Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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VII.

»Dearest,                                                        
Heute wird die Afrikanerin gegeben!
                                                ever yours
                                                                  Lily.«

An dem Tage, der Renée diese Zeilen brachte, war Frau Christen unpäßlicher als sonst, obgleich sie es nicht wahr haben wollte. Renée fühlte, daß sie die Einladung abschlagen müsse, und den Freudenruf, der ihr auf den Lippen lag, unterdrückend, heftete sie einen Blick auf ihre Mutter, aus dem ein etwas selbstsüchtiges Bedauern sich noch nicht ganz hatte bannen lassen.

»Aber das ist ja sehr einfach,« meinte Frau Christen, als wenn sie die sich widersprechenden Gefühle, die Renée bestürmten, gar nicht geahnt hätte. »Herr Loysel fährt ja heute nach dem Bahnhof und ist sicher so liebenswürdig, dich mitzunehmen. Nicht wahr, Sie würden Ihren Vater bitten, uns den Gefallen zu thun?« wandte sie sich an Cäcilie, die gerade zu Besuch herübergekommen war.

Renée, der sich Thränen in die Augen drängten, umschlang die Mutter zärtlich.

»Soll ich dich nach der schlechten Nacht wirklich allein lassen, Mama? Wirst du mich auch sicher nicht nötig haben?«

»Bis morgen früh? Welche Idee!«

»Wenn du nach Hause kommst, wirst du mich noch hier finden,« sagte Cäcilie. »Darf ich in deiner Abwesenheit dein Zimmer benutzen? Dann kann ich, wenn es nötig sein sollte, nach dem Rechten sehen; hoffentlich schlafen wir aber beide wie Murmeltiere, während unser Fräulein sich amüsiert,« fügte sie mit beinahe unmerklichem Vorwurf gegen Renée hinzu.

»Wie gut Ihr seid, ich schäme mich wirklich!« rief diese und wurde bis unter die Haarwurzeln rot.

Nach vielen Küssen, Dankesworten und Mahnungen zur Vorsicht ging Renée sich reisefertig machen, wobei sie sich trotz der Ungeduld, die sie zum Aufbruch trieb, Vorwürfe nicht ersparte, daß sie ihre Mutter so oft und besonders heute abend allein ließ. Frau Christen war so matt, sie fühlte sich so schwach ... Aber hatte man sie nicht schon öfters in dem Zustande gesehen, ohne daß sich ein beängstigender Anfall eingestellt hätte! Bei langen, inneren Leiden wechselt das Befinden ja sehr schnell, und man gewöhnt sich zuletzt an dieses ›Auf und nieder‹.

»Es soll aber auch das letzte Mal sein, daß ich fortgehe,« sagte sich Renée, um ihr Gewissen zu beschwichtigen. »Dies Jahr sehe ich Paris nicht wieder ... nächsten Monat reisen die Harris ab ... ich verspreche es mir, es ist das letzte Mal ...« Wahrend der Fahrt im Coupé flog ihr immer wieder durch den Sinn: am Ende hätte ich doch zu Hause bleiben sollen ... Später verlor sich die Unruhe; sie gab sich dem erhofften Vergnügen mit ganzer Seele hin, saß mit ihren Freundinnen lustig bei Tafel und ließ sich dann das Haar von ihnen ordnen und nach ihrem Geschmack zurechtstutzen. Ihr war es gleichgültig, wie sie aussah, ob sie prächtig oder einfach gekleidet war ... sie ging in die Oper, um zu hören, zu sehen, nicht um gesehen zu werden, und glaubte naiver Weise, daß niemand an dieser, für sie beinahe geweihten Stelle Gedanken für etwas anderes haben könne, als was auf der Bühne vorging, obgleich die Augen des schönen Raoul von Cerdon ohne ihr Wissen häufig genug auf ihr ruhten.

»Wie du meinst,« sagte sie zu Grace, die sie gefragt hatte, ob sie weiße oder rote Rosen in ihren schwarzen Zöpfen haben wolle, »kommen wir nur nicht zu spät zur Ouverture!«

»Fertig,« rief Grace, augenscheinlich von ihrem Werke befriedigt.

Ein Blick in den Spiegel zeigte der erstaunten Renée eine schlanke, ganz in Weiß gehüllte Gestalt, mit Formen, harmonisch wie eine Statue, und sie erkannte sich kaum wieder.

»Sehe ich wirklich so aus?« rief sie mit so unschuldiger Miene, daß ihre Freundinnen hell auflachten.

Die Furcht, die sie stets gehegt hatte, es möchte ihr an der plastischen Erscheinung gebrechen, die für die Bühne so unentbehrlich ist, war mit einem Schlage gehoben. Sie hüllte sich mit ungesuchter Anmut in den Kaschmirshawl, den man ihr reichte.

»Seht doch Renée,« rief Grace, die am selben Morgen die Galerie des Louvre studiert hatte, »erscheint sie nicht, gegen den Kamin gelehnt und den Kopf in die Hand geschmiegt, wie die vollendete Polyhymnia?«

»Wärmte sich Polyhymnia auch die Füße?« ließ sich der unerbittliche Jefferson, die mythologischen Kenntnisse seiner Schwester verspottend, von der Thürschwelle hören. »Kommt schnell, der Wagen wartet.«

Schon folgten ihm die drei jungen Mädchen unter Plaudern und Lachen, als Frau Harris, eine geschlossene Depesche in der Hand, in großer Unruhe eintrat.

»Sehen Sie doch nach, Renée, was der Telegraph Ihnen mitteilt. Ich befürchte üble Nachrichten, mein liebes Kind.«

Renée wurde weiß wie ihr Kleid und fiel mehr als sie glitt, in einen Sessel. Die Depesche enthielt nur die zwei Worte

»Kommen Sie!«

Und Etienne Loysel hatte sie aufgegeben.

»Meine Mutter ist tot!« rief sie und schleuderte mit einer Gebärde des Abscheus Rosen, Armbänder und Handschuhe von sich. »Tot ...« wiederholte sie dumpf, niedergeschmettert, wie ein Mörder vor dem Opfer seiner That ... »und ich bin hier ...«

Der Wagen, der sie in die Oper fahren sollte, eilte mit ihr und Jefferson nach dem Lyoner Bahnhof. Bemüht, seiner eignen Bewegung Herr zu werden und sich den unzerstörbaren Gleichmut zu bewahren, der einem Manne in jeder Lebenslage ziemt, ließ der Jüngling den Schmerz seiner Gefährtin sich lange in Schluchzen Luft machen, ohne sich zu regen. Mittlerweile suchte er nach einem tröstenden Worte und war wütend auf sich, daß ihm nichts einfiel. Schließlich flüsterte er:

»Vielleicht ist sie nur kränker geworden.«

»Glauben Sie, Sie glauben es wirklich?« rief Renée, sich an die leise Hoffnung, die ihr geboten wurde, anklammernd. »O, mein Gott!« Ebenso schnell stellten sich auch ihre Befürchtungen wieder ein, und sie rang die Hände: »Wenn ich sie nur noch am Leben finde, wenn ich sie nur eine Stunde, eine Minute noch habe. Es kann nicht sein, daß ich sie nicht wiedersehe!... Wie langsam der Zug fährt!« hob sie nach einer Weile an. »Er ist noch nie so schlecht gefahren.« »Er hat aber keine Verspätung,« meinte Jeff, seine Uhr ziehend, und »da sind wir!«

Ein Wagen hielt am Bahnhof, der Wagen des Herrn Loysel. Wie Renée Etienne erblickte, lief sie ihm atemlos entgegen.

»Nun?«

Die Dunkelheit ließ sie seine Erschütterung nicht sehen.

»Mut, meine arme Freundin!« sagte er ganz leise. »Ich war zugegen. Sie hat nicht gelitten, Ihre Abwesenheit nicht bemerkt... Das Leiden hat sie in einem Augenblick hinweggenommen... Machen Sie sich keinen Vorwurf; niemand konnte es ahnen...«

Er konnte nicht zu Ende sprechen, Renée taumelte besinnungslos in seine Arme die sie brüderlich umschlangen.

Gott hatte Mitleid mit ihr und nahm ihr für Augenblicke wenigstens das Bewußtsein ihres unersetzlichen Verlustes.


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