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3. Große Enttäuschung.

Ehe sie aus der Droschke, die sie nach Friedrichshütte brachte, ausstiegen, fand es Herr Uslar notwendig, einige ermahnende Worte an seine Töchter zu richten. Im Hause der reichen Großtante konnten sie es nicht merken, daß ihr Vater nicht länger ein reicher Mann und daß seine Stellung eine untergeordnete geworden war. In seinen Briefen hatte er darauf angespielt; aber wie er seine Kinder in ihrer vornehmen Eleganz aus der ersten Klasse steigen sah, fühlte er, daß es notwendig wäre, gleich jetzt an seine veränderte Stellung zu mahnen.

»Ihr dürft die neue Amtswohnung nicht mit der Wohnung der Großtante vergleichen,« sagte er. »Auch die Einrichtung wird vielleicht nicht ganz nach euerm Geschmacke sein. Ich hatte keine Zeit dafür und verstehe nichts von solchen Sachen. Ich bin Frau Rendant Grimmel sehr dankbar, daß sie mir diese Mühe abgenommen hat, und ich hoffe, ihr werdet gegen diese brave Frau so dankbar sein, wie sie es verdient. Von unsrer Ältesten erwarte ich, daß sie den Geschwistern mit gutem Beispiel vorangehen wird.«

»Mache dir nur keine Sorge, lieber Papa,« bat Minna. »Wir sind ja so glücklich, daß wir dich wiederhaben.« Sie war voll guter Vorsätze.

Die Droschke hielt. Der Regen hatte aufgehört, und der Wind war nach Norden umgeschlagen; einzelne Schneeflocken wirbelten durch die Luft.

Adele war wieder die erste, die hinaussprang; sie war sehr neugierig, die »Villa« kennen zu lernen.

In der Hausflur stand Frau Rosine und schützte das flackernde Licht mit der Hand. Adele hielt sie für eine Dienerin, guckte sie gar nicht erst an und lief gleich in das erleuchtete Wohnzimmer. Frau Rosine gab Maruschka das Licht und lief hinterher. Mußte sich das reizende Kind nicht freuen, aus Kälte und Nässe und nach einer langen Reise in eine so behaglich warme Stube zu treten, wo schon ein gedeckter Tisch die Gesellschaft erwartete? Frau Rosine wollte sich nach ihrer großen Mühe diese Freude nicht entgehen lassen.

Mit ihren hellen Augen erkannte Adele auf den ersten Blick, daß sie sich in einer niederen, schauderhaft tapezierten, roh gedielten Stube befand, die nichts weniger als geschmackvoll eingerichtet war. Sie wendete sich rasch um, rümpfte ihr Näschen und machte ihre vornehmste Miene; dann sagte sie zu der verblüfften Frau: »Wo befinden sich die Zimmer der Fräulein Uslar?«

»Die Schlafstube ist nebenan,« stotterte Frau Rosine. »Das ist die Wohnstube.«

»In diesem elenden Loche sollen wir wohnen?« schrie Adele und schlug die Hände zusammen. »Was für Vorstellungen haben Sie sich denn von uns gemacht? Es ist ja ganz unmöglich, daß Papa uns zumutet hier zu existieren.« Sie war empört, ganz trostlos; sie warf sich auf einen Stuhl und heulte, heulte wie ein unartiges Kind – nicht wie ein junges Fräulein, das in einer der vornehmsten Anstalten erzogen worden war.

Frau Rosine stand sprachlos. Wenige Augenblicke zuvor war ihr das »elende Loch« wie ein höchst sauberes und behagliches Wohnzimmer erschienen. Und nun fühlte sich dieses geputzte Kind beleidigt, daß es hier wohnen sollte. So also vergalten die »mutterlosen Waisen«, daß sie wochenlang nur für sie gearbeitet und in der Nacht überlegt hatte, wie sie alles aufs billigste und zweckmäßigste einrichten sollte?

Da sprang lustig die kleine Ella herein, warf schnell Hut und Mantel ab und trat an den gedeckten Tisch. »Ach, was für einen herrlichen Kuchen haben Sie uns gebacken, Köchin!« rief sie. »Und auch Warmbier! Ich trinke Warmbier sehr gern.«

»Und dieses Kind hält mich sogar für die Köchin!« dachte Frau Rosine tief gekränkt.

Beladen mit Plaids und Handtaschen trat Minna ein; sie konnte Frau Rosine, die im Schatten stand, nicht sehen, aber diese sah, daß die junge Dame erschreckt stehen blieb. »Ach Gott, hier sollen wir wohnen?« kam's fast unwillkürlich von ihren Lippen. Minna faßte sich aber sogleich, als sie Frau Rosine bemerkte, warf die Plaids auf den Boden und ging mit ausgestreckten Händen und der zuvorkommenden Höflichkeit einer sehr gut erzogenen jungen Dame auf sie zu.

»Frau Rendant Grimmel, nicht wahr? Papa hat uns schon geschrieben, wie gütig Sie sich unser angenommen haben, gnädige Frau. Sie werden heute mit einem flüchtigen Dank vorlieb nehmen müssen. Ich will meinem Bruder jetzt schnell ein Lager bereiten – er ist von der Reise sehr erschöpft.« Sie sprach sehr höflich und doch nicht ohne eine gewisse Herablassung, die von der schlichten, aber feinfühligen Frau empfunden wurde. Ohne die dargebotenen Hände zu ergreifen, glättete sie die faltenreiche, schwarzseidene Schürze, die sie zur Ehre des Tages umgetan hatte, und entgegnete nicht ohne Würde: »Mein Fräulein, ich bin keine gnädige Frau. Wenn ich es wäre, hätte ich mich vielleicht nicht den Arbeiten unterzogen, die ich nur aus Achtung und Teilnahme für Ihren Herrn Vater übernommen habe.«

Herr Uslar, den kranken Knaben im Arm, hatte diese Worte gehört; er sah, wie seine Tochter schuldbewußt und tiefbeschämt vor der beleidigten Frau stand und kein Wort fand, sich zu entschuldigen. Doch des Vaters Eintritt befreite Minna im Augenblick aus der Verlegenheit; schnell nahm sie die Plaids auf und breitete sie über das Sofa, auf das Herr Uslar seinen Sohn legte.

Dann richtete er sich gebietend auf und fragte mit finsterer Miene: »Was ist hier vorgegangen?«

Adele hörte mit Weinen auf, keines der Mädchen wagte zu reden; Frau Rosine aber sprach: »Herr Uslar, Sie haben unrecht getan, daß Sie mir nicht sagten, was für Ansprüche Ihre Töchter machen würden. Ich habe mich nach dem Gelde gerichtet, das Sie mir gaben. Die Wohnung ist für die Töchter eines Verwalters passend, aber nicht für vornehme junge Damen, die jammern und weinen, sowie sie nur in die Stube treten, und mich für Ihre Köchin halten.« Bei diesen Worten verließ Frau Rosine das Zimmer.

Adele starrte ihr mit verweinten Augen verwundert nach, Ella wurde sehr rot, sie hatte ja die Köchin auf dem Gewissen, und Minna blickte angstvoll nach dem Vater, der ganz bleich geworden war. Selbst seine Älteste, auf deren bescheidenen, pflichttreuen Charakter er so große Hoffnung gesetzt hatte, zeigte, kaum über die Schwelle dieses Hauses getreten, wie grenzenlos verwöhnt und anspruchsvoll sie war. Fürwahr, dieser Eintritt verhieß keine glückliche Zukunft.

»Ihr habt eine ehrenwerte Frau schwer beleidigt,« sagte Herr Uslar streng. »Ich erwarte, daß ihr dieses Unrecht morgen gutzumachen versucht. Mehr will ich heute abend nicht sagen; es ist besser, daß wir uns trennen; ihr habt mir das erste Zusammensein verleidet. Gute Nacht.«

»Vater!« rief ihm Minna flehend nach; aber er schlug die Tür hinter sich zu, und sie hörten, daß er, die gegenüberliegende öffnend, in seine Stube eintrat.

.

»Mein Fräulein, ich bin keine gnädige Frau ...«

»Daran ist nur Adele schuld, die wie ein Hofhund geheult hat,« rief Bruno. Seine von ihm so inniggeliebte Schwester Minna sollte keine Schuld treffen.

»Ich bin auch schuld, Bruno,« flüsterte ihm Ella beschämt zu. »Ich habe sie ja für unsre Köchin gehalten. Und nun werden wir alle nichts essen, und mich hungert sehr.«

Minna trat schnell an den gedeckten Tisch; die Kinder sollten unter dem Hochmut der Schwestern nicht leiden. Sie schenkte Warmbier ein und machte Butterbrot zurecht. Adele kam aus dem Schmollwinkel herzu; auch ihr Magen redete jetzt vernehmlich.

»Ich weiß eigentlich nicht, warum Papa so böse ist. Unsre Schuld ist's doch nicht, wenn die Frau Rendant wie eine Köchin aussieht. Und wenn er einer solchen Person die Einrichtung unsrer Wohnung überläßt, kann er sich nicht wundern, wenn wir darüber nicht entzückt sind. – Das Warmbier ist übrigens herrlich, Minna. Komm doch her und trink auch eine Tasse; morgen wird ja Papa wieder gut sein.«

Minna ging trostlos auf und ab. »Ach, ich weiß nicht, was ich drum gäbe, wenn ich mich vom ersten Eindruck nicht hätte hinreißen lassen!«

»Es tut mir ja auch leid, und natürlich werde ich Papa morgen um Verzeihung bitten. Aber, daß wir in solch einer Stube nicht leben können, hätte sich Papa denken sollen.« Und nun begann Adele, so amüsant wie sie sein konnte, über die Vasen mit den künstlichen Blumen und die Ampeln und die Möbel – kurz, über alles, was Frau Rosine ihrem lieben Manne mit so viel Stolz gezeigt hatte, zu spotten.

Minna aber hörte nicht zu; sie war in die daranstoßenden Schlafstuben gegangen, um für die Geschwister das Nachtzeug auszupacken. In der ersten wollte sie mit dem leidenden Bruder, daneben sollten Adele und Ella schlafen.

Als Ella und Bruno schon in ihren Betten lagen, machte sich Adele mit Poltern und Heulen wieder vernehmlich, und als Minna hineinrannte, sah sie die dickgefüllten Deck- und Unterbetten auf den Dielen liegen; obendrauf aber kauerte Adele im Nachthemd und heulte nach Herzenslust.

»Und ihre Tränen fließen, wie 's Bächlein auf der Wiesen,« zitierte Ella ihren guten Freund Struwwelpeter.

»Ach, mir ist's ganz egal, ob ihr mich auslacht!« rief Adele. »Ich bin unglücklich! Unter den Betten muß ich ja ersticken, Minna!«

»Bei dem kalten Wetter wirst du dich eher erkälten,« sagte Minna und ging, weil Bruno sie rief, wieder fort.

Eine kleine Weile hielt's Adele noch aus, dann wurde es ihr doch zu kalt; und auf einer harten Strohmatratze hatte das verwöhnte Prinzeßchen auch keine Lust zu liegen. In ihrer Wut war es ihr zwar gelungen, die schweren Bettstücke hinauszuwerfen, doch sie wieder aufzubetten, besaß sie nicht die Kräfte.

»Dienstmädchen,« rief sie zur Tür hinaus, »kommen Sie einmal herein!«

Maruschka saß noch ganz verwirrt und geängstigt in der Küche. Sie fürchtete sich vor ihrer jungen Herrschaft. Die jungen Fräulein sahen zwar sehr schön aus, aber sie mußten sehr bösartig sein. Mit Schrecken sah sie Frau Rosine bleich und zornig aus der Stube treten und gleich zur Haustür hinausgehen; selbst ihr warmes Tuch hatte sie liegen lassen. Gleich darauf kam auch Herr Uslar bleich und zornig aus der Stube. Wäre es draußen nicht finstere Nacht gewesen – Maruschka wäre davongelaufen. Sie war aber auch ein bißchen neugierig. Die Fräulein trugen so schöne Mäntel und Hüte, wie man sie in Tarnowitz nicht zu sehen bekam; die wollte sie doch gern näher betrachten. Als jetzt aber eine Stimme gebieterisch nach ihr rief, fing sie zu zittern an und wagte sich doch nicht hinein. Der Ruf wurde nicht wiederholt, denn Minna war ihrer Schwester zu Hilfe gekommen. Nachdem Maruschka ängstlich gelauscht hatte und alles in den Stuben still geblieben war, kroch auch sie in ihr Bett und zog die Decke über den Kopf.

Minna aber hatte sich noch nicht zur Ruhe begeben, sie wünschte erst den Vater um Verzeihung zu bitten.

Leise schlich sie auf die kalte Hausflur, aus des Vaters Stube vernahm sie den Tritt eines rastlos umhergehenden Mannes. Sie klopfte. Kein Herein ließ sich vernehmen. »Papa, lieber Papa, erlaubst du mir einzutreten?« Keine Antwort. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen, lange – lange Zeit. Ganz von Kälte erstarrt, trost- und hoffnungslos schlich sie endlich in ihr Bett; sie vergrub den Kopf in das Kissen, um Bruno nicht zu wecken, und brach in Schluchzen aus.

»Warum weinst du denn, liebe Minni?« kam unter dem dicken Federbett Brunos schwache Stimme hervor.

»Ach, sei nicht böse; ich wollte dich nicht wecken.«

»Bist du auch so unglücklich über die neue Heimat?«

»Ach, Bruno, Papa hat mich nicht eingelassen; er will mir nicht vergeben.«

»Morgen wird schon alles gut werden. Ich will mit Papa reden; und ich werde ihm sagen, wie gut du bist.«

»Aber ich bin nicht gut gewesen. Ach, Bruno, ich fürchte mich vor dem Leben in diesem Hause; ich verstehe ja gar nichts vom Wirtschaften, und wir sind alle so verwöhnt.«

»Du wirst deine Sache gut machen, Minni,« sagte Bruno mit Überzeugung. »Aber mit dem Pensionsfräulein wirst du noch deine Not haben. – Ach, ich bin sehr glücklich, daß wir bei Papa sind. Ich habe mich bei der Großtante schrecklich gelangweilt. Du warst immer im Salon oder gingst in Gesellschaft ...«

»Ach, sei mir nicht böse, Bruno.«

»Es war ja nicht deine Schuld, Minni; die andern liebten dich auch und wollten dich haben. Aber ich fand es sehr langweilig. Und nun kannst du nicht mehr fortlaufen, und wir haben nur eine Stube, da bleiben wir alle beisammen. Und Papa wird mir wieder von Maschinen und neuen Erfindungen erzählen; und meine liebe Minni sitzt neben mir.«

»Wir haben nur ein Dienstmädchen; ich kann nicht immer bei dir sitzen, ich muß im Hause helfen.«

»Hoho, ich helfe dir dabei! Ich kann Kartoffeln schälen und – und den Staub abwischen. Ich gehe ja nicht in die Schule, da lacht mich keiner aus. Und auf Ella kannst du auch rechnen; die wird einmal ein praktisches Mädchen.«

»Ja, du hast recht; wenn wir nur wollen, werden wir auch in dem kleinen Hause glücklich sein. Aber nun gute Nacht, mein lieber Junge.«

»Gute Nacht, Minni. Ich freue mich auf morgen.«

»Ist das Glück denn nur in reichen und vornehmen Häusern vorhanden?« dachte Minna. »Muß man denn geputzt sein und in einem eleganten Zimmer wohnen, um zufrieden zu leben? Nein nein, wir werden auch hier glücklich sein, wenn wir uns alle lieben. Und wenn ich's Papa behaglich mache und seinen kranken Jungen pflege, wird er mir auch wieder vergeben.« Voll von Hoffnung für die Zukunft und mit dem Bewußtsein der innigen Liebe, die sie mit Vater und Geschwistern verband, schlief sie endlich ein.


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