch diese die Mutter vorzubereiten, aber sobald sie den Vorsaal betrat, wurde die Tür aufgerissen, und Frau Direktor rief mit ihrer lauten Stimme hinaus: »Na, kommst du denn endlich, Karling?«

Da sie die erhoffte Antwort nicht erhielt, trat sie heraus und erkannte Minna Uslar, die bleich und mit verstörtem Gesicht vor ihr stand.

»Um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus?« rief die ahnungslose Frau mit aufrichtigem Mitleid. »Es ist ihnen doch nicht schon wieder ein Unglück passiert?« – Sie ergriff teilnehmend Minnas Hand und zog sie in ihr Wohnzimmer. »Nicht in den Salon, hier hinein, armes Kind; wie Sie zittern! Setzen Sie sich, setzen Sie sich; der Papa ist doch nicht krank? Den Schwestern was passiert?« Ohne die Antwort abzuwarten lief sie nach der Tür und rief hinaus: »Joseph, Joseph – ein Glas Wein für Fräulein Uslar! – Der Mensch hört nicht. – Was ist denn nur für ein Lärm da unten?«

»Sie bringen die Leiche, und ich habe es der armen Frau noch nicht gesagt,« durchzuckte es Minna, und, sich schnell erhebend, stürzte sie nach der Tür, die sie vor den Augen der verblüfften Frau schloß.

»Das Mädel hat wohl seinen Verstand verloren?« war Frau Direktors erster Gedanke.

»Ach, liebe Frau Direktor,« fing Minna an, mit einem so innigen Ton, wie sie ihn dieser Frau gegenüber noch niemals gefunden hatte. »Bitte – bleiben Sie hier – ich kam Ihretwegen ...«

»Meinetwegen?« sagte die Frau ungläubig. Aber in Minnas Augen lag eine beredtere Sprache als auf ihren Lippen. – Frau Direktor war's auf einmal, als würde sie von einer eiskalten Hand berührt.

»Die Pferde sind nämlich scheu geworden und durchgegangen, Frau Direktor ...«

»Hab ich's ihm nicht immer gesagt, daß es noch mal so kommen würde?« fiel die Frau eifrig ein; sie sträubte sich, ohne es zu wissen, gegen das, was kommen mußte. »Karling sollte niemals selbst kutschieren; am wenigsten, wenn er mit den Herren in Tarnowitz gefrühstückt hat. – Es ist ihm doch nichts Schlimmes zugestoßen?« rief sie auf einmal, wie von plötzlicher Angst erfaßt, und griff nach Minnas Hand.

Minna fühlte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte, aber sie war ja gekommen, die Frau vorzubereiten. In abgerissenen Worten fuhr sie fort: »Der Wagen raste an uns – vorüber – der Herr Direktor saß – noch darin – ich glaube – er wollte – herunterspringen – aber – da kam die Ecke – und der Wagen ...«

»Was ist geschehen? Ich bin auf alles gefaßt,« sagte die Frau.

Da wurde die Tür aufgerissen und Aurora stürzte mit lautem heftigem Schreien, gefolgt von Rosamunde, in die Stube.

»Mama! Mama!« schrie Aurora und rang die Hände, »sie bringen ja Papas Leiche!«

Frau Direktor nahm die Hände von ihrem Gesicht und blickte sich verstört um wie jemand, der seine Gefühle nicht beherrschen kann. »Womit habe ich das verdient!« rief sie leidenschaftlich. »Warum muß das Unglück denn gerade unsern armen Vater treffen! Ach Gott, was sollen wir nun machen! Wenn der Vater nicht mehr lebt, sind wir ja arm! Ach Kinder, ihr wißt nicht, wie die Armut tut! Ach, mein Mann, ach, mein lieber Mann, warum hast du uns verlassen! Andre Frauen behalten ihre Männer! Warum muß mir der liebe Gott meinen Mann nehmen!«

Rosamunde hatte sich vor der erregten Frau auf die Knie geworfen, und sie mit ihren Armen umfassend rief sie beschwörend: »Mutter, liebe Mutter, fasse dich! Ach werde doch erst ruhig, liebe Mama; dann wirst du dich auch in Gottes Willen fügen.«

Rosamunde sprach so innig und so zärtlich zu der unglücklichen Frau, daß Minna fühlte, besser vermöchte sie ihr nicht zuzureden; sie schlich sich leise hinaus, doch schon früh am andern Morgen fand sie sich wieder ein.

Frau Direktor saß in schwarzem Kleide und mit einem schwarzen Kreppschal über den Kopf auf dem Sofa; vor ihr stand ein Glas mit Portwein und belegte Butterbrote; sie sah sehr angegriffen und übernächtig aus. Am Schreibtisch saß Aurora und bat, Minnas Gruß erwidernd, einen Brief beenden zu dürfen.

»Ich habe seit gestern noch keinen Bissen hinuntergebracht,« entschuldigte Frau Direktor ihren Appetit. »Der Magen will aber sein Recht haben, und schwach werden darf ich nicht; ich weiß ohnehin nicht, wo mir der Kopf steht, an so viele Dinge muß ich denken.«

»Das glaube ich wohl, Frau Direktor. Papa bittet auch um die Erlaubnis, Sie besuchen zu dürfen, um über sehr dringende Angelegenheiten mit Ihnen zu beraten.«

»Natürlich – ich bin bereit. Ach, Fräulein Minna, das sind schreckliche Tage, an die will ich denken! – Bist du mit dem Briefe bald fertig, Aurorchen? – Nein, was es alles zu besorgen gibt, das können Sie sich nicht vorstellen. – Sie hatten ja auch einen Trauerfall, aber hier ist's was andres. Es richtet sich doch alles nach der Stellung, die man in der Welt einnimmt. – Die Breslauer Adresse, Aurorchen, liegt in der Schublade linker Hand. – Der Brief muß vor allen Dingen fort; sie schreibt wegen der Trauerkleider. – Vergiß nicht zu erinnern, Aurorchen, daß sie von den letzten Ballkleidern die Maße noch haben müßten. – An solche Sachen muß man denken, Fräulein Minna! – Ja, wenn mein Aurorchen nicht wäre, wüßte ich gar nicht, was ich anfangen sollte. Sehen Sie, mit der Rosamunde ist nichts zu machen. Die hat sich in die Stube zu der Leiche gesetzt, gerade als wäre mein armer Mann noch am Leben. Aber ich frage Sie, was kann das Weinen nützen? Lebendig wird er doch nicht wieder.« – Sie mußte sich die Augen trocknen. – »Aurora, hast du auch geschrieben, daß das Begräbnis am zehnten ist? Da müssen wir die Kleider haben. Unterstreiche das ›müssen‹ lieber dreimal. – Sie kennen ja unsre Verhältnisse – in so 'nem Augenblick wie gestern kommt alles heraus. Da will nun Rosamunde kein neues Trauerkleid haben; ja, du lieber Gott, daß wir uns einschränken müssen – das weiß ich auch; aber was sein muß, muß sein. Wir können doch meinem Manne nicht die Schande antun und in alten Kleidern um ihn trauern?«

Minna erhob sich; sie fühlte sich hier ganz überflüssig. Nichts verband sie mit dieser Frau und Aurora; nicht einmal der gleiche Schmerz, wie die Trauer um einen geliebten Verstorbenen.

»Wenn Sie für mich einen Auftrag haben, Frau Direktor, so bitte, schicken Sie nur gleich zu uns hinüber,« sagte sie, »ich bin sehr gern bereit, Ihnen eine Arbeit oder einige Besorgungen abzunehmen. Jetzt will ich nur noch einen Augenblick bei Rosamunde vorsprechen.«

Sie wußte, daß es dem lieben Mädchen ein großer Trost sein würde, wenn sie ihm erzählte, daß sie schon am vorigen Abend an Pastor Steube geschrieben habe.

Rosamunde umarmte die Freundin innig. »Ich wußte, daß du ihm schreiben würdest,« sagte sie, »und danke dir für deine Freundschaft. Bitte, verlaß mich jetzt nicht. Du weißt nicht, wie ich deine liebe Nähe brauche. Ich fühle mich so grenzenlos verlassen. Mama und Aurora empfinden den Schmerz so ganz anders, als ich ihn fühle; wir können uns nicht einmal an Papas Bahre verstehen.«

»Gewiß wird Pastor Steube sofort herüberkommen, und niemand wird es besser verstehen, dir Trost zuzusprechen, als er.«

»Ach, liebe Minna, habe ich jetzt noch ein Recht an ihn zu denken? Du weißt doch, daß Papa gegen seinen Antrag gewesen ist.«

»Nun das überlasse nur dem Pastor. Er wird schon wissen, wie er zu handeln hat; und auf ihn kannst du dich verlassen, er wird das Rechte tun.«

Minna verließ ihre betrübte Freundin sehr beruhigt.

Vergeblich stellte Herr Uslar, wie einige andre Herren, der Frau Direktor vor, sie solle ihrem verstorbenen Gatten kein großartiges Begräbnis machen. Sie bestand aber auf dem größten Prunk und meinte, daß sie der Stellung ihres Mannes diese Rücksicht schulde.

»Nein,« sagte sie zu Minna und ihren beiden Töchtern und blickte sich dabei fast triumphierend um: »Ich lasse mir von den Herren nichts einreden. Seine Ehre soll mein armer Mann haben, und wenn wir selbst dann hungern müßten, und die Glocken sollen läuten, und sechs Pferde vor dem Leichenwagen, und schönen Gesang am Grabe ...«

Es wurde an die Tür geklopft, und herein trat Pastor Steube; er hatte keinen Augenblick gezögert, zur Hilfe der unglücklichen Familie herbeizueilen.

Da ereignete sich etwas sehr Überraschendes – überraschend sogar für Rosamunde, die doch selbst das Überraschende tat. Sobald sie nämlich den guten Pastor erblickte, und obschon er noch bedeutend gesetzter und würdevoller als früher aussah, sprang Rosamunde auf und lag schluchzend an seinem treuen Herzen.

Mit einer etwas verlegenen Miene hielt er sie fest und sprach ihr herzlich Trost zu. Minna, die ihn herbeigerufen hatte, fühlte sich für diesen unerwarteten Auftritt verantwortlich und blickte schuldbewußt nach der Frau Direktor hin. Diese starrte mit weit aufgerissenen Augen das Paar an und erhob sich schon, um ihrer Entrüstung Luft zu machen, als Auroras Hand sie zurückhielt.

Aurora zeigte sich auf der Höhe der Situation; mit praktischem Scharfsinn erwog sie die veränderten Verhältnisse der Familie und sagte leise zur Mutter: »Sei nur still, du wirst dich doch nicht sträuben, ihm Rosamunde zu geben, wenn er sie noch haben will? Wo willst du denn jetzt einen reichen Schwiegersohn hernehmen?«

Die Sache war einleuchtend. Frau Direktor blieb sitzen und schien entschlossen abzuwarten, was die beiden Personen – die eine schluchzend, die andre tröstend – weiter unternehmen würden.

Auf einmal richtete sich Rosamunde auf; sie schien erst jetzt zu begreifen, was sie getan hatte, und blickte sich mit grenzenloser Verlegenheit um: »O Mama – sei nicht böse, ich wußte nicht ...« stammelte sie und wollte an die Seite der Mutter flüchten; aber Pastor Steube hielt ihre Hand fest und sprach würdevoll: »Meine teure Rosamunde, Sie flohen an mein Herz, weil Sie fühlten, daß dort Ihre Heimat ist, und ich hoffe zu Gott, Frau Direktor wird unsern vereinten Bitten nicht länger entgegen sein und wird mir das Recht geben, Sie meine Braut zu nennen.«

»Herr Pastor,« versetzte Frau Direktor, auch nicht ohne eine gewisse Würde, »das Jawort fällt mir nicht leicht. Sie wissen ja selbst am besten, daß mein seliger Mann andre Pläne gehabt hat; aber da nun Rosamunde Sie offenbar so liebt, daß sie bei Ihrem Eintritte alles andre vergaß, muß ich mich wohl fügen.«

»O Mama, sei mir nicht böse,« rief Rosamunde und kniete neben ihr nieder. »Es war mir ein so großer Trost, als er hereintrat, und ich fühlte ...«

Die letzten Worte wurden durch Schluchzen erstickt.

So wurde in einer ernsten Stunde die betrübte Rosamunde Braut, und trotz des schweren Geschicks, das auf dem Hause lastete, eine glückliche Braut.

»Du kannst dich bei mir bedanken,« sagte Aurora, als sie später mit der Schwester allein war. »Wenn ich nicht für dich gesprochen hätte, würde Mama den Pastor gleich fortgeschickt haben; nicht einmal die Grabrede hätte er halten dürfen. Aber ich kann dir auch nicht verschweigen, daß du dich höchst unpassend benommen hast. Ich will wünschen, daß du nie an einer Tochter erlebst, was Mama heute an dir erlebt hat.«

Aurora machte eine strafende, großartige Miene, aber in ihrem Herzen sah es ganz anders aus. »Ich glaube, hätte der Pastor um mich angehalten, ich würde ihn jetzt auch genommen haben. Was habe ich denn zu erwarten? Guter Gott, was für ein armseliges Leben liegt vor mir!« Und sie weinte in der Stille ihrer Stube bitterlich; doch vor andern zeigte sie ihren Kummer nicht, sondern prahlte mit reichen Verwandten und ließ merken, daß ihre pekuniären Verhältnisse viel günstiger wären, als man glaubte.

Einige Tage nach dem Begräbnis fand sich Pastor Steube wieder in Friedrichshütte ein; aber diesmal, wo Rosamunde das Recht zustand, ihn zu umarmen, reichte sie ihm nur errötend die Hand. Dagegen machte er von diesem Recht ganz ungeniert Gebrauch.

»Liebe Mutter,« sagte der gute Pastor, »ich komme, um wegen der nächsten Zukunftspläne mit Ihnen zu beraten.«

Sofort zog Frau Direktor die Brauen hoch und nahm eine herablassende Miene an; aber schließlich war sie genötigt, den vernünftigen und gütigen Vorschlägen ihres Schwiegersohnes bereitwillig und dankbar zuzustimmen. Seine Pläne waren geeignet, ihre Sorgen sehr zu erleichtern.

Der Pastor wollte ihre beiden Knaben in seinem Hause ohne jede Entschädigung erziehen und ihnen eine Realschulbildung geben, so daß sie die Aussicht hätten, auf den Werken ihren Weg zu machen; zu höheren Stellungen, von denen sie schon wegen ihrer geringen Begabung ausgeschlossen schienen, berechtigte sie eine solche Erziehung freilich nicht, der Pastor hoffte aber, daß sie unter seiner Leitung tüchtige und brave Menschen werden sollten.

»Um aber den Knaben von Ostern an in meinem einsamen und unwirtlichen Hause eine Heimat bieten zu können, ist es notwendig, daß eine getreue Hausfrau darin waltet, und deshalb komme ich, Sie zu bitten, daß meine Trauung mit Rosamunde beschleunigt werde. Selbstverständlich verzichten wir in dieser Trauerzeit auf eine Hochzeitsfeier, wie auch auf eine Hochzeitsreise; es liegen uns viel zu ernste Pflichten zu erfüllen ob,« schloß der Pastor.

Frau Direktor erhob keine Schwierigkeiten, sie drückte dem Pastor dankbar die Hand; die Erziehung ihrer Knaben hatte schwer auf ihrem Herzen gelegen. Zugleich versprach sie ihm, daß Rosamunde eine, wenn auch nicht neue, doch reiche Ausstattung erhalten solle. Geld war freilich nicht vorhanden, aber an Möbeln, Wäsche und Küchengerät herrschte in dem großen Hause Überfluß.

Es wurde ein großer Möbelwagen aufgepackt und nach Georgenberg geschickt. Mit der Nachricht, daß dieser glücklich angelangt wäre, kam zugleich ein flehender Brief des Pastors um Hilfe. »Mein Haus sieht aus, wie ein Möbelmagazin, von unten bis oben mit schönen und nützlichen Dingen angefüllt, aber ich weiß nicht, wie ich alles unterbringen soll. Kann sich nicht eine hilfreiche Seele meiner Not erbarmen?«

Vielleicht hoffte der gute Pastor auf die Hilfe von Rosamunde und Minna, aber Frau Direktor fand die Gegenwart der Braut nicht passend, deshalb fuhr an ihrer Stelle Aurora in Minnas Begleitung mit einem rumpelnden Postkasten nach Georgenberg.

Sie trafen den Pastor auf einer Kiste, wie Scipio auf den Trümmern Karthagos, umgeben von zum Teil entleerten Kisten, deren Inhalt wüst umherlag. In einer Hand hielt er ein Stemmeisen, in der andern ein belegtes Butterbrot und philosophierte schwermütig über den unnützen Kram, den die moderne Zivilisation für eine häusliche Einrichtung als unentbehrlich erklärte. Bei Minnas Anblick heiterte sich seine düstere Miene auf; er sprang mit freudigem Ausruf von seiner Kiste herab, und nur seine geistliche Würde hielt ihn zurück, Minna als Stellvertreterin seiner Braut zu umarmen.

An der Beratung über die Einteilung der Stuben in dem alten, winkeligen Hause nahm Aurora lebhaft teil, ja sie entschloß sich sogar, eine Kiste auszupacken, und vergrößerte somit die Verwirrung. Dann aber warf sie sich erschöpft auf einen Stuhl und erklärte, sie wäre völlig unfähig, weiterzuarbeiten. Da sich aber niemand um sie kümmerte, fing sie an, sich zu langweilen, und als sie den ihr bekannten Inspektor Wolchowsky erblickte, fand sie, daß frische Luft ihr gut tun würde; sie band sich ein Tuch um und wandelte mit ihm bald in lebhafter Unterhaltung auf der Straße auf und ab. Erst als das aus dem Gasthaus herbeigeholte Mittagsbrot auf dem Tische stand, erschien sie wieder, und während sie es sich vortrefflich schmecken ließ, sprach sie so viel über die Einrichtung und die Anstrengung, der sie sich dabei unterworfen, daß man hätte denken sollen, die Last der Arbeit habe allein auf ihren Schultern gelegen.

Indes hatte Minna mit Hilfe des Pastors und einiger Arbeiter tüchtig geschafft. Die Möbel standen in den verschiedenen Stuben am richtigen Platze, und ein Hauch von Ordnung und Wohnlichkeit begann sich über das verödete, ungemütliche Heim zu legen. Der Pastor rieb sich vergnügt die Hände und wanderte schmunzelnd von einem Zimmer ins andre; auch er glaubte, das Seinige getan zu haben, und war sehr erstaunt, als Minna erklärte, sie brauche noch dringend seine Hilfe. Doch folgte er bereitwillig ihren Anordnungen, kletterte auf die Leiter, um Gardinenhaken einzuschlagen, hängte Bilder auf und schleppte mit Keuchen die ausgepackten Sachen an die ihm von Minna bestimmten Plätze, von wo sie sie dann in die Schränke einordnete.

Spät am Abend kamen die beiden Mädchen wieder in Friedrichshütte an.

»Das Haus ist miserabel,« erklärte Aurora, »aber wir haben es so reizend eingerichtet, daß man gar nicht merkt, wie elend das Nest ausgesehen hat. Der Pastor wäre natürlich niemals damit zustande gekommen, aber er läßt sich behandeln. Eine Eckstube hatte er sich schon als Studierzimmer ausgesucht; als ich ihm aber sagte: das muß die Wohnstube sein, wagte er nicht zu widersprechen. Du kannst dir das merken, Rosamunde, du bist so gräßlich demütig, daß du dir einen Tyrannen erziehen wirst; ich hoffe, du beherzigst diesen Wink. Für die brillante Einrichtung kannst du dich auch bedanken.«

»Aber wie sieht's dafür jetzt hier aus?« sagte Frau Direktor mit einem Seufzer und blickte sich traurig in der halbgeleerten Stube um. »Und wo werden wir beide ein Unterkommen finden, Aurorchen?«

Da rief Rosamunde herzlich: »O, auf uns, liebe Mama, kannst du immer rechnen.«

»Nein,« entgegnete Frau Direktor mit wirklichem Gefühl, »der Pastor tut mehr für uns, als ich je von ihm gehofft habe; man muß auch nicht zuviel erwarten.«

»Drei Frauen auf einmal und noch die ungezogenen Jungen, das wäre mehr, als selbst ein Pastor zu ertragen vermag,« erklärte nun auch Aurora. »Ich habe einen ganz andern Plan. Wir mieten in Landeck oder in einem andern Badeorte ein Haus und nehmen Fremde auf; ich denke, das kann ganz amüsant werden, Mama.« –

Nur kurze Zeit verwaltete Herr Uslar die Geschäfte des Direktors provisorisch, dann wurde er zu seinem Nachfolger ernannt. Zum Vormund der Karlingschen Waisen hatte er sich selbst erboten, denn die Vermögensverhältnisse waren so zerrüttet und die Familie besaß so wenig Freunde, daß sich für die verantwortliche Mühe der Vormundschaft schwer jemand anders gefunden hätte.

»Ich habe eine Bitte, Frau Direktor,« sagte Herr Uslar nach einer geschäftlichen Beratung. »Erlauben Sie mir, die Hochzeit meines lieben Mündels auszurichten?«

»Die Umstände haben sich freilich geändert, Herr Direktor,« entgegnete die arme Frau mit einem Seufzer, »und Sie kennen unsre Verhältnisse nur zu gut; was nützte es mir, wollte ich mich noch aus falschem Stolze gegen Ihren Vorschlag sträuben!«

»Die Frau ist ja merkwürdig vernünftig,« dachte Herr Uslar, dem nicht oft die Gelegenheit wurde, sie nach dieser Richtung zu bewundern, und kam nun hoffnungsvoller zu seinem zweiten Vorschlage; er wünschte der Frau, die der Welt gegenüber so gern prahlte, die Genugtuung zu verschaffen, daß sie die Hochzeit anscheinend allein ausgerichtet habe, und bat sie deshalb, ihm zu erlauben, daß der Tisch in ihrem Salon gedeckt würde. Aber seine zarte Rücksicht wurde von Frau Direktor nicht verstanden; im Gegenteil, sie erblickte in seiner Bitte einen Vorwurf. »Ich verstehe, Herr Direktor,« versetzte sie kalt. »Sie möchten gern so bald wie möglich in das große Haus ziehen. Nun, Sie haben ja das Recht dazu; und sobald wir nur wissen, wohin ...« hier brach sie in einen Strom von Tränen aus.

»Gott behüte, Frau Direktor, Sie haben mich gänzlich mißverstanden,« rief Herr Uslar betroffen. »Ein öffentliches Lokal schien mir in einer Zeit der Trauer unpassend, und unsre Stuben sind eng; aber wir werden uns schon einrichten.« Damit verließ er sie.

Aurora erklärte ihrer Mutter, welchen Vorteil sie sich hatte entgehen lassen, und diese bereute, nicht auf Uslars Vorschlag eingegangen zu sein.

Nach der Trauung des jungen Paares fand das Frühstück nun zwar in den kleinen Stuben des Verwalterhauses statt, aber es war alles so reizend eingerichtet, und Uslar verstand die Gastlichkeit mit so viel Güte und wahrer Teilnahme zu würzen, daß Frau Direktor am Schlusse Herrn Uslar um den Hals fiel und erklärte, er wäre der edelste Mensch.

Selbst Aurora, die mit der Absicht gekommen war, sich von der ›Uslarschen Freundlichkeit nicht herumkriegen zu lassen,‹ sagte, daß sie sich nur zu verheiraten wünsche, wenn Herr Uslar ihr gleichfalls die Hochzeit ausrichte.

Die Dankbarkeit und Anerkennung des Pastors und seiner jungen Frau brauchte nicht erst gewonnen zu werden; er sprach seine und Rosamundens Gefühle in einem Toaste so rührend aus, daß ihm selbst die Augen übergingen und Rosamunde schluchzend an Minnas Halse hing.


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