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12. Ein interessantes Abenteuer.

Das war ein lustiger Sylvesterabend! Ottel hatte alle Schüchternheit überwunden. Vergeblich machte Frau Rosine Blicke, vergeblich schob sie ihren Fuß so weit vor, bis sie Ottels dickem Stiefel einen Tritt versetzen konnte – nichts störte Ottel in seiner guten Laune.

»Ist man noch nicht ausgegoren,« entschuldigte der Rendant. »Wird aber mit der Zeit und dem guten Beispiel so feiner Damen, die ihn des Umgangs würdigen, noch ein ganz gebildeter junger Mann werden.«

»Als eine Erziehungsanstalt für unsern Ottel habe ich das Uslarsche Haus bis jetzt noch nicht betrachtet,« versetzte Frau Rosine vorwurfsvoll.

Ottel lachte, ohne sich einschüchtern zu lassen, rechts mit Adele, machte Witze nach links mit Ella und trank sogar Brüderschaft und ›ewige Freundschaft‹ mit Bruno, der ihm gegenübersaß.

Es wurde Blei gegossen und es entstanden wunderbare Formen, aus denen man die verschiedensten Dinge herauslesen konnte. Minna wurde danach ein Landwirt prophezeit, weil sie, wie Frau Rosine behauptete, Kraut und Rüben gegossen hatte; der Rendant meinte, es wären Blumen, und der Landwirt wurde zu einem Gärtner; Ottel aber sagte, er sehe deutlich ein Schiff, und sie würde sicher einmal mit einem Kapitän in die weite Welt segeln. Adele erklärte, sie habe ganz unzweifelhaft eine Krone gegossen und werde einmal Königin werden.

»Die Königin jeder Gesellschaft,« bestätigte Ottel mit unerwarteter Galanterie.

»Das läßt sich hören,« meinte Adele herablassend. »Ich glaube, ich werde diese Art von Herrschaft am liebsten ausüben.«

Hier brachte Maruschka eine große Schüssel mit Wasser herein, auf der die verschiedenen Lebensschiffchen – schwache Nußschalen mit Wachslichtchen – umherschwammen. Ein jedes beobachtete mit Aufregung das eigne Schiffchen.

»Ach,« seufzte Bruno und deutete auf seine Nußschale, die sich ein wenig neigte.

In diesem Augenblick erhob sich ein Seesturm, der alle Schiffchen in seinen Wellen begrub.

»O, Fräulein Minna!« sagte Ottel vorwurfsvoll.

»Ich bin's doch nicht gewesen?« meinte Minna und wendete sich ab. »Wenigstens habe ich nicht gemerkt, daß ich an die Schüssel stieß.«

Sie war ans Fenster getreten, ein schmerzliches Gefühl preßte ihr das Herz zusammen. »Ach, es ist dumm!« dachte sie und blickte zu dein klaren Sternenhimmel auf. »Wie kann man auf solche Zufälle etwas geben! Gott wird uns den geliebten Bruno erhalten. Aber es war notwendig, daß ich alle Schiffchen untergehen ließ; ich glaube, Bruno hätte sich gleich traurige Gedanken gemacht, wenn das seine umgeschlagen und das Lichtchen erloschen wäre.«

»Prost Neujahr!« rief Ottel fröhlich, und die Kinder stimmten ein. Die Uhr schlug Mitternacht, und von draußen ertönte Glockengeläut.

Eins nach dem andern kamen die Geschwister und umarmten die geliebte Schwester, und Minna umarmte dann den Vater und drückte den Freunden mit herzlichem Neujahrswunsch die Hände. Es war ihnen allen feierlich zu Mute.

»Was wird uns das Jahr bringen, das in diesem Augenblicke geboren wird?« Diese Frage dachte ein jeder, auszusprechen wagte sie keiner.

»Was für ein herrlicher Sternenhimmel!« sagte Frau Rosine zu Herrn Uslar, der sie beim Abschied bis an die Haustür begleitete. »Morgen wird's ein schöner Neujahrsmorgen werden, aber kalt.«

»Will mir man scheinen, als würde Tauwetter kommen,« meinte der Rendant.

»I, was bildest du dir ein, Grimmel! Tauwetter!«

»Wird sich morgen ja zeigen, wer man recht gehabt hat,« beharrte Grimmel.

Herr Uslar kehrte mit dem unbehaglichen Gefühl zurück, daß er irgend etwas vorgehabt, was ausgeführt werden sollte, ehe Tauwetter einträte; aber was? Ja, das wollte ihm nicht einfallen; es gingen ihm so viele Gedanken durch den Kopf. Er grübelte im Bett noch ein Weilchen, konnte es nicht herausfinden und schlief darüber ein. Als er aber am Neujahrsmorgen aufwachte, da stand das Wort ›Schlittenpartie‹ vor seinem geistigen Auge. Ja, nun wußte er's; er hatte seinen Kindern eine Schlittenpartie versprochen.

»Nun, die muß noch heute ausgeführt werden, ehe das Tauwetter eintritt,« überlegte er.

»Kinder,« sagte er beim Frühstück, »haltet euch nach der Kirche bereit: wir wollen nach Georgenberg fahren.«

Da brach ein stürmischer Jubel los; Ella flog dem Vater gleich um den Hals, und Bruno schwenkte seine Krücke.

Der Himmel sah freilich ganz anders aus, als Frau Rosine prophezeit hatte, und der Rendant behielt recht.

Tief am Himmel hingen schwere graue Wolken, über denen, wie oftmals in Friedrichshütte, ein rötlicher Schimmer lag; der am Tage zuvor noch glitzernde Schnee hatte allen Glanz verloren und sah grau aus. Von Westen her aber kam schon ein mildes Lüftchen wie ein Vorbote des noch so fernen Frühlings.

Der Schlitten war breit, so daß Bruno bequem zwischen dem Vater und der ältesten Schwester sitzen konnte. Minna hatte ihn so eingepackt, daß er behauptete, eher zu ersticken, als zu erfrieren. Adele und Ella saßen mit strahlenden Gesichtchen gegenüber.

Maruschka strahlte nicht minder, denn sie profitierte einen Feiertag. Grimmels riefen den Davonfahrenden noch eine fröhliche Fahrt und glückliche Heimkehr nach; dann war der Schlitten zum Tor hinaus und flog auf der ebenen Landstraße dahin.

Die Freude der Kinder an dem langentbehrten Vergnügen war sehr groß. Herr Uslar beglückwünschte sich selbst, daß er sein Versprechen nicht vergessen hatte. Am meisten freute ihn sein Bruno, dessen bleiche Wangen sich röteten und dessen Augen strahlten; nichts entging des Knaben Aufmerksamkeit, und er fragte mehr, als sein Vater, dem die Gegend noch fremd war, zu beantworten vermochte.

Es war schon ziemlich spät, als sie am Kretscham in Georgenberg vorfuhren.

»Wenn die Herrschaften ein Mittagsmahl wünschen, werden Sie sich gedulden müssen, denn die Essenszeit ist schon vorüber,« erklärte der Wirt.

Minna sagte, daß sie gern mit einem ganz einfachen Mahl vorlieb nehmen würden, daß ihnen aber ein Kaffee nicht genüge, da sie nach der langen Fahrt einen rechtschaffenen Hunger verspürten.

Der Wirt führte sie in sein Wohnzimmer, weil die Gaststube schon mit etwas lärmenden und rauchenden Gästen angefüllt war. Hier stand ein kleiner, alter Klimperkasten, an dem sich die Mädchen mit Spielen und Singen vergnügten, bis das Mittagsmahl aufgetragen wurde. Adele rümpfte freilich ein wenig ihr Näschen über das nicht mehr ganz saubere Tischtuch und über die Teller mit Lücken, sie polierte auch sorgfältig Messer, Gabel und Löffel, ehe sie sie gebrauchte.

»Hier am Ende der Welt, entfernt von gebildeten Leuten,« zitierte Herr Uslar einen spottend entstellten Vers von Goethe, »darfst du nicht zu wählerisch sein, mein liebes Kind.« Darauf erzählte er von dem Besuche Goethes in Tarnowitz am 4. September 1790, wo sich der Dichter, nachdem er die Hüttenanlagen besichtigt hatte, in das Stammbuch der Knappschaften mit folgenden Versen einschrieb, über die sich die Tarnowitzer nicht freuten, denn es ist niemand angenehm, zu ungebildeten Leuten gezählt zu werden:

» Fern von gebildeten Leuten, am Ende des Reiches, wer hilft euch
Schätze finden und sie glücklich bringen ans Licht?
Nur Verstand und Redlichkeit helfen; es führen die beiden
Schlüssel zu jeglichem Schatz, welchen die Erde verwahrt.«

War das Mahl auch nicht fein angerichtet, so schmeckte es doch allen gut, denn Hunger ist der beste Koch. Nun aber war es auch Zeit, an den Heimweg zu denken. Dem Kutscher wurde befohlen anzuspannen, und die Familie trat hinaus auf die Straße, wo sie dann bald der Mittelpunkt einer neugierigen Jugend wurde.

Das Wetter war nicht mehr so angenehm, wie wenig Stunden zuvor, und da ihnen der aus Südwest herstürmende Wind entgegenblies, wurde Bruno jetzt auf dem Rücksitz, zwischen den jüngeren Schwestern, untergebracht.

Der Wind schwoll zu einem Sturm an und schleuderte ihnen kalte Tropfen ins Gesicht. Bald aber stürzte gar Regenschauer auf Regenschauer aus vorüberjagenden Wolken auf die armen Schlittenfahrer herunter.

Herr Uslar war an diesem Tage einmal ausnahmsweise redselig gewesen, jetzt wurde er aber einsilbig und bereute es, die Fahrt nicht einige Tage früher unternommen zu haben. Auch die Kinder waren stiller geworden. Nun war es Minna allein, die allerhand zu schwatzen versuchte, damit keine Verstimmung aufkäme.

Immer ärger wurde das Brausen des Sturmes, und der kalte Regen belästigte trotz aller Plaids und Decken; zugleich machte er den noch gefrorenen Boden so glatt, daß die Pferde ausglitten und deshalb langsamer liefen, der Schlitten aber schleuderte oftmals. Ella und Adele schrieen dann jedesmal laut auf, doch mehr aus Vergnügen als aus Schreck. Bruno wünschte sich tapfer zu zeigen, deshalb schrie er nicht, und doch erschrak er viel mehr als die Mädchen, denn er war nervenkrank. Mit Sorge beobachtete Minna sein Zusammenfahren und seine erschreckten Augen, während er doch zu lächeln versuchte.

»Jetzt werden wir gewiß bald die Friedrichshütter Illumination sehen,« tröstete Minna.

Aber noch immer zeigte sich das wirbelnde Funkengestiebe nicht, das zugleich mit den Rauchwolken aus den hohen Dampfessen aufsteigt und das Minna eine Illumination nannte; Friedrichshütte mußte also noch weit entfernt sein, und doch begann es schon stark zu dämmern.

Trotz Minnas Anstrengung wurde die Stimmung der kleinen Gesellschaft gedrückt; die Unterhaltung, durch das Toben des Wetters sehr erschwert, hatte ganz aufgehört, und Minna überlegte, daß sie ›ihre Kinder‹ gleich in die Betten stecken und ihnen heiße Milch geben wolle, um jeder Erkältung vorzubeugen.

Da auf einmal ein furchtbarer Krach – ein Ruck, und als sich Minna wieder zu besinnen vermochte, saß sie nicht mehr neben ihrem Papa im Schlitten, sondern ganz oben auf einem Schneehaufen. Mit dem Bewußtsein kam natürlich auch ein großer Schreck und die Sorge um die übrige Gesellschaft über sie.

Sie sprang auf und rief nach dem Vater und den Kindern. Aus dem Chausseegraben stieg die lange Gestalt Herrn Uslars herauf, zugleich schien in umherliegende Kleiderbündel Leben zu kommen, und allmählich krochen unter den Plaids Adele und Ella hervor; Bruno lag zwar fest eingewickelt und auch unbeschädigt in dem tauenden Schnee, aber er vermochte nicht, sich selbst aufzuhelfen.

Fluchend humpelte der Kutscher herbei, und es war nur ein Glück, daß die Pferde stillstanden.

Nach dem ersten Schreck war die Freude groß, daß bei dem gewaltsamen Herausschleudern niemand Schaden genommen hatte; trotzdem zeigte sich erst jetzt, wie unangenehm ihre Lage war, denn als der Kutscher mit Herrn Uslars Hilfe den Schlitten aufstellte, sah man die eine Schlittenkufe vollständig zersplittert, so daß es geradezu unmöglich war, die Heimfahrt fortzusetzen.

Da war guter Rat teuer, denn man mochte noch eine kleine Wegstunde von Friedrichshütte entfernt sein. Herr Uslar würde sich wohl getraut haben, diese mit seinen Töchtern zu Fuß zurückzulegen, was aber sollte er mit seinem lahmen Knaben anfangen?

Aus dem Kutscher war nicht viel herauszubekommen: er fluchte polnisch auf Wetter, Schlitten und Pferde, tröstete sich mit seiner Schnapsflasche und erklärte, daß in der Nähe kein Gehöft wäre, in dem man einstweilen Unterkunft finden könnte. Soweit man zu sehen vermochte, zeigte sich auch nirgends ein Lichtschimmer, nur Wald und Heide im Schnee begraben, über den Wolkenschatten huschten und der Sturm raste.

»Dann müssen Sie so schnell wie möglich nach Friedrichshütte reiten und uns einen Wagen herausbringen,« befahl Herr Uslar; der Kutscher spannte die Pferde ab und ritt in sehr übler Laune davon.

Selbst im günstigsten Falle mußte die Gesellschaft zwei Stunden in Sturm und Regen aushalten.

Minna packte ihre Kinder in dem Schlitten ein, so gut es eben ging; so waren sie doch vor der Nässe des Bodens geschützt. Sie selbst blieb draußen neben dem Vater. Dieser war in einer ganz verzweifelten Stimmung und machte sich die bittersten Vorwürfe, bei diesem Wetterumschlag die Schlittenpartie gewagt zu haben. Minna verriet ihm nicht, wie sehr sie sich selbst sorgte, sondern suchte alle möglichen Trostgründe hervor.

»Es ist doch wirklich ein Wunder, daß wir so ohne jeden Schaden davongekommen sind,« sagte sie. »Ich glaube, es muß komisch ausgesehen haben: gerade als ob sechs Äpfel aus einer Mütze mit einem Ruck hinausgeschleudert würden. – Ach, wie werden wir uns heute behaglich fühlen, wenn wir erst nach Hause kommen! Maruschka wird's schön warm gemacht haben, und die Lampen werden brennen, und das Abendbrot steht gewiß angerichtet auf dem Tische. Und dann lege ich meine Kinder alle schnell in die Betten und sie trinken heißen Tee, und so kommen sie über die Erkältung weg; du brauchst dich wirklich nicht zu sorgen, Papa. Jetzt läßt auch der Regen nach. Das ist doch sehr angenehm; nun werden wir ganz gemütlich im Schlitten beieinander sitzen und uns auf unser Daheim freuen.«

Da auf einmal vernahm sie Hundegebell, und es dauerte nicht lange, so kam in mächtigen Sätzen ein großer Hühnerhund herbei, blieb vor der Gesellschaft einen Augenblick stehen, wie vor einem Wild, und – fort war er.

»Sein Herr ist in der Nähe, und er wird ihm melden, daß ihm etwas Ungewohntes begegnet ist,« meinte Herr Uslar, und alle faßten neuen Mut.

Es dauerte auch nicht lange, so kam der Hund wieder angesprungen, und aus trübem Nebel traten zugleich zwei Gestalten hervor, die mit großen Schritten näher eilten.

Es schienen Jäger zu sein; beide trugen Flinten, und der eine auch Jagdbeute, einen Hasen und einige wilde Enten.

»Ist hier ein Unglück geschehen?« rief der vorderste, eine ungewöhnlich lange, hagere Gestalt mit einem tiefen klangvollen Organ.

»Ein Unglück ist, Gott sei Dank, nicht geschehen,« entgegnete Herr Uslar. »Trotzdem befinden wir uns in einer Übeln Lage; der Schlitten ist beim Umwerfen so zerbrochen, daß wir hier warten müssen, bis der Kutscher mit einem Wagen zurückkehrt.«

»Aber, mein Herr,« rief der Fremde, »in diesem abscheulichen Wetter können Sie mit Ihren Kindern doch unmöglich ein paar Stunden im Freien bleiben?«

»Der Kutscher wußte kein Haus in der Nähe, das uns aufnehmen könnte, und mein armer Knabe ist leider nicht imstande, weit zu gehen.«

»Wenn ich nicht irre,« sagte der Fremde mit einer seltsamen Bewegung in der Stimme und verbeugte sich, »habe ich die Ehre, mit Herrn Uslar zu reden?«

Herr Uslar verbeugte sich zustimmend.

»Erlauben Sie mir, daß auch ich mich Ihnen vorstelle, mein Name ist Neitung. Darf ich bitten, daß Sie in meinem Hause einstweilen Zuflucht suchen gegen die Unbill dieses entsetzlichen Wetters?«

Die Kinder horchten auf. Ein Schauder überlief sie; der Mann, der mit ihnen sprach und eine Zuflucht anbot, war der Vatermörder!

Bruno und Ella würden trotz Sturm und Regen lieber im Freien geblieben sein, denn in ihrer lebhaften Phantasie erschien ihnen das Schloß des Barons wie eine Mörderhöhle. Bei Minna und Adele aber regte sich die Neugierde doch noch stärker als das Grauen, und sie fingen an, das bis dahin so unangenehme Abenteuer interessant zu finden.

»Sie sind sehr gütig, Herr Baron,« hörten sie jetzt den Vater sagen, »aber ich weiß nicht, ob Ihr Haus so nahe liegt, daß es mein Bruno erreichen kann.«

Bruno hätte schreien mögen: »Ich will nicht in das Mörderhaus,« und er mußte die Zähne zusammenbeißen, damit er sich durch keinen Laut verriete.

»Von Gehen ist gar nicht die Rede,« entgegnete der Baron lebhafter, als er bis dahin gesprochen hatte. »Mit Ihrer Erlaubnis trage ich den Knaben durch den Park; in einer Viertelstunde sind wir im Schlosse zu Doszek.«

Bei diesen Worten entledigte er sich schnell seines Gewehrs, das er dem Diener übergab, trat an den Schlitten und beugte sich zu Bruno nieder.

Aber wie von einer Natter gebissen fuhr er wieder auf. Bruno hatte eine ganz schwache, aber zurückweichende Bewegung gemacht, während seine Augen in wortlosem Schrecken dem jungen Manne entgegenstarrten.

Minna stand zwar daneben, konnte jedoch des Knaben abwehrende Bewegung nicht sehen; sie sah aber, wie es über das Gesicht des sich aufrichtenden Mannes zuckte, als empfände er einen heftigen Schmerz.

»Philipp,« sagte er mit heiserer Stimme, »gib mir die Gewehre und das Wild und trage den Knaben.«

Im Augenblick verstand Minna, was Bruno getan hatte, und wie furchtbar der unglückliche Mann leiden mußte, dem ein Kind, dessen er sich annehmen wollte, einen so unüberwindlichen Abscheu bewies. Sie fühlte auf einmal ein grenzenloses Mitleid mit dem Unglücklichen. »Doch, wenn das Gerücht wahr ist, hat er es ja nicht besser verdient,« dachte sie; aber sie konnte trotzdem Brunos Benehmen nicht billigen und zürnte dem Knaben. Als sie ihn jedoch auf dem Arme des kräftigen Dieners so hilflos hängen sah, als er seine zitternde Hand wie flehend nach der ihren ausstreckte, fühlte sie wieder mit dem armen Kinde; denn Bruno empfand vor allem Bösen eine so starke Scheu, daß er sie nicht zu unterdrücken vermochte.

Die Gesellschaft, die hier gleichsam Schiffbruch gelitten hatte, setzte sich nun in Bewegung.

Der Baron bemächtigte sich, obwohl er schon zwei Flinten und das Wild trug, auch noch fast aller Plaids und duldete nicht, daß sich Minna damit beschwerte.

»Sie werden den Weg mühselig genug finden, gnädiges Fräulein,« sagte er mit einer noch immer belegten Stimme. »Wir müssen auf ungebahnten Wegen durch fußhohen Schnee waten, oder einen Umweg von einer halben Stunde machen. Ich bitte, folgen Sie mir und treten Sie in meine Fußspuren, das wird das Gehen erleichtern. Veranlassen Sie Ihre Schwestern, Ihnen ebenso zu folgen.« Dann wandte er sich zu Herrn Uslar und sagte ihm, daß er sofort ein paar Leute hinausschicken würde, die den zerbrochenen Schlitten in das Schloß schaffen und dem zurückkehrenden Kutscher das Fortgehen der Familie erklären sollten.

In dieser Weise nun, eins hinter dem andern schreitend, gingen sie langsam, gegen den Sturm ankämpfend, durch den nassen Schnee, in dem sie oftmals bis an die Knie versanken. Gesprochen wurde nicht, eine Unterhaltung wäre auch ganz unmöglich gewesen. Minna dachte mit steigender Sorge an die Folgen dieser Partie für ihre Geschwister, und Herr Uslar war über den traurigen Ausgang einer so fröhlich angetretenen Fahrt ganz niedergeschmettert.

Auf einmal stockte der Zug. Minna schaute auf und sah, daß sie sich dicht vor einer Mauer befanden, die sich nach beiden Seiten auszudehnen schien. Es war indes ganz dunkel geworden Und nur der Schnee leuchtete in einem schattenhaften Schimmer.

Der Baron öffnete ein etwas verrostetes Schloß und ließ dann die Gesellschaft vorübergehen. Sobald alle in den Park getreten waren und er die Tür geschlossen hatte, eilte er wieder an die Spitze des Zugs, dessen Schluß Herr Uslar bildete.

»Gnädiges Fräulein,« sagte der Baron, als er bei Minna vorüberkam, »halten Sie sich dicht hinter mir, es ist im Park noch dunkler als draußen; Sie könnten leicht an einen Baum anstoßen. Bitte, sagen Sie auch Ihren Schwestern, daß sie recht vorsichtig sein möchten.«

.

Sie gingen langsam durch den nassen Schnee ...

Es war Minna jetzt, als vernähme sie ein leises Weinen. Ella hatte lange dagegen gekämpft; aber vollständig durchnäßt, durchfroren und übermüdet, war sie nicht mehr imstande, die Tränen zurückzuhalten. Sogleich war Minna an ihrer Seite.

»Gib mir deinen Arm, mein Liebling, ich führe dich,« sprach sie zärtlich. »Du bist gewiß recht müde; aber wir sind ja schon im Park; nun wird's nicht mehr lange dauern.«

Ella fühlte sich durch die ermunternden Worte offenbar sehr getröstet und ermutigt; tapfer versuchte sie den Spuren zu folgen, während Minna im tiefen Schnee ging. Aber auch Adele schmiegte sich an ihre andre Seite.

Baron Neitung war, während Minna mit Ella redete, einen Augenblick stehen geblieben. Es schien, daß er mit einem Entschlusse kämpfte. Er murmelte etwas, das wie ein Anerbieten klang, Ella auf seinen Arm zu nehmen; aber er besann sich anders, wandte sich wieder ab, seufzte tief und schritt dann energisch weiter.

Der Park mußte eine sehr große Ausdehnung haben, er wollte gar kein Ende nehmen. Wenn sich die hohen, laublosen Bäume neben den Vorübergehenden bogen, sah es aus, als wollten sie mit langen, schwarzen Geisterarmen nach den geängstigten Kindern greifen. Dazu ächzte und knarrte es in den Ästen, abgerissene Zweige flogen um sie her, und über ihnen pfiff und heulte der Sturm, als ob das wilde Heer in den Lüften vorübersauste. Plötzlich stand vor ihnen eine hohe, dunkle Wand. Ella klammerte sich ängstlicher an Minna, Adele zuckte zusammen. »Da haben wir gewiß das Schloß schon erreicht,« sagte Minna und versuchte mutig zu reden; aber auch ihrer hatte sich das Grauen bemächtigt, und das große Gebäude, das wie eine dunkle Masse vor ihnen lag, erschien ihr wie eine geheimnisvolle Stätte des Verbrechens. Auch nicht aus einem Fenster begrüßte die Ankommenden ein freundlicher Lichtstrahl; alles war finster und schwarz und in düsteres Schweigen gehüllt.

Baron Neitung wendete sich zurück. »Darf ich bitten, daß Sie mir nach rechts folgen? Wir bewohnen das Schloß nach der Hofseite.«

Es kam den Kindern vor, als habe das Gebäude einen unermeßlichen Umfang, als könnten sie niemals mehr bewohnte Räume und erleuchtete Zimmer erreichen. Und doch dauerte es nur Augenblicke – Minuten wären eine zu lange Zeit – als sie schon von lautem, freudigem Hundegebell begrüßt wurden. Der Hühnerhund, der voraustrottete, erwiderte es mit Kläffen. Zugleich wurde ein großes Gittertor aufgerissen, einige Hunde sprangen heraus und begrüßten ihren Herrn sehr stürmisch; auch Leute kamen herzugelaufen, die ihm die Flinten und Plaids abnahmen, während er ihnen leise einige Befehle erteilte.

Aus mehreren Fenstern fiel ein heller Schein in den Hof, aber am hellsten strahlte das Licht aus der geöffneten Eingangshalle, die sie jetzt betraten.

Scheu blickten sich die Kinder in dem weiten Raume um, der durch eine mächtige Ampel, die an einer eisernen Kette von der hohen Decke herabhing, erhellt wurde. Zwei Treppen mit antikem, eisernem, reich vergoldetem Geländer und mit Teppichen belegt, führten beide auf einen Absatz, von dem dann eine Treppe in das erste Stockwerk leitete.

Hier kam ihnen eine behäbige, dicke Frau entgegen.

»Stabele,« redete Baron Neitung die Wirtschafterin an, »Sie werden so gut sein, die jungen Damen mit trockenen Kleidern zu versehen. – Sie, Herr Uslar, bitte ich, mir mit Ihrem Sohne nach meinen Zimmern zu folgen. Meine Garderobe und mein Diener stehen zu Ihrer Verfügung.«

Stabele knickste und versprach, alles, was in ihren Kräften stünde, für die jungen Damen zu tun.

Darauf führte sie, mit dem Lichte voranschreitend, die durchkälteten Mädchen über einen langen Korridor. Im Vorübergehen zuckte der Lichtschein über alte dunkle Ölgemälde; die meisten davon waren Bildnisse früherer Besitzer des Schlosses.

»Hu, wie schauerlich!« flüsterte Adele. »Aber interessant ist's doch, daß wir in das Schloß gekommen sind. Karlings werden uns beneiden.«

»Darf ich bitten, daß die Damen eintreten?« sagte Stabele und ließ sie in das Zimmer vorangehen. Es war ein geräumiges Gemach, rings an den Wänden befanden sich große, schwarzlackierte Schränke, mit einem Wappen über der Tür. In der Mitte an einem Tische saßen zwei Dienstmädchen, mit Näharbeit beschäftigt.

Jetzt erst in der hellen Beleuchtung erkannte Stabele den Zustand der ihr anvertrauten jungen Damen.

»Du mein Himmel – Sie sehen ja aus, als hätten Sie eine Woche im Schneewasser gelegen!« rief sie. »Schnell, Marie – Sophie – bleibt nicht stehen und guckt die jungen Damen mit aufgerissenen Augen an; helft ihnen die nassen Kleider ablegen. Ich will indes trockene Sachen hervorsuchen.« Stabele war offenbar eine Person, die das Sprechen liebte und die Gelegenheit, die sich bot, zu benutzen verstand. Sie öffnete einen der Schränke, und während sie mehr und mehr Röcke herauslangte, fuhr sie fort, zu fragen und zu reden. Der Unfall wurde von Minna mit wenig Worten berichtet, und Stabele knüpfte eine gute Lehre daran: »Es hat alles seinen Zweck und seine Ursache, das behaupte ich. Jetzt ängstigte sich unsre gnädige Frau halb zu Tode, weil der Herr Baron nicht von der Jagd zurückkam; aber es hatte seinen Zweck, wie sich's gezeigt hat: er konnte diesen jungen Damen in ihrer Not helfen. Und darum sage ich, man soll niemals verzweifeln, sondern auf den lieben Gott vertrauen ... Aber, Sophie, sieh doch nur, wie rot die Füßchen des kleinen Fräuleins sind; mußt sie tüchtig reiben, damit wieder Wärme hineinkommt.«

»Ich fürchte mich gar nicht mehr,« flüsterte Ella Minna zu.

»Ich wollte, wir hätten unsern Bruno hier, dann würde er sich auch nicht länger fürchten,« dachte Minna und zog sich einen dicken rotwollenen Rock über, in dem noch zwei andre Minnas Platz gehabt hätten, denn Stabele war eine korpulente Person. Sie machte auch durchaus keinen unheimlichen Eindruck, im Gegenteil einen behaglichen und respektabeln; dazu das helle, warme Zimmer und die sauberen Dienstmädchen. Das Grauen, das sie nach dem schlimmen Gerücht vor dem Baron empfanden, und das ihnen auch das düstere Gebäude eingeflößt hatte, verlor sich allmählich. Adele fand das Abenteuer ›pikant‹ und war herablassend höflich gegen Marie, die sich erbot, auch ihr die Füße zu reiben.

Mit vielen Entschuldigungen, daß sie es wage, einzudringen, erschien ein kleines, zartes, nicht mehr junges Fräulein, die Gesellschafterin der Baronin Neitung, eine entfernte Verwandte. Ihre Miene war äußerst freundlich, auch ein wenig schwärmerisch. Dieser Ausdruck wurde durch lange, dünne Locken noch verstärkt; der Anzug, durch Schleifen, klappernde Armbänder und Ohrringe verziert, war mehr geputzt als elegant.

»Um Gottes willen, Stabele, Sie werden den jungen Damen doch nicht Ihre weiten, dicken Röcke aufhängen wollen?« rief das Fräulein entsetzt.

»Nun, denn nicht,« brummte Stabele beleidigt und fing an, ihre verschmähte Garderobe wieder in den Schrank zu hängen.

»Ich bitte, machen Sie mit uns keine Umstände,« bat Minna. »Wir sind für trockene Sachen sehr dankbar; wir waren ganz durchkältet, und ich war für meine Schwestern schon sehr in Sorge; Frau Stabele hat sehr gut für uns gesorgt.«

»Es gibt aber Menschen, die alles besser wissen wollen,« brummte Stabele.

»Wenn wir nur hier in der warmen Stube bleiben dürfen, bis der Kutscher mit einem Wagen zurückkehrt, sind wir Ihnen sehr dankbar,« sagte Minna, obgleich Adelens Miene zeigte, daß sie damit nicht einverstanden wäre.

»Was denken sie von uns, Fräulein Uslar!« rief das kleine Fräulein lebhaft. »Meine Tante ist im Gegenteil sehr glücklich, daß Sie der Zufall in unser Haus geführt hat. Ihr Mißgeschick betrachten wir vereinsamten Menschen als eine Gunst des Schicksals. – Aber jetzt müssen wir vor allen Dingen an ihre Toilette denken. – Für das jüngste Fräulein soll Sophie von des Kutschers kleiner Kascha das Sonntagsröckchen holen, und Sie folgen mir in mein Zimmer; meine ganze Garderobe steht zu Ihrer Verfügung.«

»Ist aber für die Damen viel zu kurz,« brummte Stabele gereizt.

»Man muß sich eben behelfen. Länger können wir die Kleider freilich nicht so schnell machen.«

»Na ja, das ist das Gescheiteste,« sagte Stabele, der Sophie etwas ins Ohr geflüstert hatte, und erklärte dann: »Slabitzkis große Mädel haben zu Weihnachten neue Anzüge bekommen; die will sie holen. Ich denke, die werden den Fräulein besser passen als zu kurze und zu enge Damenkleider.«

Adele fand den Vorschlag entzückend.

»Doch es sind ja ganz grobe Stoffe,« klagte Fräulein Kamilla. »Sie werden wie Bauernmädchen aussehen.«

»Aber das ist ja gerade amüsant!« rief Adele.

So wurde Sophie fortgeschickt.

»Ach, Sie glauben nicht, Fräulein Uslar,« meinte Fräulein Kamilla, »wie einsam wir leben und wie schrecklich wir uns langweilen. Aber, Gott sei Dank, das neue Jahr fängt ja recht unterhaltend an.«

Nachdem Sophie mit dem Sonntagsstaat der Kutscherstöchter wiedergekehrt war, wurde das Anziehen schnell beendet und die beiden reizenden Bäuerinnen nebst Fräulein Kamilla und Ella begaben sich nach dem Salon.

Mit dem netten Bauernanzuge war Adelens übermütige Laune wieder aufgewacht. Sofort nahm ihr Wesen das einer niedlichen, aufgeweckten Bauerndirne an; nicht wie man diese auf dem Dorfe, sondern wie man sie auf dem Theater sieht. Auch Ella machte in Erwartung einer guten Mahlzeit wieder muntere Augen, denn sie war nach all den Anstrengungen und der Angst sehr hungrig geworden. Nur Minna fühlte sich nicht frei; sie hatte zu deutlich gesehen, wie tief Bruno den Herrn des Hauses verletzt hatte.

Ein Diener schob die schweren Falten der Portiere zurück, und sie betraten den Salon. Es war ein ungewöhnlich großer und hoher Raum, mit schwerfälliger und altmodischer, doch reicher Einrichtung. Andre junge Mädchen würde diese Pracht vielleicht gedrückt und beängstigt haben; diese Befangenheit lag Uslars fern, im Gegenteil fühlten sie sich in so eleganten, weiten und hohen Räumen heimischer als in einer niedrigen Stube mit Kirschbaummöbeln.

Die Baronin Neitung, eine vornehme Erscheinung, mit Zügen, in die der Kummer tiefe Spuren gegraben hatte, saß neben Herrn Uslar an einem hellflackernden Kaminfeuer, dessen Glut ein japanischer Ofenschirm dämpfte. Ihr gegenüber auf einer Chaiselongue lag Bruno, warm in eine Decke gehüllt. Wie ein erschreckter Vogel blickte er scheu nach dem jungen Baron, der etwas seitwärts stand. Hier in der reichen Umgebung und in feinem Gesellschaftsanzug fiel noch mehr als im Freien und im tobenden Unwetter der tiefe, schwermütige Ernst seiner Züge auf; seine Augen sahen so düster aus, als hätten sie niemals gelacht, ein feiner, langer Schnurrbart verdeckte das nervöse Zucken seiner Lippen, seine Farbe war ungewöhnlich bleich.

Mit herzgewinnender Freundlichkeit begrüßte die Baronin die eintretenden Mädchen und versicherte sie, wie Fräulein Kamilla, daß so liebe Gäste sehr willkommen auf ihrem einsamen Landsitze wären.

»Sie sind zu gütig, gnädige Frau,« entgegnete Minna mit der Ruhe und Sicherheit, die sie sich im gesellschaftlichen Leben angeeignet hatte, »wir bringen, dächte ich, alle mögliche Unruhe mit, und Sie sind nur so freundlich, diese auch noch als ein besonderes Vergnügen darzustellen.«

»Diesmal haben Sie aufrichtig gemeinte Worte ganz fälschlich für eine leere Höflichkeit genommen, gnädiges Fräulein,« sagte Baron Rettung, indem er näher trat.

»Eigentlich passen wir als Landmädchen gar nicht in diese Zimmer,« versetzte Adele mit einem Knicks.

»Was für ein reizendes Kind!« rief die Baronin und umarmte Adele. »Haben Sie uns den Schneeball in den Wagen geworfen?«

»Nein, das war ich,« erklärte Ella; »aber ich hab's wirklich nicht mit Willen getan, gnädige Frau.«

Darauf wurde auch Ella umarmt und vielleicht wäre auch Minna darangekommen, aber der Diener meldete, daß angerichtet sei. Die Baronin nahm Herrn Uslars Arm, der junge Mann aber verneigte sich nur vor Minna und schritt neben ihr her, ohne ihr seinen Arm anzubieten.

»Bruno muß ihn sehr tief gekränkt haben,« dachte Minna, »wahrscheinlich fürchtet er, auch ich könnte bei seiner Berührung zurückfahren.«

Bruno hatte seine Erregung so wenig bemeistert, daß er die vorzüglichen Speisen kaum berührte; Ella dagegen ließ es sich vortrefflich schmecken.

Die Baronin war gesprächig wie jemand, der die Gelegenheit zur Unterhaltung ausnützen will. Sie schien eine sehr unterrichtete Dame, die für alles Interesse zeigte, und Herr Uslar konnte viel und interessant erzählen.

Um so schweigsamer verhielt sich Minnas Nachbar. Bei einem so kleinen Kreise konnten sich freilich nicht alle Personen zugleich unterhalten, und so fiel der jüngeren Gesellschaft das Zuhören zu.

Nachdem das Mahl beendet war, begab man sich wieder in den Salon, und die Baronin fragte, ob die jungen Damen musikalisch wären.

.

Mit herzgewinnender Freundlichkeit begrüßte die Baronin die eintretenden Mädchen ...

»Wenn Sie vorlieb nehmen wollen, gnädige Frau,« entgegnete Minna ohne alle Ziererei. »Aber ich bin ganz aus der Übung.« Sie trat an den schönen Blüthnerschen Flügel, den der Baron sogleich aufschlug.

»Darf ich Ihnen unsre Noten zur Auswahl vorlegen, oder spielen Sie auswendig, Fräulein Uslar?«

»Also Sie besitzen Noten zur Auswahl? Dann sind Sie wohl selbst musikalisch, Herr Baron?«

»Ach,« entgegnete er, »ich bin ein Stümper und habe meine Violine nur in der tödlichen Einsamkeit unsers hiesigen Aufenthalts hervorgesucht. Meine Cousine ist geduldig genug, mich dabei zu begleiten.«

»Egon spielt gar nicht so übel,« versetzte das kleine Fräulein. »Aber er stellt zu große Anforderungen, man kann von heute auf morgen kein Paganini werden.«

»Wollen wir etwas zusammen spielen, Baron?«

Ein flüchtiges Rot huschte über seine bleichen Züge. »Sie sind zu gütig; vielleicht ein andermal. Ich möchte meine Mutter nicht der Freude berauben, sich an Ihrem Spiele zu erfreuen, Fräulein Uslar.«

»Also ein andermal,« sagte Minna, und nach einigen einleitenden Akkorden spielte sie ein Notturno von Chopin. Minnas Vergnügen, wieder einmal auf einem so guten Instrument spielen zu können, war ebenso groß als das ihrer Zuhörer, die von dem wahrhaft künstlerischen Spiele ganz entzückt waren.

Sobald aber der letzte Ton verklungen war, stand Minna schnell auf. Sie hatte bemerkt, daß Bruno eingeschlafen war.

»Ich glaube, es ist sehr spät, Papa,« sagte sie. »Der Kutscher ist gewiß auch schon zurück mit dem Wagen. Unser lieber Bruno bedarf der Ruhe.«

»Der Kutscher, gnädiges Fräulein,« sagte Baron Neitung, »kam früher, als Sie ihn erwarteten, aber er brachte vom nächsten Dorfe nur einen Leiterwagen, mit dem ich ihn gleich wieder fortschickte; Sie werden gestatten, daß meine Pferde sie nach Hause fahren.«

»Ach, warum wollen Sie nicht die Nacht über bei uns bleiben?« bat die Baronin. »Sehen Sie nur das große Schloß, wir können jedem Gaste ein Schlafzimmer anbieten; Umstände macht Ihr Bleiben nicht, Sie würden nur unsre Freude vergrößern.«

Und als Herr Uslar dankend ablehnte, bat sie dringend: »Versprechen Sie mir, daß Sie mir wenigstens die Freude machen und mich mit Ihren lieben Kindern ein andermal besuchen wollen.«

»Mama, du bist zu egoistisch,« warnte der Baron. »Wir haben den jungen Damen gar nichts zu bieten.«

Hier trat Ella an ihn heran. »Ich habe Sie gleich erkannt. Wissen Sie?« – und sie rief mit tiefer Stimme: »Julklapp.« Dann machte sie die Pantomime des Werfens. »Die Schneeball-Bonbons haben mir auch sehr gut geschmeckt.«

»Also doch erkannt?« rief der Baron, und einen Augenblick war's, als würde von seinem Antlitz ein Vorhang weggezogen: seine Augen leuchteten freundlich, und er lachte laut. Dann, wie erschrocken über seine eigne Stimme, verließ er schnell den Salon, um den Wagen zu bestellen.

»O, Kamilla – hast du's gehört? Egon hat gelacht!« rief die Baronin, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten. »Das erste Mal gelacht, seit dem furchtbaren Schlag! – Ach, komm her, mein süßes, kleines Mädchen; ich muß dich küssen. Du ahnst nicht, was für eine Wohltat du mir in diesem Augenblick erwiesen hast. Ich habe gefürchtet, ich würde ihn nie wieder lachen hören.« – Dann wandte sie sich zu Herrn Uslar: »Ich fühle, daß auch Sie viel Kummer erlebt haben, aber wie Schweres mir der Himmel zu tragen auferlegt hat, das können Sie nicht ahnen. Was habe ich seit dem furchtbaren Schlage alles versucht, um Egons beängstigende Schwermut zu zerstreuen! Fast ein ganzes Jahr waren wir auf Reisen, aber er versank mehr und mehr in Melancholie. Endlich verlangte er hierher. Das Gut war uns durch den Tod eines ziemlich entfernten Verwandten zugefallen. Ich wußte nicht, wie entsetzlich öde und einsam das Haus wäre. Vielleicht tut's ihm gut, dachte ich, und wir reisten hierher. Aber die dunkeln Schatten der Vergangenheit haben sich auch über dieses Haus gelagert. Ach, diese Räume sind nicht geeignet, daß ein trauriges Herz darin genese. Ich grübelte immer, wie ich Egon unterhalten könnte. Aber eine Mutter hat so wenig Hilfsmittel. Ich habe sogar meine Harfe hervorgeholt.« – Adele warf Minna einen Blick zu. – »Ich erntete in meiner Jugend viel Lob mit meinem Spiele, aber ich ließ es schon wieder einschlummern; Egon interessiert sich nicht dafür. Und da er sich von allem Umgang fernhält ...« Sie brach schnell ab, denn der Baron war eingetreten.

Das Gesicht der besorgten Mutter verriet nichts von dem Kummer, über den sie eben gesprochen hatte, ihre Stimme klang sogar ganz heiter, als sie die Einladung wiederholte.

»Mir hat es sehr gut gefallen,« erklärte Ella. »Ich habe große Lust wiederzukommen. Im Sommer muß es hier noch viel schöner sein.«

»Du bist ein gescheites Mädchen,« erklärte Fräulein Kamilla. »Sorge nur, daß die andern auch mitkommen.«

Bruno, den der Diener vorübertrug, denn seine Hüfte schmerzte ihn nach dem Falle, warf Ella einen vorwurfsvollen Blick zu.

Fräulein Kamilla küßte Minna beim Abschied, und mit einem schwärmerischen Augenaufschlag versicherte sie: »Sie sind gewiß ein Engel!«

»Ohne Flügel und mit sehr viel Fehlern!« rief Minna lachend.

Der Himmel hatte sich indes geklärt; nur leichte Wolken trieb der Wind über den Mond, der aufgegangen war, dafür war es wieder kälter geworden. Da aber die Kleider getrocknet waren – die Bauernkostüme hatten die Mädchen vor der Abfahrt abgelegt –, und sie in einer geschlossenen Kutsche saßen, fühlten sie sich bis auf Bruno, der sehr erschöpft war, alle ganz behaglich und das interessante Abenteuer wurde lebhaft besprochen; nur als Adele auf die Gerüchte anspielte, von denen Karlings erzählt hatten, wehrte Herr Uslar.

»Wir haben die Gastfreundschaft des Barons Neitung angenommen, danach können wir nicht mehr ohne genügende Beweise in dieses Gerücht einstimmen; es scheint nicht einmal einen Grund zu haben. Die Familie hat ein schweres Unglück betroffen, aber wie ein Verbrecher sieht der Baron nicht aus, und die alte Dame hat mir den Eindruck einer tieftraurigen, aber ihren Sohn zärtlich liebenden Mutter gemacht.«

Wie dankbar war Minna ihrem Vater für diese Worte! Sie empfand ein tiefes, inniges Mitleid mit diesem unglücklichen Manne, und doch war sie zweifelhaft, ob sie auch das Recht habe, ihn zu beklagen.

Die Pferde des Barons Neitung zogen freilich anders an, als die des Lohnkutschers. In viel kürzerer Zeit, als sie für möglich hielten, fuhren sie bei ihrem Häuschen vor, und mit einem Freudenschrei stürzte nicht nur Maruschka, sondern auch Anuscha heraus, während es drüben bei Grimmels sogleich lebendig wurde.

Als Herr Uslar beim Aussteigen dem Kutscher ein Trinkgeld in die Hand drücken wollte, entpuppte sich unter dem großen Pelzkragen der junge Baron. »Sie müssen verzeihen, daß ich Sie inkognito gefahren habe, aber unserm alten Kutscher mute ich keine Nachtfahrten zu, und dem jungen wollte ich Sie nicht anvertrauen.«

»Gute Nacht, Baron Kutscher!« rief Ella übermütig und warf ihm zu Brunos Entsetzen eine Kußhand zu.


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