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Bald nachdem Minna aus ihrem tiefen Kummer einen Schritt zur Genesung getan hatte, kam ihr Geburtstag, Anfang Oktober.
»Was meinst du, Papa, sollen wir Minnis Geburtstag feiern?« hatte Adele zuvor gefragt, und Herr Uslar antwortete nur mit einem traurigen Kopfschütteln.
Darum küßten die Schwestern ihre Minna an diesem Morgen nur mit ganz besonderer Zärtlichkeit, ohne einen Glückwunsch auszusprechen. Auf dem Frühstückstisch aber stand als einziges Zeichen, daß sie des Tages nicht vergessen hatten, ein Strauß der letzten Blumen aus dem Garten, Astern, Georginen, selbst einige Rosen.
»Würde es euch kränken, wenn ich die Rosen heute auf Brunos Grab legte?« fragte Minna, mit Tränen kämpfend.
»O nein, liebe Minni, tu es; tu alles, was dir lieb ist,« bat Adele.
»Es wird euch vielleicht unfreundlich scheinen, aber darf ich noch einmal allein an sein Grab gehen?«
»Natürlich, liebe Minni; doch kann dich nicht wie sonst Frau Rendant begleiten?«
»O ja, gewiß; sie ist so rücksichtsvoll, sie bleibt stets am Eingang zurück. – Ich meine nicht, daß ihr nicht ebenso rücksichtsvoll wäret,« – setzte Minna, ihre Worte bereuend, hinzu – »aber euch könnte ich nicht mit gutem Gewissen zurücklassen, weil ihr ebensogut wie ich das Recht habt, an seinem Grabe zu stehen.«
Am Nachmittag begab sich Minna in Begleitung von Frau Rosine nach dem Kirchhof. Nahe dem Eingang ließ sich die gute Frau nieder, während sich Minna zwischen den ihr nun schon vertraut gewordenen Grabsteinen nach dem Platze begab, wo ihr Liebling ruhte.
Sie schloß das Gitter auf, das das kleine Grab umgrenzte, und kniete in dem feuchten Grase nieder. Es war ihr Wunsch, an dieser Stätte heute ein Gelübde abzulegen; sie wollte dem abgeschiedenen teueren Bruder versprechen, das Leben nicht länger als schwere Last zu tragen, sondern es mit frommem Mute wieder aufzunehmen. »Dein Leben war nur eine Leidenszeit, mein Liebling,« dachte sie, die Worte leise dabei aussprechend. »Nun bist du genesen, vereint mit der geliebten Mama und glücklich; darum will ich versuchen, mit der Zeit auch wieder glücklich zu werden, wie es dein Wunsch gewesen ist, mein Bruno, ich will auch wieder eine gute Tochter und Schwester sein. Es fällt mir schwer, mich zurechtzufinden – ach, so sehr schwer; aber ich will mir rechte Mühe geben.«
Und während Träne auf Träne über ihre bleichen Wangen rollte, nahm sie von dem Schmerz, der ihr ein steter Begleiter gewesen war, gleichsam Abschied.
Als sie darauf hinaustrat und das Gitter schließen wollte, gewahrte sie einen Herrn, der sich, einen großen Kranz in der Hand, von des Totengräbers kleinem Sohne geführt, ihr näherte. Auf einmal erkannte sie in dem Fremden Baron Neitung und angesichts einer Begegnung mit ihm empfand sie einen Schreck, der ihr fast die Besinnung raubte. Unwillkürlich griff sie nach dem eisernen Gitter, an dem sie sich hielt; nur vermöge der strengen Zucht, die sie gelehrt hatte, ihre Empfindungen zu beherrschen, gewann sie die Kraft, seinen achtungsvollen Gruß zu erwidern.
Baron Neitung trat, nachdem er den Knaben verabschiedet hatte, näher und verbeugte sich noch einmal.
»Sie werden sich wundern, gnädiges Fräulein, mich hier am Grabe Ihres Bruders zu sehen,« sagte er mit anscheinender Ruhe.
Minna fühlte, daß sich über ihre Augen ein Schleier legte, sie gab die sichere Stütze des Gitters nicht preis. »Ich habe Sie allerdings nicht hier erwartet, Herr Baron,« entgegnete sie mit belegter Stimme.
Er fuhr fort: »Sie werden wohl kaum begreifen, daß ich gegen diesen armen Knaben lange Zeit Groll empfunden habe; dieser Groll ist natürlich mit dem Tode des Kindes erloschen, aber ehe ich die Gegend verlasse, wollte ich auf seinem Grabe doch einen Kranz niederlegen. Sie werden mir die Erlaubnis nicht verweigern, Fräulein Uslar?«
Sie nickte mit tränenschweren Wimpern. Er betrat den engbegrenzten Raum und suchte mit fast liebevoller Sorgfalt für den aus den seltensten Treibhausblumen zusammengestellten Kranz ein passendes Plätzchen aus, ängstlich bemüht, die Rosen, die Minna niedergelegt hatte, nicht zu beeinträchtigen.
Als er das Gitter geschlossen hatte und Minna den Schlüssel übergab, hatte sie sich soweit gefaßt, Brunos letzten Auftrag auszurichten.
»Bruno hat sehr, sehr bereut, wie er sich damals gegen Sie betragen hat, Herr Baron; er hat mir auch aufgetragen, wenn ich Sie wiedersehen sollte, Sie zu bitten, daß Sie ihm vergeben möchten.«
Ihre Stimme wurde unsicher, die letzten Worte sprach sie unverständlich, aber der Baron verstand sie.
»Ich hoffe, er hat jetzt die Gewißheit, daß ich mir selbst alle Schuld jenes schmerzlichen Augenblicks beimesse.«
»O, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!« sprach Minna mit überströmendem Herzen. »Es hat immer auf meiner Seele gelegen, daß Sie durch unsern armen Knaben so schwer gekränkt worden sind.«
»Nein nein, es war töricht von mir, dem kranken Kinde so etwas nachzutragen; wahrscheinlich war er durch ein Gerücht gegen mich eingenommen worden. Ich war leider damals so reizbar, daß jede Berührung meiner Wunde mir zu einer großen Qual wurde.«
Beide wendeten sich jetzt dem Ausgange zu. Der Baron beobachtete ihr tiefernstes Gesicht mit forschendem Blick von der Seite. Er hatte sich diese Züge so oft in seiner Phantasie vorgestellt, aber niemals sah er Minna kummervoll, stets nur mit dem Ausdruck eines strahlenden Glücks: einem Ausdrucke, den er zwar in Wirklichkeit nie bei ihr gesehen hatte, der aber den falschen Vorstellungen entsprach, die sich der Baron nach Minnas Ablehnung seines Antrags von ihr machte. Er bildete sich ein, daß Brunos Krankheit nur ein Vorwand für diese Ablehnung gewesen, daß er nur zu spät gekommen wäre, und daß ihre Neigung einem Manne gehöre, der ihm als einer ihrer eifrigsten Verehrer in Berlin genannt worden war.
So gingen sie beide einige Augenblicke stumm nebeneinander; da fragte Baron Neitung plötzlich: »Sie haben Ihren verstorbenen Bruder wohl sehr geliebt, Fräulein Uslar?«
Ihre Stimme bebte noch, als sie erwiderte: »Es war kein Wunder, daß ich ihn liebte; Bruno war ungewöhnlich begabt und besaß ein seltenes Gemüt. Ein krankes, hilfloses Kind steht dem Herzen auch immer ganz besonders nahe.«
»Und wie innig mag er diese Liebe erwidert haben! Sie waren ihm wahrscheinlich der Inbegriff alles dessen, was er liebte.«
»Nein nein, so weit ging seine Liebe nicht,« wehrte sie mit mattem Lächeln. »Er hing ganz außerordentlich an Papa, auch an den Schwestern.«
»Aber Sie waren doch wohl hauptsächlich seine Pflegerin? Sie waren bereit, ihm jedes Opfer zu bringen?«
»Ach, wenn ich ihn hätte gesund machen können, ich würde gern ...« Die Worte waren so leise, daß sie diesmal selbst des Barons scharfem Gehör unverständlich blieben.
Sie hatten jetzt den Ausgang erreicht, wo Frau Rosine sie erwartete. Minna stellte ihr Baron Neitung vor, und die gute Frau machte ihre tiefste altmodische Verbeugung.
Der Baron verabschiedete sich kurz und bestieg den vor dem Tore harrenden Jagdwagen.
»Ob sie wirklich an dem Bruder allein in treuer Sorge und Liebe gehangen hat?« fragte sich der junge Mann mit einem nagenden Gefühl der Reue, das er zum erstenmal empfand. »Herrgott, wenn ich mich in Sornitz getäuscht hätte! Wenn ich mein Glück leichtsinnig verscherzt hätte, weil ich die ersehnte Antwort nicht bekam! Wenn ...« Ja die ›Wenns‹ wollten gar kein Ende nehmen.
Minna ergriff schweigend Frau Rosinens Arm. Ihre Hand zitterte; nur mit Anstrengung erhielt sie sich aufrecht. Sie fühlte, daß sie ihrem toten Liebling zuviel versprochen hatte. Wie sollte sie noch einmal glücklich werden? An der Schwelle des neu zu beginnenden Lebens vernahm sie ganz unvorbereitet ein Wort, und mit diesem Worte schien alles Glück ausgelöscht: Baron Neitung hatte gesagt, daß er die Gegend verlassen wolle.
Sie bildete sich ein, mit der Erinnerung an seine Neigung abgeschlossen zu haben; aber in diesem Augenblick fühlte sie, daß in der geheimsten Falte ihres Herzens noch eine Hoffnung verborgen gelegen. Jetzt senkte sich der düstere Vorhang, der ihr die Welt verhüllte, tiefer herab; ihr Weg schien sonnenlos. Ohne daß sie es merkte, lehnte sie sich schwerer auf Frau Rosinens Arm, tastend setzte sie einen Fuß vor den andern, ihr Kopf war tief gesenkt und sie blieb stumm.
Ihre zartfühlende Begleiterin wußte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war; doch dieser Schmerz stammte nicht von dem kleinen Grabhügel, der hing mit dem vornehmen Herrn zusammen, der sie nach kurzem Abschied verlassen hatte. Frau Rosine fühlte sich sofort gegen einen Mann, der ihren Liebling kränkte, eingenommen. Sie hatte in letzter Zeit viel Vorteilhaftes über den jungen Baron gehört: er sollte sich, seit ihn die Schwermut verlassen hatte, der Bewirtschaftung seines Gutes mit ungewöhnlichem Eifer und großem Geschick angenommen haben; man erwartete in der Gegend viel von seiner energischen Tätigkeit. Aber in diesem Augenblick war der Mann Frau Rosine verhaßt.
Sie blickte ihn deshalb, als er ihnen auf einmal ganz unerwartet wieder entgegentrat, mit einer keineswegs freundlichen Miene an. Offenbar hatte er etwas zu sagen vergessen; sein Wagen hielt auf der Straße, er aber war ausgestiegen und kam direkt auf Minna zu.
»Verzeihen Sie mir, Fräulein Uslar, daß ich es wage, Sie noch einmal anzusprechen,« sagte er, sich tief verneigend, und seine Stimme klang dabei so hell und frisch, daß sie Minna an die Stunde erinnerte, wo er ihr seine Erlösung von furchtbaren Seelenqualen verkündete. »Ich werde Sie und Frau Rendant auch nicht lange aufhalten,« fuhr er fort, ihrem etwas erstaunten Blick offen begegnend, »ich möchte nur einem Mißverständnis vorbeugen. Nach meinen Worten werden Sie am Ende verstanden haben, daß Mama und ich diese Gegend ganz verlassen wollten; aber das ist durchaus nicht unser Plan. Ich habe nur die Absicht, während dieses Winters die Landwirtschaft auf einer Akademie theoretisch zu studieren; ich habe mir bis jetzt nur einige praktische Kenntnisse aneignen können, und diese reichen bei der Bewirtschaftung eines so großen Gutes natürlich nicht aus.«
»Daran tun der Herr Baron sehr recht,« versicherte ihm Frau Rosine mit plötzlich erwachendem Wohlwollen.
Er nickte ihr lächelnd zu, wendete sich dann aber wieder zu Minna. »Wie Sie sich denken können, Fräulein Uslar, haben Mama und Kamillchen durchaus keine Neigung, den Winter allein in dem großen Hause zu verleben; sie beabsichtigen deshalb nach Berlin zu gehen. Nicht wahr, Sie erlauben, daß wir vor unsrer Abreise noch kommen, um uns zu empfehlen?«
Da Minna nur höflich den Kopf neigte – das Sprechen schien ihr unmöglich – bekam sie von Frau Rosine einen leisen Stoß, und weil sie trotzdem stumm blieb, versicherte die gute Frau, Herr Uslar und die Fräulein würden sich, wie sie zu wissen glaube, durch den Besuch sehr geehrt fühlen.
Der Baron drückte Frau Rosine darauf mit herzlichem Lachen die Hand, verbeugte sich vor Minna, und im nächsten Augenblick rollte er in seinem leichten Wägelchen die Straße hinunter.
Mit einem nicht ganz zufriedenen Seitenblick auf Minna bemerkte Frau Rosine: »Ich dachte, der Herr Baron könnte nicht bis drei zählen oder wäre so hochmütig wie der Großmogul. Nein, die schlechte Meinung mußte ich ihm jetzt in Gedanken abbitten. So ein freundlicher, herablassender Herr! Kutschiert auch famos; vom Kutschieren verstehe ich nämlich was. Da ist er schon um die Ecke! Wie man diesem liebenswürdigen jungen Herrn jemals etwas Böses zutrauen konnte, ist mir unverständlich.«
Während Frau Rosine so fortfuhr zu reden, unterließ sie nicht, Minnas Gesichtchen zu beobachten. Merkwürdig; bei ihr schien sich dasselbe Wunder zu wiederholen, zwar blieb sie still und sinnend, aber über ihren Brauen lag ein Glanz, als habe sie ein Sonnenstrahl gestreift. Auch ihre Hand ruhte nicht mehr so schwer auf Frau Rosinens Arm; ihr Schritt wurde elastischer, sie hob den Kopf, und es war, als sähe sie nach langer Zeit die Welt zum erstenmal wieder freundlich an.
Frau Rosine, als eine kluge und praktische Frau, ahnte etwas von der Wahrheit, trotzdem blieb noch viel zu erraten übrig; sie fuhr daher fort: »Es ist mir ganz unerklärlich, wie sich der Herr Baron in diesen wenigen Minuten so vollständig verändern konnte.«
»Ja, nicht wahr?« meinte Minna mit tiefem Erröten. »Die Veränderung war auffallend in so kurzer Zeit!«
»Wird man wohl alles seine Ursache haben, wie Grimmel sagt,« versetzte Frau Rosine.
Ihre Befriedigung wuchs, als sich Minna in der dämmernden Hausflur mit einem herzlichen Kuß von ihr verabschiedete.
Die Dämmerung kam Minna sehr gelegen. Sie hätte im hellen Sonnenschein wohl kaum den Mut gefunden, den Schwestern von dem Erlebnis etwas zu berichten.
Einige Tage empfand Minna durchaus keine Neigung auszugehen; sie meinte, der Garten böte genug Gelegenheit, sich im Freien zu bewegen. Die Blumenstöcke, die in der Stube überwintern sollten, mußten noch umgesetzt werden. Die Zeit zu dieser Arbeit war eigentlich schon vorüber, aber Minna hatte sich in ihrer trostlosen Gleichgültigkeit um alle diese Geschäfte nicht mehr gekümmert. Adele und Ella halfen ihr bereitwillig; sie fühlten sich ja alle so glücklich, die geliebte Schwester wieder mit freier Stirn tätig zu sehen.
Rosamundens freundliches Gesichtchen guckte über die Hecke, die den Karlingschen Garten von dem Uslarschen trennte. »Ich komme mit einer großen Bitte, liebe Minna,« rief sie, und, als die Schwestern herzuliefen, gestand sie, daß sie von der Not einer armen Familie erfahren habe und diese zu besuchen wünsche. »Ich verstehe aber nicht, mit den armen Leuten zu reden, und du verstehst es so gut, liebe Minna; kannst du mich nicht begleiten? Ich möchte es gern von dir lernen.« Das vertrauliche Du war Rosamunde von ihren Freundinnen selbst angeboten worden.
Minna war der Gang durchaus nicht gelegen, aber sie wußte, daß sich Rosamunde zu einer Frau Pastorin auszubilden gedachte, und dazu gehörte natürlich die Armenpflege; so sagte sie zu. Unterwegs aber vertraute ihr Rosamunde, daß die arme Familie eigentlich nur ein Vorwand wäre. »Ach, ich sehnte mich nach jemand, mit dem ich reden kann,« sagte sie. »Ich bin so glücklich. Heute kam der Inspektor Wolchowsky aus Georgenberg und aß bei uns zu Mittag. Der erzählte soviel von Pastor Steube. Alles so recht ausführlich: wie er eingeführt worden wäre, und wie herrlich die Predigt gewesen, und wie er schon von allen verehrt würde. – Ach, Minna, Minna! Ist es nicht ein großes Glück, von einem so ausgezeichneten Manne geliebt zu werden?« rief das gute Mädchen mit strahlenden Augen. »Wie komme ich dazu, daß er mich liebt? Womit habe ich ein so großes Glück nur verdient?«
Minna konnte es nicht bereuen, ihrer anspruchslosen Freundin die Bitte gewährt und deren Herz erleichtert zu haben. Aber gerade während ihrer Abwesenheit fand der erwartete Besuch statt.
Die Schwestern kamen Minna mit der Nachricht entgegengelaufen und waren noch ganz erfüllt davon.
»Als die Baronin nach unsers Bruders Tode uns kondolieren kam, war sie ein bißchen steif und zurückhaltend,« berichtete Adele, »aber heute war sie ganz wie an dem Abend in Doszek. Doch daß du gerade ausgegangen warst, machte sie sprachlos.«
»Nun, ich dächte, ihr hättet genug gesprochen,« wandte Ella ein.
»Ja, Kamillchen war kolossal gesprächig und sehr komisch. Hättest du gedacht, Minna, daß das sentimentale kleine Fräulein komisch sein könnte? – ›Wir sind alle hungrig wie Löwen nach Theater und Musik,‹ meinte sie. Da lachte die Baronin und meinte, sie hätte noch niemals gehört, daß Löwen einen Kunstappetit hätten. ›Du machst uns wirklich vergnügungssüchtiger, als wir es sind, Kamillchen. Was sollen die Kinder denn von uns denken,‹ sagte sie. – ›Nennst du die Sehnsucht nach Kunstgenüssen denn etwas Unrechtes?‹ rief Kamillchen. ›Haben wir nicht den Kummer mit großen Löffeln geschluckt? Und war die schrecklichste Langeweile nicht unser tägliches Brot?‹ Zuletzt blieb Kamillchen bei den hungrigen Löwen, denn die zeigten am besten, wie sie fühlte – ganz heißhungrig nach edelm Vergnügen. – »Aber weißt du was Neues, Minna? Ich glaube, der Baron ist ein großer Verehrer von dir.«
»War Baron Neitung denn auch da?« fragte Minna, indem sie sich, um ihren Hut abzulegen, umwendete.
»Aber das von dem Baron muß ich erzählen, Adele. Das habe ich erlebt,« rief Ella eifrig. »Also denke nur, wie sich Adele mit den Damen unterhält ...«
»Ich bin ja nicht zu Worte gekommen. Kamillchen schwatzte die ganze Zeit.«
»Bitte, laß mich jetzt erzählen, Adele, und rede nicht immer dazwischen. Also der Baron steht auf und tritt an Adelens Fenster, wo ich saß; und dabei machte er gerade Augen wie jemand, der in eine Kapelle tritt, und sagte: ›Das ist gewiß das Fenster, an dem Ihre älteste Schwester sitzt und näht?‹ Und ich merkte ganz gut, daß er dabei dachte: Minnas Platz ist ein geweihter Platz.‹«
»Aber, Ella, was fällt dir denn ein?«
»Sei nicht böse, Minni; aber du hättest nur das lange Gesicht sehen sollen, als ich sagte: ›Das ist Adelens Fenster‹. Der Platz schien ihm auf einmal gar nicht mehr heilig.«
»Und dann nahm er Wahrheit und Dichtung in die Hand,« fing Adele wieder an.
»Adele, du hast ja nicht mit ihm gesprochen; ich habe dich auch alles von Kamillchen erzählen lassen.«
»Aber die Geschichten mit dem Baron sind soviel interessanter,« schmollte Adele.
Ella fuhr fort: »Und da fragte er mich, ob Adele auch in dem Buche lese. ›Nein,‹ sagte ich, ›das Buch liest Minna.‹ Nun behielt er es nachdenklich in der Hand und schlug die Seite auf, wo dein Zeichen lag; ich glaube, er hätte das Buch am liebsten in die Tasche gesteckt.«
»Aber mit dem Bilde, das darf ich doch erzählen?« bat Adele sehr bescheiden; worauf ihr Ella gnädig die Erlaubnis gewährte. – »Der Baron ging im Zimmer umher, und wie ich glaube, ging er deinen Spuren nach, Minni.«
»Adele, du gibst ja ein gutes Beispiel!« verwies Minna.
»Nun, dann hat er unsre Stube für ein Raritätenkabinett gehalten, aber ich versichere dir, sein Benehmen war sehr eigentümlich. Ich war für ihn überhaupt nicht vorhanden, er sprach nur mit dem Kinde!«
»Darum habe ich auch ein Recht ...«
»Nein, Ella, du hast mir erlaubt, von dem Bilde zu erzählen; eigentlich ist's ja nur eine Photographie. – Wie er ein Ding nach dem andern betrachtet hatte, guckte er auch in unser Album, und da entdeckte er Vetter Hans in der Husarenuniform. Gleich wendet er sich mir dem aufgeschlagenen Album zu Ella, sieht sie grimmig an und fragt: ›Wer ist das?‹ ›Vetter Hans,‹ sagt sie ganz ruhig. Darauf fragte er weiter: ›Haben Sie öfters Besuch von diesem Herrn?‹«
»Bitte, laß mich nur erzählen, was ich geantwortet habe, Adele. ›Hier in Tarnowitz noch nicht einmal, aber in Berlin fast täglich,‹ antwortete ich.«
»Da schlägt er gleich das Buch zu und wendet sich weg; aber unser gescheites Ellchen,« – hier wurde Ella von Adele geküßt – »ja dieses kluge Kind stellt sich neben ihn und sagt: ›Haben Sie nicht das niedliche Baby gesehen? Das ist Vetter Hansens ältester Junge; bei dem hat Minna Pate gestanden.‹ Da wird er auf einmal ganz weichmütig, klopft Ella auf den Kopf und sagt sehr freundlich: ›Das kleine Patchen muß ich mir doch einmal betrachten.‹«
»Und wie wir uns den Hansel ansahen,« nahm Ella schnell das Wort, »fragte er mich: ›Ist Ihre Schwester wirklich ausgegangen?‹ Er dachte wahrscheinlich, du wärst irgendwo im Hause versteckt.«
»Aber du hast ihm gesagt, daß ich mit Rosamunde ausgegangen wäre?« fragte Minna lebhaft.
»Ja natürlich, ich mußte ihm alles ganz umständlich erzählen; er wollte gern recht viel von dir hören; und wenn die Baronin nicht fortgegangen wäre, da säße er gewiß noch immer hier und ich spräche noch immer von unsrer Minni.«
»Ach, Ella, rede nicht solchen Unsinn. Ich will das nicht hören!« versetzte Minna heftig und ging in die andre Stube.
»Sie haben uns noch tausend Grüße an dich aufgetragen,« rief ihr Adele nach. »Und sie haben schrecklich bedauert, dich nicht gesehen zu haben. Und zu Ostern sind sie wieder zurück. Dann müssen wir alle sie besuchen.« –
Seit ihrem Geburtstage kehrte Minna wieder zu ihren häuslichen Pflichten zurück, aber sie war wie eine Genesende, der die volle Kraft noch mangelt. Die Arbeit fiel ihr schwer; sie ermüdete leicht und mußte bei den ihr sonst liebgewordenen Beschäftigungen oft hart mit der Gleichgültigkeit kämpfen. Aber, trotz der Wiederkehr schwerer Stunden war der Bann von ihrer Seele gewichen: sie vermochte wieder von Bruno zu reden, ja sie sprach sogar oft und gern von ihm.
Eines Tages erklärte Minna, sie wollte sich nach einem Pianino umsehen; es läge noch Geld genug beim Bankier, daß ein nicht zu kostspieliges Instrument davon gekauft werden könnte. »Es ist zu still bei uns geworden,« sagte sie, »wir brauchen Musik, die wird uns gut tun.«
Und mit dem klangreichen Instrumente kehrte wieder ein freundlicherer Geist in dem kleinen Hause ein.
Wenn es draußen stürmte und regnete, oder zahllose weiße Flocken lautlos herniederrieselten, saß ein Kreis andächtiger Zuhörer in der Stube, um auf Minnas Spiel und Adelens reizende Stimme zu lauschen.
Frau Rosine mit ihrem Strickstrumpf suchte ein Winkelchen auf, und wenn ihr etwas ganz besonders gefiel, nickte sie immer mit dem Kopfe. »So etwas Schönes bekommt man in Tarnowitz nicht im teuersten Konzert zu hören,« gestand sie ihrem Manne. Herr Uslar, selbst der Rendant, entsagten der Angewohnheit des Rauchens und saßen mit verklärter Miene nebeneinander auf dem Sofa. Auch Rosamunde fehlte nicht; sie lauschte still mit gefalteten Händen und träumte dabei manch seligen Zukunftstraum.
Nicht wie im vergangenen Jahre wurde Weihnachten mit freudigem Verlangen erwartet; alle bangten vor einer Stunde, die besonders schmerzlich an den verlorenen Liebling erinnern mußte. Trotzdem hatte Minna nichts versäumt, für jeden waren mit zarter Rücksicht seiner Bedürfnisse Geschenke besorgt worden. Sogar ein geschmückter Tannenbaum stand bereit, und wieder versammelte sich die Familie mit Grimmels in des Vaters Zimmer.
Minna bangte es vor dem Augenblick der Bescherung. Sie hatte gehofft, der Vater oder Frau Rosine würden vorschlagen, wenigstens den Baum in diesem Jahre nicht anzubrennen; da aber der Vorschlag nicht gemacht wurde, bat sie Ottel hinüberzugehen, um die Lichter anzuzünden.
Sie beachtete es nicht, daß sich mit Ottel zugleich auch Adele und Ella entfernten. Auf einmal aber, als die Türen geöffnet wurden, drangen mit dem hellen Schimmer der brennenden Kerzen die jugendlichen Stimmen herüber; sie sangen:
»Stille Nacht, heilige Nacht –
Alles schläft. Einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar,
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh.«
Freilich flossen Minnas Tränen bei diesen Klängen, und es war ihr, als habe sie eine so tiefe Sehnsucht nach Bruno wie in diesem Augenblick noch niemals empfunden. Welches Auge wäre wohl trocken geblieben! Dann aber, als das Lied zu Ende war, fühlten sich alle freier und leichter, denn die heilige Bedeutung dieses schönen Tages trug sie über den persönlichen Schmerz empor. Fröhlich und heiter war niemand, und keiner wollte es sein; aber ein Gefühl der innigen Zusammengehörigkeit umschlang sie alle, und einem jeden wurde es bewußt, daß es eine ewige Liebe gibt, die, wenn auch ein Herz aufgehört hat zu schlagen, doch nicht gestorben ist.