Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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II.

In dem Vorhofe, auf dem das vor kurzem noch üppig wuchernde Grün sorgfältig ausgejätet war, überwachte eine nach den Vorschriften der letzten Mode und mit höchster Eleganz gekleidete Dame das Auspacken einer Unzahl der verschiedensten Sachen, die das wurmstichige Mobiliar des Schlosses vervollständigen sollten.

Sobald Etienne, dessen Pferd von einem Stallknecht in Empfang genommen wurde, sich vor ihr mit der Frage verneigt hatte, ob er den Vorzug habe, Frau Harris gegenüberzustehen und während er noch über den Zweck seines Kommens Aufschluß gab, schüttelte sie ihm nach amerikanischer Sitte vertraulich die Hand.

»Ich habe allerdings schon nach den Schlüsseln aller dieser alten Kasten und Truhen gesucht,« sagte sie in ziemlich gutem, wenn auch manchmal stockendem Französisch. »Wissen Sie, Herr Loysel, daß ich das Antike schon beinahe satt habe? In den Vereinigten Staaten haben wir natürlich keine Ruinen, nichts das in eine längere Vergangenheit zurückreichte, geschweige denn in eine feudale. Gerade deshalb gefiel mir, als ich im vergangenen Monat mit meinem Sohn und meinen Töchtern auf einem Ausflug hier vorbeikam, dieses alte Herrenschloß so, wie es inmitten seines verwilderten Parkes in Stücke zu fallen droht, auf den ersten Blick. Ganz wie Dornröschens Zauberpalast! Sie können sich keinen Begriff davonmachen, wie verlockend der Gedanke unter einem solchen Dache zu wohnen, für Amerikaner ist, zumal nach dem Hotelleben, das wir seit unsrer Abreise führen. Dank der Freundlichkeit Ihres Herrn Vaters durften wir uns die Räumlichkeiten ansehen: die Möbel machten auf uns den Eindruck ehrwürdiger Reliquien. Alles so sonderbar, so unbequem, so eigen, meine ich. Wie man uns sagte, daß das Schloß erst seit zwölf Jahren unbewohnt sei, wollten wir unsern Ohren nicht trauen. Ist es möglich, daß man sich heutzutage mit diesen wackeligen Stühlen, die aus dem Mittelalter zu stammen scheinen, begnügen konnte? Nun, was schadet's! Während des Sommers können sich sogar Frauen in ein Zeltleben finden. Wir haben uns das Vergnügen, die schöne Jahreszeit in diesem Schlosse des sechzehnten Jahrhunderts zu verbringen, nicht versagen wollen. Im Auslande soll man nichts unversucht lassen, und meine Töchter schwärmen für alles Malerische! Die ältere zeichnet, ihre Skizzen sind entzückend. Sie werden sie ja sehen – denn ich hoffe, wir werden oft die Freude haben, Sie bei uns zu begrüßen, Herr Etienne Loysel,« schloß Frau Harris, und während sie sich mit einem letzten Blick davon überzeugte, daß das Piano, Teppiche und einige bequeme Sessel, die von Paris nachgesandt waren, die Reise ohne Havarie überstanden hatten, lud sie den jungen Mann ein, sie in den Salon zu begleiten.

Die melancholische Verlassenheit dieser Zimmer, denen selbst zu Lebzeiten des Barons von Souvray, der zu arm war, um sie standesgemäß zu bewohnen, ein Grabeshauch anhaftete, stimmte ganz und gar nicht zu den Gepflogenheiten des Wohllebens und Reichtums, mittels derer die Neuangekommenen sich das sogenannte Zeltleben ermöglichen wollten. Trotzdem konnte Etienne, wie er der rauschenden Schleppe der Amerikanerin folgte, nicht umhin, das hübsche Bild zu bewundern, das sich seinem Auge bot: wie ein Sonnenstrahl, vielleicht etwas zu lärmend, erschien ihm diese Fee des Fortschritts inmitten der »Reliquien«, der Rüstungen aus den Tagen des Rittertums, der von der Zeit geschwärzten, schön geschnitzten Panele und der von Ratten zernagten Gobelins. Über das alles schweifte ihr Auge halb bewundernd, halb spöttisch, als sie sich umwendend zu Etienne sagte: »Bequeme und elegante Sachen sind im Grunde genommen vorzuziehen, und zu Hause haben wir alles tausendmal schöner. Immerhin ist es vergnüglich, einmal dem prosaischen Leben ein Schnippchen zu schlagen und sich in Phantasien zu ergehen. In dem Alter, in dem meine Töchter sind, liebt man das Phantastische, das Nicht-Alltägliche, und ich bin ja die Sklavin meiner Töchter ...«

Etienne wunderte sich darüber nicht mehr, nachdem er den entzückenden beiden Damen, die sich Grace und Lilian Harris nannten, vorgestellt war. Von den Fenstern des großen Salons aus sah er sie in weißen, unter einer Flut von Bändern fast verschwindenden Musselinkleidern à la Watteau näher kommen; ein spitzenberänderter Sonnenschirm warf auf ihre aneinander geschmiegten Köpfchen von ganz exotischem Liebreiz durchsichtige Schatten, Grace war hochgewachsen, von regelmäßiger, zarter Schönheit; Lilian oder, um sie bei ihrem Kosenamen zu nennen, Lily, noch Kind, voll ausgelassenster Lustigkeit, animal spirits, wie ihre Mutter sagte, deren Geplauder häufig mit englischen Brocken, für die es schwierig ist, den deutschen Ausdruck zu finden, verquickt war.

Fräulein Lily, die wie ein Sturmwind hereingebraust kam, blieb erstaunt vor Etienne stehen; ihr blondes Haar flatterte zerzaust in ihr Schelmengesicht, und unter dem Arm hielt sie ein Stück von ihrem Kleide abgetrennter Einfassung, so daß ihre kleinen Füße höher als nötig sichtbar wurden. So, im Rahmen der Thür stehend, erinnerte sie an ein Bild Reynolds oder von Lawrence. Dabei erzählte sie lachend, daß in den Dornsträuchen am Fußweg hängen geblieben sei, was an ihrem Kleide fehle; der Park wäre ja der reine Urwald.

»Welche Stille, was für dunkle unergründliche Dickichte! Man muß nach Frankreich gehen, um so nahe der Hauptstadt einen solchen verlassenen Erdenwinkel zu finden. Ich komme mir wie verzaubert vor, und die schönsten Ammenmärchen fallen mir ein.«

»Sie ist toll genug, um steif und fest zu behaupten, es gäbe hier Gespenster, die sich zur Mitternacht mit dem Glockenschlag zwölf zu einem Spaziergang einfinden,« rief Fräulein Grace lachend. »Frage doch Herrn Loysel danach, Lily, er ist ja hier zu Hause.«

Etienne, den der Überfall dieser von Worth gekleideten Nymphen zuerst etwas außer Fassung gebracht hatte, wurde nach und nach vertrauter. Er erzählte ihnen die mit Souvray verknüpften Sagen, die mit denen des Fontainebleauer Waldes nahe verwandt sind. Dieser wird, wie man weiß, von dem Grand Veneur heimgesucht, einer Spielart des beinahe beiden Welten bekannten »Wilden Jägers«, der ja in allen Waldungen mehr oder minder sein Wesen treibt. Schon Sully erzählt uns von dem behaarten Riesen, der, von geisterhaften Hunden gefolgt, einem nicht weniger schemenhaften Eber nachstellt, und König Heinrich IV. hat ihn sogar mit eignen Augen an der Spitze seines Toten-Jagdzuges reiten sehen. Auch die Schloßherren auf Souvray hatten in verschiedenen Generationen ein Hühnchen mit dem grausigen Nachbar zu pflücken, und einer von ihnen, der es ihm an verwegenen Jagdstückchen gleich that und plötzlich verschwand, ohne daß man jemals auch nur eine Spur von ihm gefunden hätte, war der Sage nach vom Grand Veneur in die Hölle der gottlosen tollen Jäger geschleppt, die Gott nicht fürchten noch den heiligen Hubertus.

Die Fräulein Harris fanden Etiennes Erzählung interessant und reich an Lokalfarbe, was ihn noch mehr ermutigte, aus sich heraus zu gehen, so daß er sich in seiner glücklichsten Stimmung gab. Man erklärte ihn einstimmig für einen gewandten Erzähler und behielt ihn zum Frühstück da, damit er auch mit Jeff, der Perle der Familie, Bekanntschaft machen könne.

Jefferson Harris, ein hoch aufgeschossener Jüngling von fünfzehn Jahren, der noch nicht recht wußte, was er mit seinen Gliedmaßen anfangen sollte, erschien auch bald darauf, eine Angelrute in der Hand, und beklagte sich darüber, daß man hier nichts wie Frösche fangen könne. Man müsse die Gräben und den Parkteich, die zu wahren schwimmenden, von Schilf und Wasserrosen überwucherten Gärten geworden seien, gründlich reinigen. Fräulein Lily dagegen warf sich zum Verteidiger dieser üppigen Vegetation auf, die, wie sie sagte, dem Park erst den wahren Duft des Verzauberten gäbe, und darüber entspann sich zwischen Bruder und Schwester ein kleiner Streit, in dessen Verlauf Jeff die Überlegenheit des stärkeren Geschlechtes an Vernunft und praktischem Verstand glänzend zur Geltung brachte; er fühlte sich schon ganz Mann und bevormundete seine großen Schwestern, ja schulmeisterte sie gelegentlich. Seine Mutter belobte ihn, daß er so manly, so ernsthaft und in allem und jedem zielbewußt sei.

Seit einigen Jahren verwitwet, hatte sie in Amerika zur Führung ihrer Geschäfte einen älteren Sohn zurückgelassen, der das in der alten wie neuen Welt wohl bekannte Haus Harris vertrat, während der jüngere mit ihr seine Reise nach Europa machte und zwar in der für die Entwicklung eines schon selbständigen Geistes vorteilhaftesten Art, insofern nämlich nicht übertriebene Studien, sondern Beobachtung, Nachdenken und Reisen seine Erziehung vollenden sollten. Waren Jeffs Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen von wenig Belang, so besaß er dafür Charakter. Etienne wurde sich dessen mit einem Lächeln bewußt, als er ihn mit herablassender Miene der leidenschaftlichen Lily nachgeben sah, die in ihrer Eigenschaft als Vertreterin des schönen Geschlechts sich weniger Herrin ihrer selbst gezeigt hatte. Um den jungen Weisen zu belohnen, schlug er ihm Angelpartien vor, die mit dem Angeln in einem Teiche nichts gemein haben sollten; wenn auch der Wald von Fontainebleau für wasserarm gelte, so seien seine Ränder doch von der fischreichen Seine und dem Loing umspült.

Sobald das Gespräch auf allerhand Sport kam, zeigte sich Jeff auf seinem eigensten Gebiete, und auch seine Schwestern legten bei Gesprächen über Reiten einen Eifer an den Tag, der dem ihres Bruders wenig nachgab. Sie wollten sich Pferde kommen lassen und Etienne würde sie überallhin begleiten – das war beschlossene Sache; sie würden nicht zugeben, daß ihr Bruder Etienne ganz allein für sich mit Beschlag belegte, wozu dieser Egoist nur zu sehr geneigt scheine.

Ihre liebenswürdigen Koketterien verdrehten dem jungen Loysel, der sich über deren geringe Tragweite noch nicht im klaren war, angenehm den Kopf; er verglich sie in Gedanken mit der Zurückhaltung Renées. Nach jahrelangem, beinahe täglichem Verkehr fühlte er sich diesem mit Glücksgütern und Schönheit doch wenig gesegneten Mädchen gegenüber tausendmal befangener, als im Umgang mit diesen glänzenden Erscheinungen nach einer dem Flirt gewidmeten Stunde.

»Heute morgen haben wir eine schätzbare Erwerbung für unsre künftigen Ausflüge gemacht,« wendete sich Lily an ihre Mutter, die das freie und übermütige Gebaren ihrer Tochter übrigens ganz in der Ordnung zu finden schien. »Das ist aber noch nicht genug, je zahlreicher die Gesellschaft, desto größer das Vergnügen. Ich hoffe, es fehlt uns nicht an Nachbarn?«

»Haben Sie gehört, was meine Tochter sagte, Herr Loysel?« warf Frau Harris ein. »Mit wem könnten wir in der Umgegend wohl Verkehr anknüpfen? Ich möchte mit Ihren Eltern, die sicherlich die Liebenswürdigkeit haben werden, mich über dies und manches andere aufzuklären, hierüber sprechen.«

»An Gesellschaft für Sie befürchte ich einen großen Mangel,« erwiderte Etienne. Er zählte im Handumdrehen einige Familien auf, die alle so kleinstädtisch waren, wie man es hundert Meilen von Paris sein kann, und bei denen, dachte er im stillen, diese überseeische Gesellschaft, die ohne weitere Empfehlung als ihren etwas stark zur Schau getragenen Reichtum wie aus den Wolken hineingeschneit kam, nur Neid, Mißtrauen und schlecht verhehlte Neugier wachrufen könne.

Außerdem hätte sich eine Künstlerkolonie in der Nähe niedergelassen – Etienne nannte einige Namen, die den jeder Art von Berühmtheit zugänglichen Damen sehr zu passen schienen – aber diese schlügen ihr Sommerlager im Walde von Fontainebleau auf, um sich ernster Arbeit hinzugeben, lebten unter sich und hielten ihre Thür gegen jeden Einfall von außen fest geschlossen.

»Wir werden uns schon in ihre Festung einschleichen; wir kaufen ihnen Bilder ab,« meinte Frau Harris, die auch die schwierigsten Hindernisse mittels ihres unwiderstehlichen »Sesam, öffne dich«, des Goldes, wegzuräumen gewöhnt war.

»Unter den Jüngeren besitze ich auch einige Freunde,« ergänzte Etienne, »die sich sehr freuen werden, Ihnen vorgestellt zu werden. Übrigens glaube ich, daß eine Freundin meiner Schwester, Renée Christen, diese jungen Damen am meisten interessieren wird. Sie ist in Ihrem Alter,« fuhr er, sich an die Fräulein Harris wendend, fort, »und ihre Talente werden Sie in Erstaunen setzen. Sie ist eine hervorragende Sängerin und könnte, glaube ich, überall großer Erfolge sicher sein, während sie ihr Leben hier mit der Pflege ihrer kränkelnden Mutter verbringt. Mutter und Tochter ertragen zusammen mit einer bewundernswerten Haltung, was Sie bitteren Mangel nennen würden!« Bei diesen Worten sah Etienne seine Zuhörerinnen an, wie um sich zu vergewissern, ob diese so standhaft ertragene Armut in ihren Augen nicht eher für einen Fehler, als für eine Tugend gelte. Auf ihren Mienen lag jedoch eine gewisse anteilnehmende Aufmerksamkeit. Miß Grace fragte: »Und wie hat sich Fräulein Christen diese außerordentliche Fertigkeit aneignen können?«

»Sie hat nicht immer unten im Dorfe gewohnt. Ihre Erziehung, die Offizierstöchtern ohne Vermögen kostenlos zu teil wird, erhielt sie in dem Institut der Ehrenlegion in Saint Denis, das sie erst nach dem Tode des Majors Christen verlassen hat. Ihr Vater stammt aus einer alten elsässischen Familie, die leider ganz erloschen ist. So erklärt es sich auch, daß Mutter und Tochter keinerlei Unterstützung genießen, sie haben nichts wie ihre Pension. Sparsamkeitsrücksichten bewogen sie, sich hier niederzulassen, außerdem verschrieben die Ärzte Frau Christen vor allem gute, stärkende Luft. Seitdem sind fünf Jahre verflossen, fünf Jahre, die, wie ich fürchte, Renée lang genug geworden sind, denn sie hat, da ihre Mutter nie in Gesellschaft geht, herzlich wenig Zerstreuung.«

»Wir werden ihr die Langeweile schon vertreiben!« rief Lily. »Renée! Was für ein hübscher Name, wie der einer Romanheldin! Ich wette, das junge Mädchen wird mir sehr gefallen. Und weißt du, Mama, meine Klavierstunden.... Vielleicht willigt sie ein, mich zur Schülerin anzunehmen, wenn ich auch eine recht schlechte abgeben werde. Das wissen Sie noch gar nicht, Herr Loysel, wie entsetzlich ungeschickt ich bin, nichts will in meinen Kopf hinein.... Ich lerne nicht leicht, bin zerstreut, kurz – ich werde die Geduld Ihrer Freundin auf eine harte Probe setzen, das können Sie ihr von vornherein sagen.«

Ohne auf die Dankesworte Etiennes zu hören, der hinter ihrer angenommenen Munterkeit wohl die Absicht merkte, Gutes zu thun, drehte sie sich kurz auf dem Absatz herum und lief hinaus, um Cabri, den der Stallbursche soeben vorgeführt hatte, ein Stück Zucker zu reichen. Dort bemerkte sie Renées Rosen, die, halb verwelkt, vom Sattel herabhingen.

»Haben Sie die Blumen für uns mitgebracht?« fragte Lily neckisch.

Und als Etienne ein wenig verwirrt erwiderte, daß er den Damen ein andermal schönere verehren wolle, da diese ein Geschenk seien, rief der Schelm mit erhobenem Finger:

»Ach, gewiß von einer Dame! Wir fangen schon an, in Ihre Geheimnisse zu dringen.... Sehen Sie sich vor!«

Fräulein Grace reichte dem jungen Manne die Hand.

»Meine Schwester ist sehr neugierig,« meinte sie, »und sehr helläugig, aber auch sehr verschwiegen. Ängstigen Sie sich nicht – auf Wiedersehen!«

»Wir kommen nächster Tage zu Ihnen!« rief Frau Harris.

»Um alle möglichen Partien zu verabreden,« fügte Jeff mit kindlichem Eifer hinzu, der komisch genug von seinem angewöhnten männlichen Ernste abstach.

»Und Sie sorgen für junge Herren, nicht wahr?« rief Fräulein Lily als letzten Auftrag nach. »Wir können ohne junge Männer nun einmal nicht leben.«

Als Etienne Loysel an der Biegung der Straße angelangt war und sich umwandte, sah er, wie seine neuen Freunde ihm von der Thürschwelle aus mit den Augen folgten.


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