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Die Dompropstin hatte eine sehr schlechte Nacht verbracht und war nach einem Schlaf von einigen wenigen Stunden zu Kümmernis, Ärger, Kopfweh und Sodbrennen erwacht.
Sie konnte Per nicht verstehen – so – so grossier zu sein! Tellement gros! Sich nicht in eine kleine Unannehmlichkeit fügen zu können, nicht darüber hinwegzugehen, wegen einer reinen Lappalie solchen Lärm zu schlagen. Und in die heftigsten Worte gegen seine eigene Mutter auszubrechen! – Roger hatte bestimmt nicht so unrecht mit seiner Vermutung:
»Er ist ganz sicher in das Mädchen verliebt, Pierre le grand. Er benimmt sich ja wie der melodramatischste primo amoroso!«
Ach – die Dompropstin mußte wirklich lächeln. Es war zu komisch, Pierre le grand – oder richtiger le gros! – verliebt in ein kleines Gänschen, das wohl noch gar nicht mit der Schule fertig war.
Ja, damit konnte man ihn aufziehen! Ihro Gnaden fühlte eine wahre innere Befriedigung bei dem Gedanken an die Rache, die sie nehmen wollte. Viele kleine scharfe scherzhafte Worte, viele Nadelstiche – Per hatte ja solche Angst, ins Lächerliche gezogen zu werden.
Verliebt, und noch dazu unglücklich verliebt – denn das Mädchen war ja schon so gut wie verlobt. Pauvre Pierre! Aber weiß Gott, das schadete ihm gar nichts! Die Jugend braucht ab und zu eine kleine Desillusion. Dann kommt jene Demut, die sowohl in dieser Welt wie in einer besseren passend und notwendig ist.
Die Dompropstin seufzte andächtig.
Hierauf nahm sie ihr Frühstück in Sara Siedels angenehmer und anspruchsloser Gesellschaft. Und in dieser selben Gesellschaft fuhr sie zur Kirche, um den guten Pfarrer predigen zu hören.
Während Ihro Gnaden jetzt in der freiherrlichen Bank saß und des Pfarrers fromme und beredte Auslegung des Tagestextes genoß – es war der sechste Sonntag nach Trinitatis: die Gerechtigkeit der Pharisäer – machte ihr Inneres, ihre Vorstellungen und Absichten, eine merkwürdige Veränderung durch; ob zum besseren oder zum schlechteren, dürfte schwer zu entscheiden sein.
Ihre Gedanken beschäftigten sich noch immer mit ihrem Sohne Per. Und insofern war ihr Sinn milder geworden, als sie nicht mehr daran dachte oder zum mindesten keine besondere Lust mehr verspürte, den Sohn zu demütigen.
»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet,« sprach der Geistliche von seiner Höhe. Und gerade dasselbe dachte die alte Dame in der Rogershof-Bank. Denn war es nun wirklich so, daß Per sich durch eine allerdings törichte, aber innige und warme Neigung hatte verleiten lassen, die Partei des jungen Mädchens gegen seinen Bruder, ja gegen seine eigene Mutter zu ergreifen, durfte man ihn deshalb verurteilen? Und sollte man wohl das ernste Gefühl eines jungen Mannes verhöhnen und ins Lächerliche ziehen?
Nein, gewiß nicht. Und am allerwenigsten durfte seine Mutter suchen, die tieferen Gefühle des Sohnes zu bekämpfen – denn ach, wie leicht kann nicht eine solche Desillusion die Jugend kalt, frivol, starrsinnig, verhärtet machen!
Ach ja, ach ja!
Überdies – das Mädchen war allerdings bedeutend jünger als Per, mindestens vierzehn, fünfzehn Jahre, aber man hatte schon größere Altersunterschiede gesehen. Und wenn auch in bezug auf Geburt und derlei ernstere Einwände erhoben werden konnten, so – wie der gute Pfarrer jetzt eben sagte: Nicht auf das Äußere sollt ihr sehen, sondern auf das Innere – ach ja! Hatte nicht sie selbst, Julia Bernhusen de Sars, einem Bürgerlichen ihre Hand gereicht? Und nie, nie – oder wenigstens höchst selten hatte sie diesen Schritt bereut.
Nein, von einem höheren Standpunkt betrachtet, nahm sich eine Verbindung zwischen Per und Blenda durchaus nicht so unmöglich aus.
Und eines stand fest: Kam eine solche Verbindung zustande, ja, dann mußte Bruder Rogers »letzter Wille« sich in die Schreibtischlade verkriechen. Björner hatte ja etwas von einer Klausel gesagt. Und übrigens, so lichterloh verrückt konnte er wohl doch nicht sein, daß er einem wildfremden Jungen sein Hab und Gut hinterließ! Blenda konnte natürlich unter allen Umständen des unvergleichlich größeren Teils der Verlassenschaft sicher sein.
Und dann, meine gute Luise Enberg –
»Denn außen sind sie wie weißgetünchte Grüfte –« donnerte der Pfarrer in einem Anfall von hohem Enthusiasmus.
Die Dompropstin mochte die Geistlichen, die zuviel schreien, nicht. Aber abgesehen davon war es wirklich wunderbar, wie gut seine Worte zu ihren Gedanken paßten. Denn war Luise Enberg nicht ein richtiger Pharisäertypus? Äußerlich so freundlich, so aufmerksam, so demütig: Ew. Gnaden hin und Ew. Gnaden her – und dann in ihrem Herzen so voll schmählicher Berechnung, voll treuloser List!
»Aber der Herr wird deine Ränke zuschanden machen,« murmelte die Dompropstin ein wenig pathetisch, indem sie sich erhob, um den Psalm zu singen. – –
»Wie gefällt dir eigentlich die kleine Blenda?« fragte sie Sara Siedel, als sie auf dem Heimweg waren.
»Ach wissen Sie, Tante, das ist ein recht unsympathisches Mädchen –«
»So–o – wirklich – und ich habe geglaubt, ihr vertragt euch ganz gut, nach deinen süßen Mienen zu urteilen, liebe Sara.
Nun, aber glaubst du, daß sie so sehr an den jungen Mann – den Jakob – attachiert ist?«
»Ja, das nehme ich an –«
»Annehmen – liebe Sara, wie kann man ohne weiters etwas Derartiges annehmen? Das ist gerade wie Roger: er nimmt an, daß sie sich heiraten wollen, und darauf basiert er sein verrücktes Testament. Aber heutzutage will die Jugend selbst ein Wörtchen dreinreden. Und ich für mein Teil habe nicht die geringste Neigung zwischen diesen beiden bemerkt –«
»Sie haben also nicht gehört, Tante, was man sagt –?«
»Sagt! Wer sagt? Die Dienstleute vielleicht? Nein, meine beste Sara, es fällt mir gar nicht ein, solchem Klatsch die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Du überraschst mich, Sara.
Nebenbei, mir ist es ja gleichgültig. Ich will nur hoffen, daß mein armer Per nicht von irgend einer unglückseligen Passion ergriffen ist. Das würde mich wirklich betrüben –«
»Per? Was sagen Sie, Tante? Per und Blenda? Mais c'est tout à fait incroyable! Sie – ein Kind –«
Die Dompropstin musterte ihre Begleiterin, die Hohemesse-Miene verflüchtigte sich und machte einem recht ausgelassenen und maliziösen kleinen Lächeln Platz.
»Neben dir, liebe Sara, erscheint sie allerdings recht kindlich. Aber ich glaube nicht, daß das die Möglichkeit einer Verliebtheit von seiten Pers beeinträchtigt. Eher umgekehrt!«
»Ja, in diesem Fall bedauere ich Per. Sie ist geradezu unheimlich kokett.«
Die Dompropstin lächelte schalkhaft.
»Sara, Sara! Warum siehst du den Splitter in deiner Schwester Auge?«
Die Laune der alten Dame, die sich während des Hochamts so wesentlich gebessert hatte, erlitt leider gleich nach der Rückkehr nach Rogershof einen starken Stoß. Sie wollte Blenda sprechen und schickte darum Sara aus, um das Mädchen zu suchen. Aber Sara kehrte allein zurück.
»Liebe Tante – ja richtig, Blenda konnte ich nicht finden – ich mußte gleich kommen, um Ihnen zu erzählen, Tante – ach, welche furchtbare Neuigkeit! Und wir, die wir ganz ahnungslos waren!«
Sara rang die Hände und seufzte schwer; es waren dies die einzigen Zeichen tiefer Rührung, die sie für den Augenblick aufbringen konnte. Auf die Dompropstin machte es jedoch einen genügend unbehaglichen Eindruck.
»Gestern abend, als wir glaubten, daß Onkel und Abraham Björner Schach spielten, wissen Sie, Tante, was sie da taten? Onkel unterzeichnete sein Testament!«
»Wer hat das gesagt?«
»Der Inspektor! Er kam gerade aus dem Kontor und übergab mir einen Brief. Ja, hören Sie nur, Tante! Ich kannte die Schrift gar nicht, weshalb ich den Brief auch sofort öffnete: von Abraham Björner! Sie können sich denken, Tante, daß ich im höchsten Grade erstaunt war und den Brief sofort lesen wollte. Aber da merke ich, daß dieser Mensch noch immer dasteht und mich anglotzt. Um etwas zu sagen, frage ich nach Blenda. Und können Sie sich denken, Tante, was dieser gräßliche Mensch sich erlaubt zu antworten? ›Ja, wo soll der Deckel sein, wenn nicht auf dem Topf? Sie ist wohl mit Jakob. Fräulein wissen doch, daß sie jetzt ein Paar werden sollen. Das steht im Testament Sr. Gnaden.‹
Ich war ganz paff. – ›Was meinen Sie? Testament?‹ fragte ich. ›Herrgott, wissen Fräulein nicht, daß Se. Gnaden gestern sein Testament unterzeichnet hat? Ich und Vickberg hatten die Ehre, Zeugen zu sein –‹.«
»Was schreibt Björner? Nein, gib her.«
Ihro Gnaden riß Sara ohne weiteres den Brief aus der Hand. Und las:
Liebe Sara!
Leider muß ich Sie bitten, der Frau Dompropstin in schonender Weise mitzuteilen, daß das, was wir gefürchtet haben, tatsächlich eingetroffen ist. Baron Roger hat gestern abend ein Testament zugunsten von Jakob Enberg und Blenda unterzeichnet. Außer dem Testator und dem Unterzeichneten war Herr Enberg selbst, sowie Inspektor Hallig und der Bediente Vickberg anwesend. Ich sprach den Wunsch aus, Ihro Gnaden zu rufen oder wenigstens in Kenntnis zu setzen, aber dies wurde mir kategorisch verweigert. Ich wollte natürlich Ihro Gnaden schon gestern abend verständigen, aber wurde davon durch ein Versprechen abgehalten, das mir Baron de Sars so gut wie abgezwungen hat.
Ich bitte Sie, unserer lieben Tante den Ausdruck meiner Verehrung, meiner warmen Teilnahme und meiner unveränderlichen Ergebenheit zu übermitteln, und verbleibe, meine beste Sara,
Ihr ergebener Vetter
Abraham Björner
Die Enberg hat ihn gekauft, er hat sich bestechen lassen.«
»Abraham Björner? Nein, wissen Sie, Tante, das kann ich –«
»Du! – du! – du! Glaubst du, ich sehe nicht, wie falsch du bist? Du hast das Ganze angestiftet! Dir schreiben sie, das Gesindel, das Pack –! Und das ist der Dank!«
Lena, die sich zufällig in dem Gang vor dem gelben Saal aufhielt, konnte die fliehende, weinende, arme Sara in ihren offenen Armen auffangen. Fräulein Siedel war vor Schrecken ganz außer sich und erschreckte ihrerseits wieder Lena und deren Kameradinnen. Als darum die Dompropstin, die es bald satt hatte in der Einsamkeit unter tauben Möbeln zu tosen, in überaus heftiger und anhaltender Weise zu klingeln begann, wagte niemand dem Rufe zu folgen. Lena erklärte: sollte sie herein, dann, müßte sie auf dem größten und bösesten Stier hereinreiten. Beda, Vilma und Agnes verschwanden aus der Nähe der ratlosen Frau Enberg; die Köchin war gerade schmutzig, Vickberg befand sich bei Sr. Gnaden. Und Toni weigerte sich ruhig aber bestimmt, in irgendwelchen Kontakt mit der Dompropstin zu treten.
Der einzige, der seine Dienste freiwillig anbot, war Johnsson. Aber da sein Zustand – vielleicht infolge der Gemütsbewegungen des Vortags – schon jetzt, um zwei Uhr nachmittags, höchst eigentümlich war, mußte man von seiner Mitwirkung absehen. Und Frau Enberg sah sich gezwungen, sich in eigener Person nach den Wünschen von Ihro Gnaden zu erkundigen.
»Tun Sie es nicht,« bat Toni. »Sie wird sehr grob gegen Sie sein. Und dann sind Sie wieder traurig. Warum sollen Sie traurig sein, jetzt wo alles so schön ist? Wo Jakob ein solches Glück widerfahren ist?«
Aber das wütende Bimmeln der Glocke appellierte mächtig an Frau Enbergs Gewissen. Sollte ein Gast in Rogershof vergebens die Dienste der Hausleute anrufen? Nein, nicht, solange Luise Enberg Arme und Beine hatte – übrigens, mehr als zanken konnte ja Ihro Gnaden nicht.
Und pflichttreu und ängstlich betrat sie den Gang zum gelben Saal. Aber vor der Tür des Gastzimmers stand Se. Gnaden.
Frau Enberg blieb mäuschenstill stehen.
Der Baron streckte den Zeigefinger nach ihr aus.
»Nun, meine Beste, was will sie?«.
Frau Enberg knixte.
»Ihro Gnaden hat geläutet.«
»So so, ja wir wollen uns selbst erkundigen, was Ihro Gnaden wünscht. Ist schon recht, meine Beste. Adieu, adieu.«
Frau Enberg knixte abermals, rührte sich aber nicht vom Fleck. Sie beobachtete, wie Se. Gnaden höchst eigenhändig anklopfte, sie hörte die ungeduldige Stimme von Ihro Gnaden: »So kommen Sie doch endlich!«, und sie sah Se. Gnaden die Tür öffnen, eintreten und wieder hinter sich zuschließen.
Se. Gnaden um zwei Uhr auf den Beinen, allein, ohne Vickberg! Und wie er aussah – so wunderbar feierlich und ruhig zugleich.
Frau Enberg drehte sich langsam um. Und nun sie diesen eigentümlichen Anblick, diese bedeutungsvolle Begegnung hinter sich hatte, ging ein Schauer von ihrem Nacken über ihren Rücken.
Sie sagte laut zu sich selbst:
»Eins ist merkwürdiger als das andere. Wenn man an Jakob denkt – den armen Jungen. – Es ist wahrhaftig so, daß man nicht das mindeste begreift. Nicht das mindeste. Aber Ende gut, alles gut.«
Als die Dompropstin anstatt eines mehr oder weniger harmlosen dienstbaren Geistes ihren eigenen hochgeschätzten Bruder eintreten sah, besänftigte dies ihren Groll in keiner Weise. Es kam ihr mehr als wahrscheinlich vor, daß die Enberg oder irgend ein anderes feindlich gesinntes Wesen Se. Gnaden eigens herbeigeführt hatte, um den Ausbruch ihrer bösen Laune mit anzusehen. Nun, das konnte er auch haben. Nur zu gerne! Aber natürlich war es notwendig, bis zu einem gewissen Grade Selbstbeherrschung zu zeigen. Die Schiffe durften nicht verbrannt werden, wenigstens nicht alle.
» Bonjour, ma chère sœur! Wie hast du geruht?«
Baron Rogers frischrasierte aber spröde Oberlippe kitzelte unangenehm ihre Wange. Sie gab ihm einen recht kräftigen kleinen Klaps, aber es gelang ihr gleichzeitig, ein Lächeln hervorzuschrauben.
» Je te remercie, mon cher frère. Aber – pour dire la vérité – die Nacht war abominable.«
»Ach wirklich? Das tut mir leid –«
»Ach bitte, Roger, bekümmere dich nicht darum! Es ist ja so natürlich, daß eine arme Frau, deren ganzes Leben eine einzige, eine beständige Unruhe war, eine Kette von Enttäuschungen –«
»Na na, aber Julia –«
»Ja, ich möchte dich nicht aufregen, lieber Bruder. Ich hoffe, daß du gut geschlafen hast.«
»Ausgezeichnet! Ein gutes Gewissen, chère Julie, ist das beste Ruhekissen –«
»Ach, daß du wirklich diese Erfahrung hast, lieber Roger. Ich glaubte, dein Schlaf sei meistens gut?«
»Hihihi,« kicherte der Baron.
Aber er erlangte rasch seinen würdigen Ernst wieder.
»Ja ja, meine beste Julia, ich möchte gern mit dir einige Worte über eine höchst wichtige Sache sprechen.«
Die Dompropstin neigte den Kopf, markiert langsam. Sie nahm auf dem Sofa Platz, mitten auf dem Sofa. Und mit einer Handbewegung wies sie auf den großen Lehnstuhl.
»Willst du Platz nehmen?«
»Danke – ja ja – ja. Hm. – Ja, liebe Schwester, du gestattest, daß ich gleich zur Sache spreche. Es ist das Testament, wovon ich reden will. Ich hatte, wie du ja weißt, gedacht, es gestern zur Verlesung zu bringen. Es ergaben sich jedoch gewisse Schwierigkeiten – in betreff der Etikette, die ich armer Einsiedler total übersehen hatte. Ja, ich bin dir ganz besonders dankbar, liebe Julia, es wäre verdammt peinlich gewesen –«
»Aber ich bitte dich – darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Ja gewiß, hm. Ja, siehst du, liebe Schwester, hingegen hat uns ja nichts gehindert, das von Herrn Rechtsanwalt Björner aufgesetzte Dokument zu unterzeichnen, he? Na – ja ja – das geschah auch – gestern abend. Und ich habe es für meine Pflicht gehalten, dies meiner lieben Schwester zu notifizieren –«
»Wirklich? Deine Güte und dein Zartgefühl überwältigt mich. Ich darf also schon heute erfahren, was deine Knechte und Mägde bereits gestern abend wußten –«
»Was sagst du da? Meine Knechte und Mägde?«
»Ich nehme an, daß dein – ja, ich weiß ja nicht, wie ich den jungen Mann nennen soll – das Verhältnis zwischen euch ist mir ja vollständig unbekannt – aber jedenfalls nehme ich an, daß er augenblicklich seine Eltern unterrichtet hat, die ja zu deinem Gesinde gehören. Und überdies war doch dein Bedienter und dein Inspektor Zeugen.
Wie du siehst, lieber Roger, bin ich nicht ganz unorientiert. Trotz des Eifers, mit dem du dich beeilt hast, deine einzige Schwester von diesem wichtigen Schritt zu benachrichtigen, ist es doch anderen gelungen, dir zuvorzukommen.«
»So so – das konnte ich mir denken. Dieser verflixte Björner –«
»Das konntest du dir denken? Du hast also den guten Mann nicht dafür bezahlt, mich ganz in Unkenntnis zu erhalten?«
»Hihihi! Glaubst du, daß er sich bestechen läßt? Ja, siehst du, das glaube ich auch. Das tun alle Juristen. Der Teufel hol sie! Erinnerst du dich noch an den alten Fuchs, dem der Vater fünftausend Speziestaler gab – ja, waren es nun Spezies?«
»Roger! Du machst einen jämmerlichen Versuch, abzubiegen. Beabsichtigst du mich mit alten Geschichten zu unterhalten?«
»Du bist so verdammt hitzig, meine Beste! Aber ich bin ganz ruhig. – Ich bin hergekommen, um dir meine Motive klarzulegen. Ich will nicht, daß du glaubst, ich hätte in böser Albsicht –«
»Es war natürlich sehr gütig von dir, mich hinters Licht zu führen.«
»Wenn nicht das, meine Beste, so war es wenigstens notwendig – siehst du, Jule, es läßt sich nicht leugnen, daß du einen unbegreiflichen Einfluß auf mich hast. Ich wußte genau, entweder mußte ich dich bitten – hm – mich in Frieden zu lassen, oder auch, ich mußte das Geheimnis bis zuletzt bewahren und dir, liebe Schwester, eine surprise bereiten. Ich wählte die letztere Alternative. Ja – siehst du, du hast mehrere Male in mein Leben eingegriffen, und einmal so fühlbar –«
»War es zum Schaden oder zum Frommen, Roger? Ich weiß, daß du auf deine Ehe anspielst –«
Se. Gnaden hob den Stock. Warum, wozu? Das ist unmöglich zu sagen. Die Hand sank wieder herab, Se. Gnaden begann mit dem Stock zu spielen, ihn zwischen den Fingern schnurren zu lassen – in sehr unbeholfener Weise.
Die Dompropstin zuckte mit keiner Miene.
Nach einem Weilchen sagte Se. Gnaden ganz ruhig, wie im Vorübergehen:
» Cela, c'est passé. On n'en parle plus.«
Und mit seinem früheren liebenswürdigen, ein klein bißchen moquanten Lächeln fuhr er fort:
» Mon dieu, chère sœur, sind wir nicht alt geworden? Manchmal kommt es mir beinahe vor, als ob ich schon ein Greis wäre, ein steinalter Greis! Ja, Jule, es ist sonderbar mit der Zeit, man kann sie nicht recht fassen, sie nicht messen –
Manchmal scheint es mir, daß ich Ideen habe – ganz wie der selige Vater. Ja Herrgott, er war ja jünger als ich, er war ja jünger! – Törichte Ideen, Drôlerien, chérie, die aber einem alten Herzen wunderlich, wunderlich teuer werden!
Ja, so ist es nun mit den beiden Kindern. Hol mich der Henker, ich begreife nicht, was für eine verflucht idiotische Affektion diese Rangen in mein Blut infiziert haben. Na, Blenda – c'est une chose toute explicable, même très naturelle. Aber der Junge, ein Schlingel, ein gamin, un fripon! Sackerlot, wäre es in meiner Jugend gewesen, ich hätte ihn schon zehnmal durchgeprügelt, so gewiß ich dasitze! He? Kommt er nicht und will mir kommandieren? He? Ist er nicht so verflucht unverschämt – he? Hol mich der und jener –«
»Fluche doch nicht so gräßlich, Roger. Ich glaube dir auf dein Wort.«
»Wirklich? Na, das ist schön –«
Se. Gnaden öffnete Vickbergs Dose – eigens dazu entliehen, um in dieser schwierigen Lage Trost zu spenden – öffnete den Deckel und nahm ein paar Körnchen.
»Ja ja, ja, und nun sitzt man hier allein. Ganz allein. – Nein, Julia, ich beklage mich nicht. Ich war nie ein Freund von Gesellschaften oder auch nur von Gesellschaft. Und mit jedem Jahr, das geht, wird mir das immer widerlicher. Ja, widerlich! – Pardon – insoweit die Gesellschaft nicht aus einer geliebten Schwester besteht. Deine Hand, ma chère!
Nein, nein, aber man sitzt allein da. Man sitzt an einem Sommertag an seinem offenen Fenster. Und in seinen Armen hat man die glorreiche Madame Corinne. Etwas Besonderes darüber zu meditieren hat man nicht. Denn man kennt ja die graziöse Dame so ziemlich. – Ja ja –
Da hört man: Brrrrr. Das war mir eine große Hummel, he? Und dann hört man: Bisssss. Da haben wir die kleine Hummel. Und dann summen sie, und dann schwatzen sie, und dann flüstern sie. Und alles ist so verflucht geheimnisvoll. Ja ja, das ist mir ein Gesindel! Und dann sind sie in diesem Busch. Und dann sind sie in jenem Busch. Und dann verstecken sie sich, und dann haschen sie sich. Und dann brrrrr die große; und bisssss die kleine. Und dann zanken sie: Brrrrr – bisssss – brrrrr – bissss – hihihi. Hol mich der Henker, ist das nicht lustig! Und verstehst du, Schwester, die ahnen gar nicht, daß der Alte hier oben sitzt. Der schläft, was? Hihihi! Die Schlafmütze tut ja nichts anderes als schlafen, hihihi! Aber man überlistet sie, Schwester.
Ja ja ja – tjiitjiit – pardon! Das ist nun unsereinem sein Vergnügen! Und verflucht amüsant ist es! Une toute petite chose – un rien – aber man verfolgt es mit dem größten Interesse. Ja ja, es ist vielleicht das, daß man anfängt alt zu werden.
Und dann hat man das Gefühl, daß es dort in den Büschen brennt. Der Alte wittert Wärme und streckt seine erfrorenen Hände aus. Die großen Scheite sind erloschen, siehst du. Sie sind ausgebrannt. Asche. Jetzt springt das Feuer in junges Holz über. Es ist damit wie mit der Zeit. Ja ja – wie der Rattenfänger: man folgt und folgt, weiß der Teufel wohin – aber auf dem Meeresgrunde bleibt man.
Ja ja, c'est drôle, tout cela. Aber du hast vielleicht doch verstanden, Schwester, daß ein paar solche Püppchen einen alten Mann, der nichts anderes zu denken hat, in recht hohem Grade interessieren können. Ja ja. Und nun will der Alte Vorsehung spielen. Na ja – verstehst du das, liebe Schwester, dann weißt du auch, was mein stärkstes Motiv war und ist. Und dann bin ich zufrieden – ich möchte nämlich nicht gern, daß du das Testament nur für einen Beweis meiner reichs- und stadtbekannten Bosheit ansiehst, liebe Schwester.
Ja ja, so ist es mit dieser Sache. Was sagst du also?«
Die Dompropstin streckte ihre beiden Hände nach ihm aus. Und da sie ihn vom Sofa aus nicht bequem umarmen konnte, erhob sie sich, schlang die Arme um seinen Hals und drückte einen Kuß auf seine Stirn.
»Du Lieber, Guter – ich verstehe dich so gut –«
»Na, das ist recht. Dann sprechen wir nicht weiter davon. Was nun Malla und dich selbst betrifft –«
»Darüber,« unterbrach ihn Ihro Gnaden mit starker, aber sanfter Betonung, »über mich und meine Kinder reden wir jetzt nicht.
Aber jetzt so wie gestern muß ich dir sagen, Roger: du meinst es ja so gut, so herzensgut. Deine Motive sind die schönsten, die reinsten – aber du täuschest dich. Ja, ich muß es dir sagen: Du hast dich geirrt –«
»So so, meine Beste? So etwas ist möglich. Aber das muß die Zukunft lehren –«
»Roger – Laß mich aussprechen, du hast eben einen Ausdruck gebraucht: Vorsehung spielen. Das sind vermessene Worte –«
»Wa – was! Ist doch nur eine Redensart –«
»Denn eine Vorsehung für uns arme Erdengeschöpfe kann nur ER sein, ER, der Herz und Nieren prüft. – Mein armer Bruder, du meinst es so gut. Aber was weißt du eigentlich von diesen Kindern, deren Glück du begründen willst?«
»Soviel wie du werde ich auch noch wissen!«
»Nein, das weißt du nicht. Du bist viel zu leichtgläubig, Roger. Ja, ich meine es ja nicht so, aber – weil die beiden hinter Hecken und Büschen geschnäbelt haben, glaubst du gleich, daß es sich hier um eine wirkliche Neigung handelt. Glaubst du, daß ein Mädchen lieben muß, weil sie ein bißchen herumkokettiert? –«
»Hihihi – das war ein schönes Geständnis!«
»Ja, scherze nur. Aber ich finde es grausam, unmoralisch, tyrannisch, daß du durch dein Testament den Willen des jungen Mädchens knebelst. Am allerwenigsten von dir, Roger, hätte ich das erwartet. Eine Zwangsheirat –«
»Julia!«
»Ja, mich erschreckst du nicht. Aber willst du sie wirklich zwingen –«
»Zwingen! He? Was faselst du da?«
»– dann wird sie in mir eine mütterliche Stütze finden.«
Se. Gnaden hatte sich zu seiner vollen Länge aufgereckt. Einen Augenblick schien seine Haltung recht feindlich, recht drohend. Aber Se. Gnaden besaß an diesem Tage eine seltene Selbstbeherrschung.
»Jaja – jetzt will ich dir nur eines sagen – ja – mit mir kannst du umspringen, meine Liebe – wie – wie es dir beliebt. Aber solltest du es dir – hm – in aller Wohlmeinung – einfallen lassen – in mein – in mein Paradies einzudringen, um da – um da eine der alten Rollen zu übernehmen – ja dann – je suis bien fâché – dann wird der Wagen eingespannt.
Und jetzt, meine Beste, bin ich verflucht hungrig. Und ich bitte mir die Gnade aus, in Gesellschaft meiner teuren Schwester zu dejeunieren.
Deinen Arm!«