Alice Berend
Frau Hempels Tochter
Alice Berend

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Endlich hatte die Sonne begriffen, daß die Menschen ihre glühende Freundschaft nicht wollten. Und weil sie, wie alle weiblichen Wesen, zur Übertreibung neigt, blieb sie sogleich ganz fort.

Der erste Septembermorgen war grau und 167 griesgrämig, und schon in den ersten Vormittagsstunden begannen schwere Tropfen niederzufallen, wie wenn große beleidigte Augen da oben weinten.

Von der Wunderwiese schwanden die bunten Farben, die Klingeln und Trompeten waren plötzlich verstummt. Vor den verhangenen Buden war ein rascher Bach entstanden, auf dem die Kinder der Dame ohne Unterleib Schiffchen gleiten ließen. Unter einem tropfenden Zelt saßen die Löwenbraut und die Brunnenfee, warme Tücher um die Schultern. Sie stopften Strümpfe und sprachen von ihren Männern. Gewohntes schätzt man gering. Die Löwenbraut sagte gähnend:

»Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, kann man ohne sie bestehen.«

Melusine war erst seit dieser Saison mit ihrem Neger verheiratet. Sie seufzte und sagte:

»Wenigstens sollte man bei derselben Farbe bleiben.«

Tusnelda wußte nicht recht, ob sie vom Neger oder vom Stopfgarn sprach, aber sie war zu faul, um zu fragen. Auch die Neugierde hat ihre Jahre.

Die Männer hörte man im Nebenzelt fluchen. Sie spielten Skat mit dem Riesen.

»Der Skat ist das einzige, was nicht teurer geworden ist,« sagte die Löwenbraut nach einer Weile.

Der Regen strömte heftiger, und mancher Tropfen verirrte sich unter das dünne Zelt. Die Brunnenfee sagte, daß ihr Nässe widerlich sei, und stand auf, um 168 sich eine Tasse Kaffee auf dem Spirituskocher zu wärmen. –

Um Hempels Dach gurgelte die blecherne Regenrinne wie ein Sänger, der Halsschmerzen hatte. Der See wogte wie ein kleines Meer, aber niemand kam in die Badeanstalt, auf die der Regen wütend zum Appell trommelte.

Erst um die Mittagsstunde hörte man Schritte. Der Herr Stammgast Dr. Simrock eilte unter einem großen Regenschirm näher. Unter dem Arm trug er ein Paar Schlittschuhe.

»Wenn der Sommer vorbei, kommt der Winter heran,« sagte er und übergab die Schlittschuhe Frau Hempel. Sie sollte sie ihm für den ersten Eistag bereit halten. Dann verschwand er hinter den Brettern, um noch ein kurzes Bad zu nehmen.

»Ein drolliger Zwickel,« sagte Frau Hempel, als er fort war.

»Da sollten Sie erst einmal zu uns kommen,« sagte Herr Otto und meinte damit die Irrenanstalt, in die er morgen zurückkehren wollte.

Schon in der Frühe hatte er zu packen begonnen und erklärt, daß für diesmal der Sommer vorbei sei. Er zog die Stecknadeln aus den Bildern seiner treuen Patienten, pustete den Staub von ihren melancholischen Gesichtern und schob sie in seine Morgenschuhe, die er in den Rucksack steckte. –

Hempel hatte seine Werkstatt am Küchenfenster 169 aufgeschlagen, wo er an einem Paar alter Schuhe hämmerte.

Als sie um den Mittagstisch saßen, sah Frau Hempel lächelnd auf Laura. Seit langer Zeit hatte sie wieder einmal die richtige Ruhe, um sich ihr reizendes Mädchen anzusehen.

»Du siehst ja so geheimnisvoll aus,« sagte sie.

Laura wurde rot und sagte, daß es sicher bald gutes Wetter werden würde.

»Hübsche Mädchen prophezeien immer gutes Wetter,« sagte Herr Otto ärgerlich, denn er war schon ganz im Winter und in der behaglich durchheizten Irrenanstalt.

Der Regen wurde stärker, und ein scharfer Wind jagte den klagenden Sommer davon. Auf der Wunderwiese packte man zusammen, was man im Frühjahr aufgebaut hatte. Zwischen den sausenden Wasserstreifen standen magere Pferde, die zusammenzuckten, wenn man auf den Karren hinter ihnen Bretter, Balken und feuchte Flitterfetzen schleuderte. Wie ein großer Leichenzug bewegten sich die bepackten Wagen langsam durch die aufgeweichte Allee zwischen fallenden Blättern dem Bahnhof zu.

»Wie früh es heute dunkel wird,« sagte Frau Hempel und zündete die kleine Lampe an, die über dem Herd hing. Sie wollte Kartoffelpuffer braten, um Herrn Otto den Abschied schwer zu mache . . .

»Bald wird es hier tüchtig einsam sein,« sagte Herr 170 Otto zufrieden und streute sich mit Finger und Daumen Salz auf den Kartoffelkuchen, wobei er die Augen zukniff. »Bei uns ist es anders,« erklärte er weiter, nachdem er das Essen gekostet und gelobt hatte. »Die halbwegs Normalen machen des Abends Musik, und die andern verüben andern Radau. Ich bin Leben um mich gewohnt. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.«

Hempel meinte kauend, daß das seine Richtigkeit habe und ein einzelner Schuh zu nichts tauge.

Laura dachte: gestern um diese Zeit. – – –

Frau Hempel schwieg. Sie brauchte bei einem solchen guten Essen keine Unterhaltung. Nur einmal sagte sie:

»Schwatzt nicht so viel. Man merkt ja gar nicht, was man ißt.«


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