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Jakob war allein in die Tanningehütte hinaufgegangen. Er hatte Rogershof am selben Abend verlassen, an dem die Dompropstin angekommen war, und am nächsten Morgen fand er sich auf Björkenäs ein, um etwas in den Magen zu bekommen. Er wurde freundlich empfangen, aber mit vielen Fragen, die er sehr einsilbig beantwortete.
Per Hyltenius suchte seinen Gastfreund auf. Der Patron saß im Kontor, rauchte eine Pfeife und trank Kaffee, die einzigen Beschäftigungen, von denen man sagen konnte, daß sie ihm Freude machten.
»Das ist doch ein eigentümlicher Junge, dieser Jakob. Wenn ich zu ihm spreche, schnauzt er mich an. Hat er etwas gegen mich?«
Nein, das konnte Arvid Siedel sich nicht denken.
»Ist er immer so verdrossen?«
Verdrossen? Jakob? Nein, das hatte Patron Siedel nie bemerkt. Sie pflegten es im Gegenteil schrecklich zu treiben, Jakob und Blenda.
Da haben wir's, dachte Per. Zwischen den beiden hat es wohl einen Liebeszwist gegeben, und darum ist die Laune so schlecht.
»Aber sagen Sie mir, Onkel – was macht er denn eigentlich? An der Landwirtschaft beteiligt er sich nicht, und jagen und fischen kann er doch auch nicht den ganzen Tag. Liest er?«
Ja, allerdings pflegte er sich hie und da ein Buch auszuleihen. Aber was für Bücher das waren, das wußte Patron Siedel nicht. Der Junge durfte in den Bücherschränken herumwühlen, soviel er wollte.
Per Hyltenius hegte eine große und warme Teilnahme für seine Mitmenschen. Namentlich für die jüngeren. Wie seine Mutter hatte er die ausgesprochene Neigung, überall einzugreifen, wo ein Eingreifen überhaupt denkbar war. Es war ihm ein Genuß, die Dinge ins rechte Fahrwasser zu bringen. Und er war sich der Unerwünschtheit seiner Mission in naiver Weise unbewußt. Er meinte es ja so gut. Und er glaubte alle Voraussetzungen zu haben, als Leiter und Ratgeber der Jugend zu fungieren. Der selige Dompropst war während seiner Professorenzeit ein überaus beliebter Lehrer gewesen. Und Per selbst hatte sich schon in jungen Jahren einen ruhigen weiten Blick für menschliche Dinge und Verhältnisse erworben. – Jakob hatte seine volle Teilnahme. Die Stellung des Knaben mußte ja überaus falsch, überaus unbehaglich sein. So täglich zwischen Vater und Mutter herumzugehen und dennoch kaum eine Ahnung von so etwas wie einem Familienleben zu haben – ein interessanter Fall, doch höchst bedauerlich. Ohne alle Führung, unwissend natürlich, eine schlummernde Seele –
Haben Sie etwas dagegen, Herr Enberg, wenn ich Sie zur Jagdhütte begleite? Ich möchte gerne sehen, wie Sie es dort oben haben.«
»Meinetwegen. Wenn es Ihnen Vergnügen macht.«
Per lächelte. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen, mit diesem Jüngling, dachte er. Aber wir werden schon sehen.
»Sie sind wohl sehr oft in Tanninge? Lockt Sie die Jagd?«
»Ja – – aber damit ist es jetzt aus.«
»Mit der Jagd? Aber beginnt denn jetzt nicht die Entenjagd?«
»Freilich, die Entenjagd beginnt.«
»Ach, Sie meinen vielleicht, daß Sie persönlich nicht weiter zu jagen gedenken?«
»Ich meine eigentlich gar nichts. Aber wenn die Leute einen fragen, muß man ja etwas antworten, sonst heißt es, man ist unhöflich.«
»Ja, allerdings« – lachte Per, »da haben Sie ganz recht.
Aber sagen Sie, etwas anderes – finden Sie nicht, daß unser gemeinsamer Freund Arvid Siedel doch ein sehr dürftiges und einförmiges Leben führt? Ich glaube nicht, daß er irgendwelche Interessen hat. Liest er?«
»O ja, eine ganze Masse Colportageromane.«
»Colportageromane! Und dabei hat er doch eine sehr reichhaltige Bibliothek –«
»Ja, Bücher hat er schon. Er hat auch ein sehr lustiges Buch über Buddha.«
»Buddha? Ja so, derartiges lesen Sie? Sie interessieren sich vielleicht für Religionsgeschichte?«
»Ach nein, aber Blenda hat Märchen so gern.«
»Die kleine Blenda, ach so. Und Sie selbst? Was mögen Sie gern?«
»Ich schlafe gern.«
»Nun, das ist ja in gewisser Weise auch ein buddhistisches Ideal –«
»Übrigens ist es ganz lustig, in diesem Buch zu lesen. Es ist so komisch, sich zu denken, daß es wirklich Menschen gibt, die an all das glauben. Ich kann das nicht begreifen. Glauben Sie, daß sie es wirklich glauben – oder tun sie nur so?«
»Die Buddhalegenden? Ach, wunderbarere Dinge haben Verkünder und Gläubige gefunden.«
»Ja, es wird schon so sein. – Und Sie? Was glauben Sie? Ja, ich meine nicht ob an Buddha, sondern überhaupt –«
Per fühlte sich ein wenig, befangen. Aber die Frage war ernsthaft gestellt und verlangte folglich eine ernste Antwort.
»Ich nicht. Ich glaube, daß alles Zufall ist.«
»Mit diesem Glauben stehen Sie leider nicht allein da. Aber er ist trostlos –«
»Ja, warum denn? Warum trostloser als ein anderer? Ob der Zufall oder ein Gott böse ist, das kann sich doch gleich bleiben. Gerade nur, daß man über niemanden fluchen kann, natürlich. Gehe ich zu rasch? Sie gehen wohl schlecht –?«
Per war nicht besonders beweglich, er hatte eine schwere Körperfülle zu tragen. Und außerdem war er so zerstreut. Er strauchelte. Die Steigung war auch ziemlich steil und ermüdend.
Aber als sie endlich die Hütte erreicht hatten, als sie auf dem kleinen Bergplateau standen und den See unter sich hatten, als Per die Schönheit des Wassers und der Berge, des Waldes und der Wiesen gewahrte – da überwand das Entzücken seine Müdigkeit und Unlust. Und Per begann von jener schwedischen Landschaft zu sprechen, deren Schönheit so unendlich wechselvoll und schwer zu deuten ist, so mystisch, so innig, die so leicht von Dur zu Moll umschlägt, von Moll zu Dur. Mit vielen »Sehen Sie hier« und »Sehen Sie dort« versuchte er seine kleine Vorlesung zu verdeutlichen. Aber die ganze Zeit hatte er die unbehagliche Empfindung, nicht verstanden zu werden.
»Da liegt Klockeberga,« sagte Jakob. »Sind Sie da gewesen? Es ist viel größer als Björkenäs, sie haben dort hundertundfünfzig Kühe.«
»Wirklich – so?« Per war etwas verstimmt. Dieser Junge hatte etwas, etwas Widerspenstiges und Sprödes, etwas Verschlossenes und Abweisendes. Oder war er vielleicht dumm?
Nun ja, es konnte ja sein, daß er mehr für das Praktische veranlagt war.
»Sagen Sie, Jakob, was wollen Sie eigentlich werden?«
»Ja, mein Gott, ich habe mich ja hier herumgetrieben und nicht viel daran gedacht. Aber jetzt muß ich wohl zu denken anfangen. Der Baron ist alt, und wenn er einmal hinübergeht, dann wird hier ein anderes Regiment sein.
Wir – Mutter und ich, wir sind ja so eine Art Haustiere auf Rogershof gewesen. Und sind es eigentlich noch immer. Also hat wohl Se. Gnaden zu entscheiden.
Ja, ich sage ja nichts Böses auf den Baron. Er ist ja gut. Aber so ist es einmal.«
»Mein lieber Freund, Sie scheinen wirklich ein bißchen gar zu wenig Selbstgefühl zu haben. Heutzutage existiert doch keine Leibeigenschaft. Ein jeder hat seinen freien Willen –«
»Ja, aber was nützt der? Ich weiß schon, was ich will, aber das hilft mir gar nichts.«
»Natürlich muß man sich innerhalb der Grenzen des Möglichen halten –«
»Das ist es eben. Und das tut man nicht. Und darum hilft alles miteinander nichts.
Sagen Sie, wissen Sie über diesen Buddha etwas Näheres? Nicht nur die Märchen, meine ich. Er muß die Mädchen nicht gemocht haben?«
Per lachte wohlwollend. Er hatte sich auf der niedrigen Vortreppe der Hütte niedergelassen, und wie er da mit gekreuzten Beinen und vorspringendem Bauch saß, war er selbst einem freundlichen Buddha nicht unähnlich.
»Nicht gemocht ist wohl kaum ein sehr glücklicher Ausdruck. Es gehörte ja zu seinem System – wenn ich ein so profanes Wort benützen darf – die Lockungen dieser Welt zu fliehen –«
»Ja, ich weiß. – Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, er muß ein furchtbar heftiger Mensch gewesen sein. Er hatte das Gefühl, daß, wenn er sich nicht ganz im Zaum hielt, sich um gar nichts kümmerte, nur so dasaß und döste und nachgrübelte, dann hätte er gar keine Macht über sich selbst gehabt. Glauben Sie nicht auch?«
»Nein, aufrichtig gesagt, diese Auslegung –«
»Aber ich glaube es. Ein gewöhnlicher ruhiger Mensch wäre doch nie auf diese Idee verfallen. Allem zu entsagen. Der nimmt die Dinge mit Ruhe, ist nie so arg froh und nie so arg verzweifelt. Warum sollte der entsagen –?«
»Sind Sie selbst sehr heftig?«
»Ich – ach, ich bin wie ein Kuhhirt. Und ich denke auch nie daran etwas zu entsagen, wenn ich nicht muß –«
Jetzt, dachte Per, ist der Augenblick gekommen, vorsichtig zu sondieren.
»Sie pflegen ja die kleine Blenda öfters mit hier herauf zu nehmen?«
»Damit ist es jetzt aus. Ich soll von Rogershof fort. Im Herbst oder so.«
»Wirklich? Sagen Sie, tun Sie das aus freien Stücken? Oder geschieht es auf höheren Befehl?«
»Beides. Ich will es, und Mutter will es, und Se. Gnaden will es. Also ist es ja gut.«
»Sie werden sich aber wohl doch mit einem gewissen Bedauern von Rogershof trennen?«
»Vermutlich. Übrigens ist es ein ekelhaftes altes Nest.«
»Rogershof?«
»Ja, es ist wie verhext. Man geht da herum und glaubt, daß alles gut ist und daß es gar nicht anders sein kann. Und plötzlich, eins zwei drei, ist der Teufel los und stellt alles auf den Kopf und verhext einem die Augen, so daß man in allen Winkeln kleine böse Geister sieht.«
Und Jakob ging in die Hütte und schlug die Tür hinter sich zu, so daß das Moos von den morschen Pfosten flog.
Das ist mir ein lebhafter Kuhhirt, dachte Per. Etwas klappt da nicht, das ist klar. Und vermutlich handelt es sich nicht nur um einen kleinen Zwist zwischen den beiden. Nein, hier haben wohl alte Leute die Hand im Spiele –
Konnte die Dompropstin möglicherweise etwas damit zu schaffen haben? Sie wirkte ja augenblicklich auf Rogershof und ließ vermutlich nichts unangetastet. Der Verdacht schien Per recht glaubhaft und spornte ihn an.
Der älteste Sohn der Dompropstin empfand die größte Ehrfurcht vor seiner Mutter. Aber der starke Betätigungsdrang und die in vielen Dingen recht verschiedenen Ansichten der beiden hatten oft Streitigkeiten zwischen Mutter und Sohn verursacht. Ja, Per hatte sogar eine gewisse Neigung, solche Konflikte herbeizuführen.
»Jakob,« rief er. »Kommen Sie doch heraus, ich will mit Ihnen sprechen!«
Er lehnte sich zurück und gab der Türe einen Stoß, so daß sie ächzend aufflog.
»Warum schlagen Sie denn die Tür ein?«
»Ja, hören Sie nur: Sie müssen nett sein und mir den kürzesten Weg nach Rogershof zeigen. Da Mutter schon gekommen ist und Onkels idyllisches Dasein also schon gestört sein dürfte, sehe ich nicht ein, warum ich mich in den Wäldern verbergen muß. Es ist freilich peinlich, als ungebetener Gast zu kommen, aber da läßt sich nichts machen. Wird Onkel böse, so wird Siedel wohl desto vergnügter sein. Und das eine muß das andere ausgleichen.
Wollen Sie? Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen.«
Jakob konnte natürlich nicht nein sagen.
Am selben Morgen, also am Tag nach ihrer Ankunft, hatte die Dompropstin eine sozusagen offizielle Mitteilung über den merkwürdigen Inhalt des geplanten Testamentes erhalten. Se. Gnaden hatte das Geheimnis verraten, sich selbst zum großen Verdruß.
Der Tag hatte so friedlich und unschuldsvoll begonnen. Um elf Uhr hatte Baron Roger sich in die Gemächer der Schwester begeben, um ihr seine Aufwartung zu machen. Se. Gnaden hatte sich von dem gestrigen Unwohlsein vollständig erholt, aber – überaus vorsichtig in allem, was die Gesundheit betrifft – hatte er dennoch den Vorschlag der Dompropstin abgelehnt, eine Visite auf dem Kirchhof in der Grabkapelle zu machen. Ihr erschien es überaus taktlos, diesen Besuch nicht so rasch als möglich zu absolvieren. Aber der Baron, der eine unüberwindliche Abneigung gegen Friedhöfe hatte, erklärte, man müsse zuerst eine Stunde in der Bibliothek verbringen.
Auch diese Stunde gestaltete sich zu einem Opfer an die Geister der Ahnen. Das Allerheiligste des Bücherschrankes wurde von Sr. Gnaden selbst, von Vickberg unterstützt, geöffnet, und heraus kamen die »Memoiren«, die Sarsschen Memoiren, drei voluminöse Manuskripte, in Kalbleder mit Goldschnitt gebunden, mit Wappen und Futter in »coleurs de Paris«.
Die Geschwister setzten sich einander gegenüber, jedes an eine Seite des ovalen Lesetisches. Die Gardinen wurden zurückgezogen, und der Baron, mit einem Vergrößerungsglas bewaffnet, begann zu blättern.
»Ja, siehst du, Jule, das sind nämlich verflucht interessante Sachen. Na, du hast wohl das meiste gelesen, äh? Aber wir könnten doch – laß mich sehen – ja, hier, siehst du – das über den hochseligen König und den Hof durchgehen –«
Der Verfasser der »Memoiren«, der Landeshauptmann und spätere Reichsrat Freiherr Roger de Sars, vermählt mit Abraham Bernhusens Tochter und Stammvater der Linie Bernhusen de Sars auf Rogershof, war seinerzeit einer der bekanntesten Klatschfabrikanten gewesen. Die wenigen Fachmänner, die sich im Laufe der Jahre in die Mühe einer Reise nach Rogershof gestürzt hatten, hatten sich jedoch niemals zu beklagen gehabt. Denn der Zeitverlust, den sie zweifellos erlitten, wurde in anderer Weise reichlich durch die wohlwollende Freigebigkeit des Hausherrn aufgewogen. Jeder Inhaber von Rogershof und der »Memoiren« hatte es nämlich stets als Ehrensache angesehen, die hervorragenden – natürlich hervorragenden – Männer der Wissenschaft zu unterstützen, die versucht hatten, dem schlechten Französisch und der entsetzlichen Handschrift der Memoiren einige Körnchen Wahrheit abzugewinnen.
»Hör mal, Jule – he? – sollen wir das überspringen? Ich kann nicht sehen, was da steht – nein, hol mich der und jener, wenn ich das kann –«
Baron Roger war in einer viele, viele Seiten langen Betrachtung über den Reichshaushalt und die landwirtschaftliche Ökonomie festgefahren. Freilich hegte er die allertiefste Verehrung für die nationalökonomischen Betrachtungen seines Stammvaters – die sich hauptsächlich um die häusliche Branntweinbrennerei drehten –, aber auf jeden Fall, da Jule anwesend war, konnte man sich ja gewisse Auslassungen erlauben und die Zeit ausschließlich zur Dechiffrierung der Anekdoten, der »petits mots« verwenden.
Und gute zwei Stunden lang saßen die beiden Geschwister da und kramten boshafte Lügen über verstorbene Menschen heraus. Wie moralisch und kulinarisch unerzogene Menschen die Trüffelstückchen aus einer Gansleberpastete herauspflücken und das übrige liegen lassen, so verschlang das Geschwisterpaar die pikant schmeckenden Skandale und zollte der schwer verdaulichen pompösen Philosophie alle Achtung, aber wenig Aufmerksamkeit.
Se. Gnaden fühlten sich wirklich ganz aufgepulvert.
»Du Jule! Es ist, hol mich der und jener, wirklich gemütlich, dich da zu haben. He? Ich sage, es ist höchst angenehm, meine Beste. Du könntest wirklich ein paar Tage bleiben.«
»Danke, lieber Roger! Wenn du wüßtest, wie wohl mir deine Worte tun. Ja, ich dachte auch einige Tage zu bleiben. Und morgen haben wir ja deinen Geburtstag.«
»Ja gewiß, ja! Da, meine Beste, werden wir es angenehm haben, recht vergnüglich – ja, ja – was?«
Baron Roger erinnerte sich plötzlich, daß das geplante große Ereignis des Geburtstags allerdings ihm, aber kaum Schwester Julie ein besonderes Vergnügen bereiten konnte. Der Gedanke daran verwirrte ihn, und das um so mehr, als er sich in der Geschwindigkeit nicht klar machen konnte, warum er eigentlich im allgemeinen so wütend auf Schwester Julie war und ihr eine so unangenehme Überraschung zudachte. Herrgott – die Person war doch eigentlich ganz nett!
»Siehst du, meine Beste, das Testament, das wird schon ganz gut ausfallen, und die kleine Malla, hol mich der und jener, werden wir nicht vergessen. He? Siehst du, wenn sie auch nicht im Testament genannt ist, können wir doch immerhin eine kleine Klausel anbringen. Wir können unseren Universalerben beauftragen, ihr einen jährlichen Unterhalt auszuzahlen –«
»Was meinst du, Roger?«
Ja, diesen Ton erkannte Se. Gnaden wieder, und er errötete bis in die Ohrläppchen, bis in die Nasenspitze, die in unangenehmer und unheilverkündender Weise zu jucken begann. Diese verdammte Person – glaubte sie vielleicht, daß sie auf Rogershof regieren konnte, wie zur Zeit des seligen Vaters – ihn kujonieren, ihn zwingen wie damals, als sie ihn zur Heirat und zu vielem anderen zwang? Ja, diesen Ton erkannte er wieder.
»Meinst du – meinst du wirklich, daß mein Kind, deine Schwesterstochter, deines armen Vaters Enkelin, ihr Brot von einem – von einem – von dem erbetteln soll, den du zum Universalerben zu ernennen geruhst? Daß du dich nicht schämst!«
Und dann brach es los:
»Daß du dich nicht schämst, daß du dich nicht schämst, daß du –«
Baron Roger kam gar nicht zu Atem. Erst als Ihro Gnaden direkte Fragen stellte, ob es wirklich wahr sei, das, was man sich vom Testament erzählte, bejahte er mit zornigen bekräftigenden Mienen und halberstickten Flüchen. Er trommelte mit der geballten Faust und dem Stock auf der Tischplatte, er stampfte und bekam furchtbare Schmerzen im Fuße.
Vickberg eilte herbei, bot ihm den Arm, richtete ihn auf. Die Dompropstin brach in Tränen aus. Se. Gnaden wollte in sein Zimmer gebracht werden. Die Dompropstin bestellte Wagen und Pferde.
»Ja, reise du nur!« schrie Se. Gnaden. »Reise nur! Reise nur! Ich will dich nicht vor Augen sehen.«
»Roger! Ich will das Grab unserer Eltern besuchen – verweigerst du mir dies? Verweigerst du mir dies?«
Aber Se. Gnaden hüpfte auf einem Bein aus der Bibliothek, auf Vickberg gestützt, der arme schmerzende Fuß baumelte lose in der Luft.
Die Dompropstin fuhr die Allee hinunter. Sie hielt noch immer das Taschentuch vor die Augen gepreßt; diese abscheulichen, schamlosen Menschen sollten nicht ihre Tränen sehen, sich nicht über ihren Schmerz freuen.
»Mutter!« hörte sie.
Ach, du mein Schöpfer! Per, der Unglücksvogel – hier – in diesem Augenblick.
»Per! Warum bist du gekommen? Habe ich dir nicht gesagt, daß du warten sollst, bis ich dir eine Botschaft schicke?«
»Ja allerdings, aber ich dachte, wenn du schon einmal hier bist –«
»Hier! Ich reise ab! Ich verlasse Rogershof für immer!«
»Jetzt? Sofort?«
»Zuerst muß ich eine heilige Pflicht erfüllen, aber dann, heute abend –«
»Aber liebe Mutter, was hast du nur wieder angerichtet?«
»Ja, natürlich, ich trage die Schuld! Und meine eigenen Kinder müssen mir das in Gegenwart fremder Menschen vorwerfen –«
»Das ist doch nur Jakob Enberg, Mutter.«
»Fahr zu, Niels! Um Gotteswillen fahr zu!«
Und unberührt von menschlichem Leid, stoisch ruhig in der Ausübung seines Berufs, ergriff Niels die Peitsche und stieß ein langgezogenes Tsiii aus. Die Pferde trabten. Die Dompropstin weinte. Sie war untröstlich, verlassen, beleidigt von ihren Nächsten, verraten von ihren eigenen Kindern.
»Ja, sehen Sie,« sagte Jakob. »Wozu haben Sie mich hergeschleppt? Das hätte ich Ihnen im vorhinein sagen können, daß es so kommen wird.«
»Ach, Sie können sich doch denken, daß das nicht Ihnen gegolten hat. Wahrscheinlich sind sich die beiden über irgend etwas in die Haare geraten –«
»Wahrscheinlich über mich. Oder über Blenda.«
»Ach nein, gewiß nicht. Kommen Sie nur, wir wollen das Terrain rekognoszieren.«
Im Hofe begegneten sie Sara Siedel, Frau Enberg und Blenda.
»Was ist denn geschehen?« fragte Per.
»Ach, lieber guter Herr Per, das möchten wir ja gerade so gerne wissen. Plötzlich kommt Ihro Gnaden herausgestürzt und will eingespannt haben und weint nur immerzu. Und dann will sie auf den Friedhof fahren. Und wir wagen natürlich nicht, sie zu fragen. Und Vickberg ist noch nicht aus dem Zimmer Sr. Gnaden herausgekommen. Wir wissen also noch gar nichts.«
Sara nahm Per Hyltenius unter den Arm.
»Per,« sagte sie, als sie in genügender Entfernung von den übrigen waren. »Ich kann mir schon denken, worüber Tante und Onkel gezankt haben. Der Streit drehte sich sicherlich um diesen jungen Mann, den du, nebenbei bemerkt, vergessen hast, mir vorzustellen –«
»Jakob? Was ist denn mit Jakob? Was hat Mutter mit ihm zu schaffen?«
»Ja, das wirst du schon hören, lieber Per, was deine Mutter, und deine Geschwister und du selbst mit ihm zu schaffen haben. Onkel denkt morgen sein Testament zu machen –«
»Nun, und ...?«
»Und Herrn Jakob Enberg zum Universalerben einzusetzen.«
»Ach, wie du redest! Du scherzest wohl!«
»Glaubst du, man scherzt mit solchen Dingen? Wir haben es von Abraham Björner selbst, er soll das Testament schreiben. Ja, du. Björkenäs und Klockeberga und alles, bewegliches und unbewegliches Eigentum.«
Per blieb mit offenem Munde stehen.
»Wenn ich das verstehe –«
»Ja, es ist so, daß man es kaum glauben kann. Alles! Alles und jedes! Du kannst dir denken, daß Tante außer sich ist. So unangenehm!«
»Ja, es ist unleugbar ein – ein bischen unangenehm. In erster Linie für Mutter natürlich und Malla. Herrgott – für uns Burschen – aber für Mutter. Ja, und auch für dich, Sara. Es ist ein wenig ungerecht, finde ich.«
»Ach, lieber Freund: ich! Solange Tante mit meiner Gesellschaft zufrieden ist –«
»Nun ja. Aber wenn ich das verstehe! Wie wütend Mutter sein muß!«
»Ja, nicht wahr, und so boshaft! Sie herzulocken, um sie Zeuge davon sein zu lassen! Wenn nicht der gute Abraham Björner an Tante geschrieben hätte, so wäre sie ja ganz unvorbereitet. Wer konnte ahnen –!«
»Nein, man glaubte doch – ja, aber sage! Und Blenda? Bekommt denn Blenda nichts?«
»Du wirst schon hören. An das Testament ist eine Bedingung geknüpft. Nämlich, daß Jakob Enberg sich innerhalb einer gewissen Zeit mit Blenda verheiratet. Was sagst du dazu?«
Per sagte anfangs gar nichts. Aber plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck von bekümmertem Staunen zur freudigsten Befriedigung.
»Sara, was sagst du? Dann ist ja alles klipp und klar!«
»Klipp und klar? Was meinst du, Per?«
»Ach, ich habe dem Jungen jetzt zwei Stunden lang den Puls gefühlt. Und habe eine ernsthafte Verliebtheit konstatiert, begleitet von heftiger Besorgnis, möglicherweise von der Angebeteten getrennt zu werden. Nein, wenn das nicht lustig ist!«
»Du glaubst also, Per, daß er von dem Testament nichts weiß?«
»Jakob? Nein, das ist ganz ausgeschlossen. Er ist ja felsenfest überzeugt, daß man sie trennen will, der arme Junge –«
»Arme Junge? Ich muß schon sagen, ich finde nicht, daß er so sehr zu bedauern ist. Also, er ist in dieses kleine Gänschen verschossen?«
»Soweit ich die allergeringste Fähigkeit habe, eine Diagnose zu stellen –
Nein, aber! – Jetzt laufen sie ja davon! Jakob! Blenda!«
»Um Gotteswillen, Per, nicht ein Wort von dem, was ich dir gesagt habe. Zu keinem Menschen. Tante würde es mir nie verzeihen!«
Per versprach hoch und teuer, keine Silbe von dem, was sie gesagt hatte, zu verraten. Aber das Vergnügen, die beiden unglücklichen liebenden Kinder ein wenig zu necken, brauchte er sich doch nicht zu versagen.
»Hören Sie, Cousine Blenda, ich weiß nicht, ob ich Sie ordentlich begrüßt habe?«
»Ja, begrüßt haben Sie mich, aber gesehen haben Sie mich, glaube ich, nicht.«
»Da Onkel schläft, könnte ich vielleicht eine kleine Hausbesichtigung vornehmen? Oder was meinen Sie, Frau Enberg? Es ist schon so lange her, seitdem ich da war, es würde mich wirklich überaus interessieren. Ich verspreche, dem Schlafenden nicht zu nahe zu kommen. Die kleine Blenda kann mich ja als Cicerone begleiten. Wollen Sie, Blenda?
Unterdessen kann Jakob so liebenswürdig sein, Fräulein Siedel die Stallungen zu zeigen. Fräulein Siedel interessiert sich so sehr dafür, nicht wahr, Sara?«
Per lächelte listig und neckisch. Aber Sara schien es nicht übel aufzunehmen.
»Ja, wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Enberg?«
Jetzt, Cousinchen, mußt du mir alle unheimlichen Sagen über Rogershof erzählen. Ich glaube, es gibt einige.«
»Geschichten? O ja. Johnsson weiß eine ganze Menge Geschichten. Aber ich darf nie zuhören, wenn er erzählt. Denn Tante sagt, sie sind abscheulich –«
»Der alte Johnsson? Ja, das kann ich mir denken, daß sie gerade nicht so besonders geeignet für deine Ohren sein dürften. Aber weißt du keine schönen Geschichten?«
»Über Rogershof? Nein, ich habe nie eine schöne Geschichte über Rogershof gehört. Ich habe nur gehört, als das Schloß gebaut wurde, da wurden die Arbeiter böse auf ihren Anführer und schlugen ihn tot und begruben ihn im Keller. Aber als Roger de Sars – ja, der damals lebte, natürlich – das hörte, da ließ er sieben von ihnen, die die Rädelsführer waren, den Kopf abschlagen. Und die andern mußten von Haus und Hof fort.«
»Das ist ein unheimlicher Anfang.
Sag, Blendachen, du hast doch Märchen so gerne?«
»Schöne Märchen, ja. Solche, die gut ausgehen. Sie können schon unheimlich anfangen, wenn sie nur gut ausgehen. Jakob weiß viele Märchen. Aber wenn sie schlecht ausgehen, dann bin ich böse auf ihn.«
»So so. Also dann bekommt Jakob Schelte, und dann ist er traurig –?«
»Ach, keine Spur! Der ist nicht so wie andere, die gleich zu heulen anfangen, wenn man ihnen nur ein Wort sagt.«
»Andere? Vielleicht das kleine Fräulein Blenda selbst?«
»Ach ja! Ich bin schon ein richtiges Bähschaf. Ich tue alles, was man mir sagt, ohne auch nur zu mucksen. Es ist auch so gräßlich unangenehm, wenn sie böse auf einen sind.«
»Das kann ich mir denken. In Kleinigkeiten muß man des Hausfriedens halber nachgeben, aber wenn es sich einmal um ernste Dinge handeln wird?«
»Wieso ernste Dinge?«
»Wenn du etwas älter wirst – und zum Beispiel Freier kommen?«
»Ja, dann will ich auch ein Wort mitreden.«
»Wenn Onkel dich zum Beispiel verheiraten wollte?«
»Wenn! Das will er ja schon. Dieser Tage sagte er, ich sollte nun bald Jakob heiraten. Ja, Sie glauben das vielleicht nicht? Aber Sie können Vickberg fragen. Er war drinnen und hat es gehört. Ja, so wahr ich lebe! Ich habe es Jakob erzählt, aber er glaubte, daß ich etwas zusammenlüge. Und dann habe ich es Tante erzählt. Und die nahm es ganz ernst. Ich sah schon, daß sie böse wurde, obgleich sie nicht wollte, daß ich es sehen sollte.«
»Das sind aber interessante Neuigkeiten, das muß ich sagen.
Und Frau Enberg wurde böse, als du ihr das erzähltest?«
»Ja, sehen Sie, Tante ist so komisch, sie versteht gar keinen Spaß.«
»Bist du denn ganz sicher, daß es ein Spaß war?«
»Das können Sie sich doch denken!
Übrigens habe ich mir zurechtgelegt, daß Jakob eine heiraten muß, die wahnsinnig reich ist.«
»Warum denn?«
»Herrgott! Er ist doch so furchtbar faul. Wie würde es ihm ergehen, wenn er nicht eine bekäme, die reich ist!«
Und Blenda sah äußerst bekümmert aus.
»Nun, und du selbst, Cousinchen? Verzichtest du so leicht auf Jakob?«
»Verzichten – ich muß schon sagen, wenn ich je heiraten sollte – aber das tue ich nicht, denn das will ich nicht – aber wenn ich je heiraten sollte, dann müßte es auch jemand furchtbar Reicher sein.«
»Wirklich?«
»Ja. Und dann würde ich alle möglichen guten Dinge kaufen und die allerfeinsten Speisen kochen, die es überhaupt gibt. Und dann würde ich Jakob zu Mittag einladen!«
»Und du glaubst, daß er sich damit begnügen würde?«
»Begnügen! Sie sollten nur wissen, wie der auf gutes Essen hält!«
»Meine liebe Blenda, ich finde, deine Motive sind etwas leichtfertig.
Doch im Ernst gesprochen, ich für mein Teil bin gar nicht so überzeugt, daß Onkel scherzte, als er das sagte –«
Blenda sah ihn groß an.
»Ach, wie dumm Sie sind! – Kommen Sie, jetzt gehen wir in den zweiten Stock. Aber rasch!«
Sie lief voraus. Er folgte ihr ein wenig schwerfällig und langsam, wie es seine Gewohnheit war. Er hatte auch über so viel nachzudenken. So ein kleines Mädchen hat seine Ideen, ist gar nicht so leicht zu begreifen.
Blenda drehte sich um.
»So beeilen Sie sich doch! Denken Sie, wenn Onkel aufwacht!
Gott, wie komisch Sie aussehen!«
Das glaube ich, dachte Per. Vermutlich sehe ich sehr dumm aus, wenn ich nachdenke.
Und diese Vorstellung verstimmte ihn ein wenig. Aber er lachte leise über sich selbst und fragte:
»Findest du, Cousinchen, daß ich dumm aussehe?«
»Ja, aber Sie sind doch furchtbar nett,« gab Blenda zurück.