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Achtes Kapitel

Der Geburtstag – Drittes Scharmützel – Blenda horcht an der Türe.

Schon vor neun Uhr war Se. Gnaden fertig angekleidet: er trug eine Art Jagdanzug und dazu Halbschuhe. Für neun Uhr präzise war die Gratulation des Hofgesindes bestellt, und vorher wollte der Baron einige Minuten im Park spazieren gehen. Es stimmte nämlich besser zum Jagdanzug und den Geburtstagstraditionen, wenn Se. Gnaden zur großen Dienerschaftsgratulation aus dem Freien kam.

Außerdem hatte er an diesem Tag ein ungewöhnlich lebhaftes Bedürfnis, sich zu bewegen, energisch zu sein und sich so zu zeigen. Er zappelte recht lebhaft zwischen Vickberg und Förster Ring einher.

Jetzt kam Toni und meldete:

»Inspektor Halling.«

»Ja, ja, schön – wir kommen – wir kommen – Was zum Teufel machst du dir mit meinem Arm zu schaffen, glaubst du, daß ich nicht gehen kann, he?«

Und mit bewunderungswürdig festen, wenn auch ein wenig tastenden Schritten marschierte Baron Roger über den Hof und bestieg die Freitreppe. Er grüßte mit der Hand.

»Guten Tag, meine lieben Freunde! Das ist schön, euch zu sehen. Hä. Guten Tag, guten Tag!«

Die Versammlung, etwa zweihundert Mann stark, war so repräsentativ gewählt als nur möglich. Ganz vorne die Leute aus dem Haupthaus, des weiteren die Vornehmeren von den Wirtschaftsgebäuden und Katen, die Waldhüter, Großknechte, Soldaten und ehemaligen Soldaten in der ersten Reihe, disziplinierte Leute, die Mützen und Hüte mit einem Ruck herunterreißen konnten.

Der Inspektor meldete sich mittels mehrmaligen kurzen Räusperns zum Wort und begann. Mützen und Hüte wurden in der Hand hin und her gedreht. Die Blicke waren unverwandt auf die hohe Gestalt oben auf der Treppe gerichtet. Die sah einem Elch nicht unähnlich, mit den unförmlich hohen Beinen und dem breiten schweren Oberkörper.

Der Inspektor fuhr fort:

»– und darum, Ew. Gnaden –«

Die Köpfe drehten sich, die Hände hoben sich vorsichtig zum Munde, man hörte flüstern: »Und wer ist denn das?« »Das ist die Schwester, die Frau Dompropstin.« »Ah, sieht die so aus?«

Mit einem sanften Lächeln und einer Kopfneigung grüßte die Dompropstin. Auf den Zehen, still und weich schlich sie sich zu ihrem geliebten Bruder hin. Vickberg wollte sich demütig zurückziehen. Aber der Baron, der schon mehrere Male von einem Fuß auf den anderen getreten war, umklammerte krampfhaft sein Handgelenk und zwang ihn, sich zwischen Bruder und Schwester zu drängen, so daß die Dompropstin sich ein bißchen zurückziehen mußte; da war nichts zu machen.

Inspektor Halling war im allgemeinen ein recht schweigsamer Mann. Aber er liebte es, öffentlich zu sprechen. Er schwärmte dafür, öffentlich zu sprechen.

Vickberg erlaubte sich, ihm verstohlen Zeichen zu machen, aber Halling sah Vickberg gar nicht an. Zu ihm sprach er nicht.

»Hahahaha,« seufzte Se. Gnaden. Das kam ganz unwillkürlich. Se. Gnaden hatte selbst gedacht, einige Worte zu sagen, aber jetzt fühlte er, daß diese Worte in Unordnung kamen. Sie waren noch immer in seinem Hirn, aber sie tauschten Platz miteinander.

»Ist doch ein Teufelskerl, der Inspektor, der kann's, der kann's!« flüsterte das Volk. Vickberg biß sich in die Unterlippe. Er hatte schon einen Krampf im Arm, der Baron zwickte ihn. Auch Förster Ring wurde vom Baron gezwickt, aber die Ehre machte ihn gegen einen so geringen Schmerz unempfindlich.

Die Dompropstin schien gerührt.

Endlich schloß die Rede mit einer Phrase, zugleich üppig und stolz und wedelnd wie der Schwanz eines Pudels.

Und dann: »Lang lebe unser gnädiger und guter Herr, der hochwohlgeborene Baron und Kammerherr Roger Bernhusen de Sars!«

»Hurra, ihr Trotteln,« brüllte der Kutscher Niels. Die rückwärtigen Reihen hatten nämlich das Hoch noch nicht verstanden, als Förster, Hofknechte, Soldaten und ehemalige Soldaten mit ihren schallenden Rufen schon fertig waren.

Nun, das war ja eine Kleinigkeit.

Baron Roger richtete sich auf. Die Hurrarufe hatten ihn wieder belebt, es gelang ihm sogar, einige Sätze der Rede zu finden, die in solche Unordnung geraten war.

»Dank, Dank, meine lieben Freunde. Das ist wirklich schön, hä – ihr seid brave und pflichttreue Menschen, alle miteinander, ja, sehr pflichttreue Menschen. Ja, mit Gottes Hilfe, tun wir alle unsere Pflicht, he? Ja. – Gott sei mit uns allen. – Und dann wird Frau Enberg dafür sorgen, daß ihr etwas in den Magen bekommt. Danke, danke, ja. Und einen Silberreichstaler pro Mann und Kopf und ein Zwölfschillingstück für die Kinder.

Hol mich der und jener, jetzt gehe ich aber hinein,« brach er ab.

 

Vickberg protestierte in aller Demut, aber es half nichts, die Dompropstin drang in das Schlafzimmer ein.

Se. Gnaden war soeben vom Mittagsschlaf erwacht.

»Wie geht es dir, Roger?«

»He? Bist du es, Jule? Ja so. Hm. – Na, ich danke. Ich danke.«

»Du bist gewiß sehr müde? Vielleicht solltest du ganz still liegen?«

Der Baron setzte sich mit einem heftigen Ruck auf.

»Nein, ich bitte – ich danke – meine Beste. Ich gedenke in einer kleinen Weile aufzustehen. Hm. – Ist der Schulmeister da gewesen?«

»Ja, er war da. Ich habe ihm in deinem Namen gedankt.«

»So? So so – na schön. Und die Rangen?«

»Die Kinder bekommen unten beim Großknecht Kaffee.«

»Also sind sie nicht oben im Haus? Na, das ist schön. Willst du dich nicht setzen? Es ist sehr liebenswürdig – Vickberg, Vickberg! Wo haben wir den Schnupftabak? Danke, ja. Du kannst mir glauben, Schwester, er hält sich einen verdammt guten Schnupftabak, dieser Rawuzel. Tjiiiit. – Es ist wirklich sehr schön, dich hier zu haben, Julchen. Ja, du willst wohl keine Erdbeeren, nein? – Na, was gibt es sonst Neues? –«

»Der Telegrammbote ist mit einer Masse von Telegrammen hier gewesen. Willst du vielleicht, daß wir sie aufmachen?«

»Ach nein, danke. Hat Zeit. Sind es viele?«

»Es sind bestimmt mindestens hundert.«

»So so. Nicht übel. – Wie viele waren es voriges Jahr, Vickberg? – Weiß er das nicht mehr? Was weiß er denn überhaupt? Ja, er kann sich zum Kuckuck scheren, dummer Rawuzel. Jetzt wollen wir's gemütlich haben, Julchen. Magst du ein Glas Wein, nicht? Na, dein Wohl!

Ist sonst wer gekommen?«

»Ja, der Pfarrer ist gekommen und Wilhelm und Arvid mit meinen beiden Jungen.«

»Was? Wilhelm? Ach so, der Bergfeldt – ist der gekommen? Na, er geht wohl herum und schnüffelt? – kann ich mir denken. Aber vorderhand sind noch wir Herr auf Rogershof!«

»Gebe Gott – noch viele, viele Jahre!«

»Ja gewiß, Gott sei mit uns allen – Hör mal, hör mal – was meinst du eigentlich, Jule? Sehe ich schlecht aus, he?«

»Nein, gewiß nicht! Ich finde nicht, daß man das sagen kann. Das einzige, was mir beunruhigend vorkommt, ist diese Heftigkeit, diese Launenhaftigkeit –«

»Ja, liebe Schwester, du mußt schon entschuldigen –«

»Roger, du hast zu verzeihen, nicht ich! Ich verstehe mich selbst nicht! Und weißt du, Roger, als ich dann Zeit und Ruhe fand, mich zu sammeln, als ich da auf dem Kirchhof vor den Gräbern unserer Teuren stand, da empfand ich es so schmerzlich, hier –«

»Na, na, Julchen, jetzt sprechen wir nicht davon, he? Es wird schon alles gut. Jetzt trinken wir unseren Wein aus. Dein Wohl!«

»Roger – darf ich dich etwas fragen? Aber du mußt mir versprechen, meine Motive richtig zu verstehen –«

»Aber ja, ja – nur heraus, meine Beste!«

»Ist es deine Absicht, das Testament heute zur Verlesung zu bringen?«

Baron Roger schob das Tablett fort, so daß Gläser und Teller klirrten.

»Jawohl, meine Beste, das ist meine Absicht. Soll ich vielleicht bis nach meinem Tode damit warten? Was hätte ich dann für ein Vergnügen an der ganzen Sache?«

Die Dompropstin überlegte einen Augenblick.

»Roger, laß mich dir vor allem sagen, daß ich in einer schlaflosen Nacht den Inhalt deines Testamentes geprüft und überdacht habe. Und ich bin zu dem Schlusse gelangt, daß du vollständig recht handelst. Ja, Roger, du handelst recht. Freilich, glaube ich, daß Außenstehende es – ja, sagen wir – exzentrisch finden werden. Aber wer die Verhältnisse kennt, muß einsehen, daß es eine unabweisliche Pflicht ist, die dich veranlaßt –«

»Hol mich der und jener – was zum Teufel – fängst du schon wieder mit deiner Pflicht an –?«

»Ja, wir wollen jetzt nicht über Worte streiten, wir meinen doch auf jeden Fall dasselbe – aber sage mir, wann soll das Testament verlesen werden, vor oder nach dem Mittagessen? – Ach so, nach dem Mittagessen. Und ich nehme an, daß – daß – der Gefeierte – ja, denn der junge Mann ist doch in gewisser Weise der Gefeierte – nun, er ist ja ohnehin schon wie das Kind im Hause, und es wird ja kein Erstaunen erregen, wenn er an der Mittagstafel teilnimmt. – Aber wo und wie willst du die Mutter plazieren?«

»He? Die Mutter? Die Enberg? Die sollte bei Tische sitzen? Hihihi!«

»Du hast dir wohl noch nicht klar gemacht, welche veränderte Stellung Luise Enberg fortab einnehmen wird? Oder findest du es wirklich comme il faut, daß die Mutter deines Erben bei diesem feierlichen Anlaß in der Küche steht?«

»Ja so, mja – mja –« Der Baron schmatzte vor Rachsucht. »Meinst du, meine Beste? – na, tröste dich. Ist das das Hindernis, he? Nun, so will ich, hol mich der und jener, die Enberg selbst zu Tische führen.«

»Dazu bist du auch wirklich verpflichtet, lieber Roger. Und ich vermute, daß ich die Ehre haben werde, von Monsieur Toni geführt zu werden –«

Baron Roger starrte vor sich hin, er kaute, und aus dem rechten Mundwinkel tropfte der Speichel wie Angstschweiß. Der sanfte wehmütige Ton der Dompropstin beängstigte ihn. Er hatte das plötzliche Gefühl, sich verirrt, sich in unbekannte Gefahren gestürzt zu haben. Es war, als ginge man durch einen dichten Wald voll schlau verborgener Fuchsfallen.

Der Teufel hole diese Jule!

»Ja, Roger, du hast es gut gemeint. Aber du hast die Folgen nicht bedacht. Du hast die Konsequenzen nicht gezogen. Aber ich bin überzeugt, daß du jetzt einsiehst, welche Taktlosigkeit du im Begriffe warst, zu begehen. Und welche Grausamkeit gegen den armen Jungen. An diesem für ihn so außerordentlich bedeutungsvollen Tage seine Eltern ganz zu ignorieren! So daß unsere Gäste in den Inspektorsflügel und die Gesindestube gehen müßten, um die zu beglückwünschen, die ihm doch hier im Leben am nächsten stehen. Ihm, dem Erben des de Sarsschen Hauses!«

Die Beredsamkeit der Dompropstin wurde zum Schlusse wirklich glühend. Und sie wirkte auch insofern berauschend, als sie das Gehirn des armen Barons vollständig umnebelte. In seinem Innersten hatte er die undeutliche aber starke Empfindung, daß an den Worten der Schwester doch etwas Wahres war. Etwas, woran er hätte denken sollen, aber woran er nicht gedacht hatte, woran er denken mußte – aber leider nicht denken konnte. Er stieß ein paar heftige Worte heraus, um sie zum Schweigen zu bringen, aber als sie wirklich verstummte und sich sanft und liebenswürdig lauschend zu ihm vorbeugte, da wurde seine Verwirrung noch größer, ganz unerträglich. Schließlich warf er sich ins Bett zurück und schrie halb schluchzend:

»Was zum Teufel – was zum Teufel – was zum Teu –«

»Was du tun sollst, lieber Roger? Das ist doch sehr einfach.«

Der Baron verstummte, lag ganz still da und horchte auf ihre sanfte ruhige Stimme. Von dem, was sie sagte, verstand er nicht viel mehr, als die Kinder von den Worten eines Wiegenliedes verstehen. Er war so verdammt müde.

Als sie aufhörte, murmelte er:

»Wirst du es also arrangieren, Julchen?«

»Arrangieren? Mein Lieber, es ist ja nichts anderes nötig, als daß du das Testament nicht verlesen läßt, wenigstens nicht heute. Morgen, übermorgen oder wann du willst, kannst du ja den jungen Mann privatim von dem Glück in Kenntnis setzen, das du ihm zudenkst. Dann hast du es ja so wie du willst – ohne Skandal.«

»Ja, gewiß, ja –«

»Und jetzt mußt du ein bißchen schlafen, lieber Roger. Ich habe dich doch hoffentlich nicht zu sehr ermüdet?«

»Nein, bewahre, danke du bist so gut – und so pflichttreu – wirklich so nett –«

Er schlief.

Auch die Dompropstin war vollständig ermattet. Sie warf sich schluchzend der treuen Sara in die Arme.

»Ach, man muß ihn wie ein Kind behandeln. Man muß mit ihm umgehen wie mit einem kleinen verzogenen Kind. Aber wenn man nur das tut –«

Sie trocknete ihre Tränen.

»Du wirst sehen, liebe Sara, du wirst schon sehen – ach, Er lenkt doch alles zum Besten.«

 

Am Mittagstisch war Blenda zwischen Roger Hyltenius und Leutnant Bergfeldt plaziert worden. Und sie waren alle beide amüsant, aber Roger redete so furchtbar viel. Er machte sie ganz wirr im Kopfe, und sie war ohnehin schon wirr genug. Denn daß sie im großen Saal saß und am selben Tisch wie Se. Gnaden und all die anderen zu Mittag aß, das war doch das Merkwürdigste, was ihr im Leben passiert war.

Roger wollte, daß Blenda die Weine koste, aber davor hütete sie sich. Höchstens ein paar Tropfen Sherry ins Wasser – so daß man es kaum sah, nur ganz, ganz wenig schmeckte.

Man denke, Jakob trank Wein ohne Wasser! Daß er sich traute!

Lustig war, daß alle mit Blenda anstießen, die alten Herren aus der Stadt, der Herr Pastor, ja sogar Onkel!

Der einzige, der Blenda nicht zutrank, war Jakob. Das würde sie ihm schon heimzahlen! Blenda fand, er könnte doch wenigstens sehen, wie fabelhaft fein und beherrscht sie ihr Glas hob und es an die Lippen führte, so als hätte sie es nie anders gemacht!

Aber Jakob sah gar nicht nach ihr hin. Er saß schweigsam und verdrossen da und blickte auf seinen Teller und wechselte nur hier und da ein Wort mit Patron Siedel oder mit Per Hyltenius. Per sah auch nicht besonders vergnügt aus.

Feierlich war übrigens die ganze Gesellschaft – natürlich mit Ausnahme von Roger Hyltenius. Man fand allgemein, daß Se. Gnaden recht angegriffen aussah, und das dämpfte natürlich den Ton. Es war offenbar, daß der Hausherr mit sich selbst kämpfte. Mit seiner schlechten Laune, seiner Müdigkeit und seinen körperlichen Schmerzen. Er versuchte, nach rechts und links Gespräche anzuknüpfen, aber in der Stimme war etwas Angestrengtes und Gereiztes, was die Unterhaltung kurz und wenig lebhaft machte. Die Dompropstin hatte sichtbar Angst, daß man ihren Bruder zu sehr ermüden könnte. Sie zog die Gespräche an sich, aber spann sie nicht aus. Sie war weinerlich und resigniert wie bei einem Begräbnis.

Der Baron suchte Kraft, Laune, gesellschaftliche Eingebungen aus dem Glase zu holen. Er trank kolossal. Aber der Wein machte ihn schläfrig. Tante Enberg hatte Blenda gesagt, es sei unfein, viel zu trinken, aber wenn das wahr war, dann mußte diese ganze Gesellschaft recht unfein sein. Denn man folgte in betreff des Trinkens dem Beispiel des Hausherrn. Und auch auf die Gäste schien der Wein einschläfernd zu wirken.

Daß Wilhelm Bergfeldt noch vor dem Dessert einnicken und vom Stuhle sinken würde, davon war Blenda überzeugt. Er sah so seltsam aus, die Augenlider fielen über die halben Pupillen, und er schielte mit langen Seitenblicken, feucht wie die eines Schlaftrunkenen, zu ihr hinüber. Ach, er war bestimmt ein bißchen beschwipst – so wie Johnsson zu sein pflegte! Blenda rückte so weit als möglich von ihm weg, puffte Roger und bekam eine Menge Witze zu hören. –

Die Gäste aus der Stadt erhoben sich bald nach dem Mittagessen. Der Doktor, der Leibmedikus des Barons, hatte heimlich das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Der Zustand des lieben Roger de Sars war wirklich nicht ganz befriedigend, man durfte nicht zu große Wechsel auf seine Kräfte ziehen.

»Also, meine Herren, eine Stunde nach dem Kognak!« kommandierte der Doktor, ein alter Regimentsarzt, gewohnt zu befehlen. Auch Abraham Björner gedachte Order zu parieren. Er gehörte ja freilich zur Familie und hatte überdies einen besonderen Auftrag. Aber dieser Auftrag galt ja für die Zukunft, und der größere Teil der lieben Familie war gleich nach dem Mittagessen unsichtbar geworden. Auf die Dompropstin hatte der Pastor Beschlag gelegt, er hatte sie in das »kleine Kabinett der Baronin« geführt, und von zahlreichen Tassen Kaffee angefeuert, erging er sich jetzt in schönen Worten über die Tugend seiner Gattin und den Edelsinn jedes pflichttreuen Weibes.

Die Jugend befand sich irgendwo unten im Park und schien sich nach der Gesellschaft des älteren Verwandten nicht zu sehnen, was diesen verletzte und dazu veranlaßte, sich zu verabschieden.

Der Baron gab ihm jedoch keinen Urlaub.

»Nein, mein bester Cousin muß sich noch ein wenig gedulden. Wir haben etwas zu besprechen – wenn nur der Pfarrer –

Ach so, du lieber Arvid, du willst uns auch schon verlassen?«

Patron Siedel murmelte etwas von der Entenjagd. Er und Jakob wollten –

»Zum Teufel auch – zum Teufel – der Junge bleibt vorderhand hier. Siehst du, Schwager, es könnte möglich sein – hm – daß wir ihn brauchen. Aber du hast deinen freien Willen, Schwager, ja, gewiß, hm – tut mir sehr leid – aber du bist ja ein so passionierter Jäger –«

Jakob saß schon im Siedelschen Wagen, als dessen Besitzer ihm in feierlichem Ton das Verbot verkündigte, Rogershof zu verlassen. Jakob erklärte, sich nicht darum kümmern zu wollen, aber einen solchen Ungehorsam gegenüber den Befehlen Sr. Gnaden konnte Arvid Siedel nicht zulassen. Volle zwanzig Jahre war er es gewohnt, von Rogershof Ordre zu empfangen und zu parieren, und diese Gewohnheit hatte in ihm den blinden Glauben an die unfehlbare Gewalt des Befehlenden befestigt.

Er sagte seinem jungen Freunde Lebewohl. –

»Warum durftest du nicht mit?« fragte Blenda.

»Das mag der Teufel wissen. Der Baron hat ja ebensoviel Grillen wie eine Sau Läuse.«

»Daß du dich nicht schämst, Jakob! – Warum bist du denn so wütend? War es vielleicht nicht nett, daß wir drinnen bei Tische sitzen durften?«

Jakob würdigte sie keiner Antwort, und Blenda fuhr fort:

»Aber du sahst auch aus, als hättest du Bauchschmerzen? Warum warst du nicht vergnügt? Du bist auch nie ein bißchen dankbar.«

»Ich soll auch noch dankbar sein?«

»Ja freilich, wir hätten doch in der Küche sitzen können.«

»Bei Mutter, ja! Das hätte auch besser gepaßt – wenigstens für mich. Oder ich hätte auch mit Tellern und Schüsseln herumlaufen können wie Vater. Die jungen Herren bedienen!«

»Gott, wie dumm du bist,« sagte Blenda. Etwas mußte sie ja sagen. Aber da Jakob gegen seine Gewohnheit diese Behauptung nicht bestritt, sondern eher zuzustimmen schien, wurde sie ängstlich:

»Was hast du denn? Warum bist du nicht vergnügt? Warum bist du nicht wie immer?«

»Darum,« antwortete er nachdenklich – »darum, weil nichts wie immer ist. Es ist alles verdreht. Ganz Rogershof ist verdreht, du und ich und wir alle. Merkst du das nicht?«

»N–n–nein –«

»Nun, dann ist es wohl nur für mich so. – Aber adieu, jetzt. Ich gehe hinauf und frage, was er denn eigentlich will.«

Blenda war neugierig und wollte mitkommen. Im Flur trafen sie Per. Er bat Jakob, ihm zu zeigen, wo Johnsson wohnte. Aber Jakob übergab den Auftrag Blenda, denn er selbst mußte mit Sr. Gnaden sprechen.

»Hinbegleiten kann ich Sie schon, aber ich weiß nicht, ob ich hineingehen soll. Denn wenn er beschwipst ist, dann will er nur immer küssen.«

»So, so, der alte Sünder! Nun, ich werde schon mit ihm fertig werden. Wir sind gute Freunde gewesen. Er hat Roger und mich auf Onkels Pferden reiten gelehrt.«

»Ihr Bruder hat sich auch schon nach ihm erkundigt.«

»So, dann treffen wir vielleicht deine Tischnachbarn bei Johnsson.« Per schien nicht besonders erbaut von dieser Aussicht.

»Du hattest es wohl sehr lebhaft bei Tisch, Cousinchen?«

»Ja, wenn Sie wüßten, Per, was der alles für Dummheiten ausgepackt hat!«

»Ich hoffe, keine wirklichen Dummheiten – ich meine, nichts Unangenehmes?«

»Unangenehm? Nein, nur lustig. – Aber wissen Sie, Per, der andere –«

»Was war's mit ihm? Was hat er getan?«

Wie heftig er sein konnte, dieser ruhige Mensch.

»Getan hat er nichts! Aber er sah gegen Schluß so schläfrig aus – so waren seine Augen – und wissen Sie, Per, ich glaube, er war im Begriff, einzuschlafen –«

»Nun, das wäre ja relativ unschuldig. – Wohnt er hier?«

»Wenn er nicht unten beim Kutscher steckt, dann pflegt er um diese Zeit hier zu sein. Warten Sie einen Augenblick, ich laufe hinauf und horche.«

Per folgte ihr, aber blieb auf der dunklen Treppe stehen. Er wußte wahrhaftig nicht, wohin das Mädchen gelaufen war. Und auf dem Boden war es unmöglich, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Freilich hörte er Stimmen –

Blenda stand vor Johnssons Tür und horchte. Das war nicht recht, zu horchen – aber sie wollte wissen, wer bei Johnsson war, ob es vielleicht die beiden Tischkavaliere sein könnten. Wie, wenn sie gerade von ihr sprachen? Es kam ihr vor, als ob sie ihren Namen hörte. Es war Johnsson, der –

»Ja, ja, das Mädel ist famos. Mit Respekt zu sagen, eine richtige Fenus, wie man so sagt.

Sssackerlot! Wenn die Herren den Worten eines alten Mannes glauben wollen und eines Mannes, der viele Mädchen aus nächster Nähe besichtigt hat, dann muß ich schon sagen, daß sie ganz ungewöhnlich wohlgestellt und von allen Seiten packschierlich –«

»Ach pfui«, murmelte Blenda. Sie bekam einen heißen Kopf, und die Tränen schossen ihr in die Augen.

Jetzt hörte sie diesen gemeinen Roger:

»Ich beuge mich natürlich dem Ausspruch eines solchen Kenners und will nur bemerken, daß mir das Mädchen ein wenig einfältig vorkommt –«

»Soll das ein Fehler sein? Ich für mein Teil habe die Supergescheiten nie leiden können, denn entweder reitet sie der Teufel ärger als irgend einen Pfaffen, oder sie sind so zimperlich, daß man mit ihnen keinen Schritt weiterkommt –«

Das sollte gewiß witzig sein, obgleich Blenda es nicht verstand. Denn dieser Idiot Roger lachte, so daß die Tür zitterte. Und dann sagte er etwas, sie hörte nicht recht, was es war.

Aber nun war Per das Warten zu lange geworden, er kam die Treppen hinaufgestiefelt.

»Blenda, wo steckst du denn?«

Blenda dachte sich in der Dunkelheit an ihm vorbeizuschleichen und die Treppe hinunterzuhuschen. Antworten konnte sie ja nicht, so nahe wie sie der Türe stand. Und wenn er einmal mit seinem Baß brummte, dann hörten sie ihn ganz sicher.

Per rieb ein Zündhölzchen an, jetzt war es unmöglich, ungesehen an ihm vorbeizukommen. Blenda bedeutete ihm mit dem Finger, sich still zu verhalten.

»Horchst du?« flüsterte er.

Ziemlich verblüfft sah er aus, aber ganz still auf den Zehen ging er. Blenda konnte jetzt wieder hören, was drinnen gesprochen wurde.

»Sssackerlot – im übrigen meine ich, daß das etwas für die Herren wäre. Denn mittellos wird doch Se. Gnaden sie nicht zurücklassen, da sie ja doch seine Tochter sein soll –«

»Ich verzichte auf meine ohne Zweifel glänzenden Aussichten und lasse die Bahn Cousin Wilhelm frei –«

»Nein, ich bitte, ich bitte! Mir genügt es vollkommen, daß ich heute beim Mittagessen die Kleine fast Roger auf den Schoß gescheucht hätte. Im übrigen muß ich sagen, daß eine derartige Verbindung – sei es zur Rechten oder zur Linken – meine überaus entwickelte Moral verletzen würde!«

»Bravo, bravo!«

»Wovon sprechen sie?« flüsterte Per. Seine großen Augen standen gestielt und blinzelten verwirrt.

»Ich bitte, das ist mein vollkommener Ernst. Die Sache ist nämlich die, daß die Verwandtschaft zwischen mir und der betreffenden jungen Dame von ziemlich unklarer Natur ist. Einige halten dafür, daß wir Vetter und Base sind, während hinwiederum andere leider die Existenz eines weit intimeren Blutbandes insinuieren wollen. Papa und unser verehrter Herr Onkel sollen nämlich in der Gunst der schönen Mimi Nebenbuhler gewesen sein. Und wenn auch Onkel den Sieg davontrug –«

»Sssackerlot,« hustete Johnsson.

»Folglich riskiere ich, daß eine Liaison zwischen mir und Schön-Blenda in die Rubrik –«

Heftig, schwer, blindwütig wie ein Stier warf Per sich an die Türe, schlug sie ein oder auf und brach zwischen den lachenden Dreien ein, dem Alten und den beiden Jungen, die in Tabaksrauch und Punschdampf gehüllt dasaßen. Blenda hörte Rufe, donnernde Faustschläge auf die Tischplatte, Pers grollenden wütenden Baß, Fragen, Flüche.

In dem schwachen Schein der Lampe sah Blenda den Querbalken, der zwischen dem Dachgestühl ging. Sie konnte nie über den Boden gehen, ohne einen ängstlichen Blick auf diesen Balken zu werfen. Vor vielen, vielen Jahren hatte sich jemand daran erhängt – wer es nun war.

Sie bekam Angst. Die Mundwinkel zogen sich hinab –

Eine scharfe Stimme durchschnitt den Lärm drinnen:

»Wer zum Teufel kann wissen, daß die Kleine dasteht und horcht!«

Blenda schrie auf und lief davon.


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