Alice Berend
Frau Hempels Tochter
Alice Berend

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Kalte, graue Tage kamen, die gar nicht zu erwachen schienen und in Dämmerung hinschmolzen, bis sie die Nacht in den Sack steckte. Aber Laura hatte Zerstreuung gefunden für die einförmige Kette der Stunden. In dem gräflichen Schauspiel vor ihrem Fenster trat eine dritte Person auf. Der junge Graf war über die Feiertage nach Hause gekommen.

Auch von ihm wußte Laura mancherlei durch die Klageseufzer seiner Mutter. Er war Bankbeamter in einer kleinen Stadt im Reich und der beste Sohn der 39 Welt. Er schämte sich, arm zu sein, und wollte nie Graf genannt werden, aber er war ein Graf vom Scheitel bis zur Sohle.

Laura sah ihn sich vom Scheitel bis zur Sohle an und fand, daß er wirklich ein vornehmer Mann zu sein schien. Sie verglich das gescheitelte hellgelbe Haar, das feine Gesicht, die schmale Nase und die schlanke Gestalt mit Herrn Bombachs dicker, kurzer Figur, mit seinem runden und kahlen Kopf. Ihn würde niemand für einen Grafen halten und wenn er sich eine Krone auf den Kopf leimen ließe.

Laura beobachtete den Grafen, wie er freundlich mit der Mutter sprach, deren Gesicht in diesen Tagen nicht so kummervoll in die Länge gezogen war wie sonst. Sie hätte gern gehört, was gesprochen wurde. –

Graf Egon sagte seufzend zu seiner Mutter: »Die vielen Fensteraugen, die einen anstarren. Man vergißt ganz, daß es auch einen Himmel mit Zubehör gibt.«

Und während er noch den Himmel suchte, sah er unvermutet in Lauras blanke Augen, die wieder eifrig ihres unterhaltenden Amtes walteten. Erschrocken wandte sie sich jetzt ab, und der Graf sah lange nichts anderes als ein Stück nußbrauner Zöpfe über einer hellen Wange und einem rosigen Ohr.

Aber Geduld belohnt sich, und Neugier macht Mut.

Nach einer Weile kamen die klaren blauen Augen unter den dunklen Wimpern wieder zum Vorschein.

Ein Vorgang, der sich nun häufig wiederholte, wenn 40 der Graf und Laura hinter ihren Fenstern saßen. Er lesend und sie nähend.

»Wer ist eigentlich die junge Dame, die bei Bombachs zu Besuch ist?« fragte der Graf einmal bei Tisch seine Mutter.

»Das ist keine Dame,« antwortete sie. – »Es ist das Kindermädchen, die Tochter der Portiersleute.«

Gedanken können Sprünge machen.

Die Gräfin stieß einen langen Seufzer aus und sagte, daß die Portiersleute unten im Keller tausendmal sorgloser lebten als sie hier oben. Und damit war diese Unterhaltung erledigt. – –

So zog für alle das Weihnachtsfest auf.

Laura hatte erst der Bombachschen Feier mit dem großen Baum und dem kleinen Säugling beigewohnt und saß jetzt unten im Keller bei der kleinen Tanne und den Eltern.

»Du hast's gut,« sagte die Mutter. »Du hast zwei Weihnachtsbäume.«

Laura sah lächelnd auf die flackernden Kerzen und dachte, daß sie eigentlich Weihnachten mit drei Festtannen feiere.

Denn sie hatte sich auch an dem kleinen Baum der Grafenfamilie erfreut. Der junge Graf hatte die Lichter angezündet. Sein Gesicht trug einen wunderbaren Ausdruck dabei. Aber dann hatte der Zappelgraf die Gardinen zugezogen. Alles war dunkel geworden, und 41 der Hof schien wie ein tiefer Abgrund, der sie von drüben trennte.

Es klopfte an die Scheiben, und Laura fuhr aus ihrem Sinnen auf. Kempkes kamen, um Weihnachten feiern zu helfen, wie jedes Jahr.

»Das ist ein verteufelt kaltes Wetter,« sagte der Schenkwirt und rieb sich die dicken, roten Hände, deren Finger immer schon gekrümmt waren, um Schnapsgläschen zureichen zu können.

Er setzte sich neben Hempel, bot ihm eine Zigarre an, und bald waren beide im Gespräch über Spiritus und Stiefel.

Frau Kempke bewunderte die Morgenschuhe, die Laura dem Vater reich mit Rosen bestickt hatte, und legte das schöne Wolltuch, das sie der Mutter gehäkelt hatte, probeweis um die Schultern.

»Ja, solch ein Töchterchen,« sagte sie.

Frau Hempel bemerkte mit wenig Vergnügen, daß Fritz bei Laura stand. Er trug einen schwarzen Feiertagsanzug, aus dem eine tütenblaue Seidenkrawatte leuchtete. Aus dem Ärmel blendeten weiße Manschetten, die er bis auf die Fingerknöchel hinausgezogen hatte. Er erzählte Laura, daß er sich selbständig machen wollte, um ein kleines Wirtshaus zu eröffnen.

»Zum blauen Mädchenauge« sollte es heißen.

Laura dachte, daß er auch mit Manschetten keine Spur von einem Grafen an sich habe, und wendete ihre Blicke wieder dem lichten Tannenbaum zu.

42 Als der Punsch gebraut war, den Kempkes mitgebracht hatten, klopfte es an die Tür. Es war die Köchin von Bankdirektors. Sie stellte eine Schüssel mit Bratenresten und einen Teller voll Süßigkeiten auf den Tisch und rief:

»Kinder, ich mußte noch zu euch kommen. Denkt euch, sie haben ihr ihn unter den Weihnachtsbaum gelegt.«

»Wen denn? Was denn?« rief man durcheinander.

»Na, den Leutnant, unserm Fräuleinchen. Als sie zur Bescherung hereinkam, stand er in Galauniform unter dem Weihnachtsbaum und salutierte. Nun haben wir eine Braut im Haus, und jede von uns hat zwanzig Mark Trinkgeld bekommen.

Bei den letzteren Worten ging ein Raunen durch die Anwesenden.

Die Köchin machte es sich gemütlich und ließ sich gern ein Glas Punsch einschenken. Sie war freundlicher zu Fritz Kempke als Laura. Sie war in dem Alter, wo die Mädchen den Wert eines Mannes, der weder verheiratet noch besonders verunstaltet ist, zu schätzen wissen.

Als der Zeiger auf Mitternacht rückte, mußte Laura gehn, denn länger reichte ihr Urlaub nicht. Die andern blieben noch zusammen. Der Vater begleitete sie die beiden Treppen hinauf, und ehe sie in die Tür ging, sagte er wieder einmal:

»Gut, daß wir dich unter demselben Dach haben.«

43 Sobald Laura in ihrem Zimmer war, ging sie ans Fenster und versuchte, durch die Scheiben zu spähen.

Dunkelheit preßte sich gegen das Haus, und nichts war zu unterscheiden.

Nachdem sie den Säugling neu gebettet hatte, übersah sie noch einmal die Sachen, die sie heute erhalten hatte. Auf dem Kalender war ein wunderhübsches Bild. Ein alter Mönch spielte Geige, und zwei reizende kleine Engelchen sahen ihm heimlich zu und belauschten ihn. Sie stellte den Kalender ans Fenster, so daß die Seite mit dem Bild zum Hof hinausguckte. Vielleicht hatten auch andere Leute im Haus Freude, wenn sie am andern Morgen das Bild bemerkten.

Dann ging sie schlafen.

Aber als der Morgen kam, waren die Scheiben fest zugefroren, und wie weiße Mauern schlossen sie die Außenwelt ab.

Als sie wieder auftauten und durchsichtig wurden, war man schon im neuen Jahr. Dort unten saß die Gräfin allein am Fenster, ihr Gesicht war wieder tief gekränkt, und ihr Zopf blieb bis mittags in der Schublade.


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