Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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XXIII.

Nizza, das lärmende Stelldichein des eleganten Weltbürgertums, vertrug sich nicht mit dem heißen Bedürfnis nach Einsamkeit, das Renée empfand. Meist ließ sie sich am Rande des Juan-Golfes nieder, in einer Umgebung, die sie von idealer Schönheit gefunden haben würde, hätte sie sie nicht, wie früher die Pyrenäen, durch die untröstliche Trauer ihres Herzens gesehen.

Auf halber Höhe eines mit Fichten bewachsenen Hügels beherrscht eine, im orientalischen Stile gebaute, weiße Villa mit zackigen Zinnen und blumengeschmückten Balkonen den sonnigsten Garten, in den man auf zwei, mit Geranien beränderten Steintreppen, die einem Springbrunnen zum Rahmen dienen, hinabsteigt. Eine wahrhaft afrikanische Vegetation: Aloes, Datteln, Kakteen und das wie frisch gemalte Grün von Citronenbäumen gleitet in sanften Abhängen bis zu dem Wege herab, der an dem Mittelländischen Meer, dem blauen, strahlenden, ruhigen Ocean, entlang führt.

Diesen Feenpalast hatte der Hohn des Schicksals vor einigen Jahren in ein Hotel umgewandelt, dessen großer Reiz, abgesehen von seiner unvergleichlichen Lage, darin bestand, daß es äußerst spärlich besucht war. Es war sogar so selten besucht, daß man es seitdem seiner ursprünglichen Bestimmung als Privathaus hat zurückgeben müssen, und es durch die Gegenwart von Fremden, so wenige ihrer auch waren, nicht mehr entweiht ist.

So war das Heim beschaffen, das Renée sich auswählte; hier lebte sie zum mindesten ebenso zurückgezogen, wie in Cauterets, ohne daß etwas sie von ihrer fixen Idee ablenken konnte, von der sie übrigens ebenso wenig sprach, wie eine Mutter, die ihr Kind verloren, von ihrer Trauer spricht. Gewisse Wunden erweitern sich und bluten desto stärker, je mehr man Sorge darauf verwendet, sie zu verbergen.

Wenn die Morgensonne in Strömen und in Gesellschaft berauschender Düfte in ihr Zimmer drang, wenn sie von ihrem Fenster aus das sich ewig gleich bleibende Grün der Korkeichen, das sich gegen das immer heitere Blau des Himmels in dichten Massen abhob, betrachtete, erregte diese Fröhlichkeit, diese Unverwüstlichkeit der Naturkräfte, wie eine ihrer Mutlosigkeit und Schwache ins Gesicht geschleuderte Herausforderung ihren Unwillen. Sie ging trotzdem aus, in der Hoffnung, draußen einige Zerstreuung, die stets vor ihr floh, zu finden; allein mit ihrem Kummer stieg sie die steilen, mit duftendem Gehölz bestandenen Böschungen hinauf, die sich hinter dem Hotel gleich Stockwerken bis zum Gipfel des Berges übereinander türmten. Hier schweifte ihr Blick bis zu dem von schneeigen Linien eingefaßten Horizont, mit dem frischen Grün darunter, das die stumme, in blauen Lichtern glänzende Welle schmeichelnd umspielt. Hier ist Eden, oder vielmehr hier wäre Eden, wenn man die seelische Stimmung mitbrächte, die im Paradiese herrschte; aber ein leiser Vogelsang ließ Thränen in Renées Augen steigen, der Anblick einer Blume erinnerte sie an alle die, die ihr im Theater zu Füßen geworfen waren, und die man jetzt an andre verschwendete.

Die Zeitungen, die sich so viel mit ihr beschäftigt hatten, sprachen von ihr nicht viel mehr als von vorjährigem Schnee; man hatte sich schließlich an jene Pacconi, der man zuerst alles Talent, alle Anmut abgesprochen hatte, gewöhnt; man stellte keine Vergleiche mehr an, man begrub Renée Christen in Vergessenheit, wie wenn sie schon tot wäre. Tot! Das Wort tönte schließlich in den Ohren der Enterbten wieder, zuerst wie ein Totenglöcklein, dann wie eine sanfte, süße Melodie voll verderblicher Lockungen.

Sie erinnerte sich mit Erstaunen des Unwillens, den Lilys Selbstmordgedanken damals, als ihr Gatte sie betrog, in ihr hatten aufsteigen lassen. In jener Zeit begriff sie nicht, wie jemand freiwillig sein Leben, auch nur um eine Sekunde, kürzen könnte ... Hatte sie doch so viel Veranlassung, sich des ihrigen zu freuen. Das alles hatte sich sehr geändert.

Wie oft hatte sie sich, wenn sie ganz in der Nähe des Meeres, in einer Felsvertiefung saß, die eine natürliche, gegen frische Brisen geschützte Bank bildete, gesagt, daß sie nur einen Schritt nach vorwärts zu machen und sich fallen zu lassen brauchte. Das wäre ein Unfall und würde in der Welt nicht mehr Geräusch machen, als die Kieselsteine, die man zum Vergnügen über die Wasserfläche hüpfen läßt, bei ihrem Aufschlagen.

Eine Nachtigall ohne Stimme ist die elendeste aller Kreaturen.

Was hat sie auf der Welt noch zu erwarten?...

Aber ihre hartnäckige Hoffnung zu genesen, hielt sie noch zurück. Sie kämpfte die Versuchung nieder, nur um sich in den so traurigen Stunden, die sie beim Neigen jedes Tages in ihrem Zimmer verbrachte, von neuem von dem Schwindel ergreifen zu lassen. Die Sonne geht unter, die Luft kühlt sich plötzlich ab, die Kranken sind gezwungen, Dach und Fach aufzusuchen. Dann bricht für sie die Dämmerstunde an, die alle fürchten, die weder Gefährten, noch über etwas Freundliches nachzusinnen haben.

Vor einem mit Tannenzapfen gespeisten Feuer sitzend, lauschte sie, während draußen der Mistral brauste, den düsteren Ratschlägen des Dämons Langeweile, faßte sie für den kommenden Tag grausige Entschlüsse. Dann riß sie sich plötzlich, über sich selbst entsetzt, aus der Finsternis los, die ihre Sinne verwirrte, und ging in den von einer Lampe erleuchteten Salon, um den Flügel, der unter ihren Fingern schluchzte, zu bearbeiten, oder machte der Erregung ihres Herzens auf dem Papiere Luft, in Briefen, die immer an Etienne gerichtet, niemals abgesandt wurden. O Gott, er vergaß sie, und sein Vergessen war noch Edelmut; er hätte wahrlich das Recht gehabt, sie zu hassen, ihr jetzt zuzurufen: Gott bestraft dich, er ist gerecht; du hast mich von dir gestoßen, als ich dir nicht von nöten war; jetzt leide du!

In ihren bitteren Zweifeln sagte sich Renée, daß er, wie jedermann, ohne sein Wissen, an ihr vielleicht nichts als ihre Stimme geliebt habe. Und in der That – was war an ihr ohne diesen Reiz?

Und doch suchten ihre Gedanken immer nur bei Etienne Zuflucht. Sah sie ein junges Liebespaar Hand in Hand vorübergehen, verirrte sich ein Kind beim Spielen in ihre Nähe, bot sich das Familienleben in irgend einer Form ihrem Auge, so sagte sich Renée: So hätten wir es haben können. – Und es war unabänderlich Etienne, dem sie sich zugesellte, wenn sie von diesem eingebildeten »Wir« sprach.

Über diesen traurigen Betrachtungen und Anfällen von Verzweiflung verging der Winter; ein vorzeitiger Frühling schmückte, während in weniger begünstigten Klimaten noch alles im Winterschlafe lag, den Rasen mit Anemonen, bestreute die Gründe, soweit das Auge reichte, mit zarten, duftigen Blumen, den unzählbaren vielartigen Kindern der Flora der Provence, und heftete an die schlanken Zweige der Tamariske rosenfarbene Perlen. Ein Jahrestag, den sie stets pietätvoll begangen hatte, erinnerte die Waise an andre Schmerzen, die ersten ihres Lebens. Wie oft beschwor sie die Mutter, die sie verlassen hatte, ihr von oben herab Mut zu senden! Wie oft glaubte sie ihre Antwort zu hören, die ihr mit der ergebenen Sanftheit, die sie ihr als Mangel an Thatkraft vorzuwerfen so oft in Versuchung geraten war, gegeben wurde: »Bescheide dich!«

Der Gedanke an den Tod hatte für Renée eine sonderbare Anziehungskraft, der an ein Verzichten hingegen, das ihr als Pflicht auferlegt werden sollte, war ihr unerträglich. Sich an das Elend gewöhnen, das sich ihr, wenn sie nicht nach einer undankbaren, poesielosen Arbeit, wie z. B. Stundengeben suchte, bald nahen mußte; sich zu einer Wunschlosigkeit herabstimmen, sie, die ein ewiges execelsior in der Seele, nahe der Sonne geschwebt? Nein, tausendmal nein! Hatte man sie in das Land geschickt, wo die Sonne die von der Wissenschaft im Stiche Gelassenen heilen soll, um so zu enden? Grausame Heilung, wenn sie sich auf die körperliche Gesundheit beschränken, sich wie seither nur durch eine leichte Zunahme und rote Backen bethätigen sollte. Da sich die Stimme nicht wieder eingestellt hatte, was kümmerte sie der Rest!

»Sie werden sie Schritt für Schritt wiederbekommen, es ist Besserung eingetreten, lernen Sie nur warten!« wiederholte ihr, indem er diese Versicherungen mit einigen technischen Erklärungen begleitete, der Arzt, dem man sie empfohlen hatte, ein optimistischer, wohlwollender Greis, dem seine leidenschaftliche Patientin viel zu schaffen machte.

Aber Renée hatte den Glauben an ihn und an alle Welt verloren.


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