Harriett Beecher Stowe
Onkel Toms Hütte
Harriett Beecher Stowe

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39. Kapitel

Der Befreier

George Shelby hatte seiner Mutter bloß eine Zeile geschrieben und sie darin nur von dem wahrscheinlichen Tage seiner Ankunft benachrichtigt. Etwas über das Sterbebett seines alten Freundes zu schreiben, hatte er nicht übers Herz bringen können. Er hatte es mehrere Male versucht, bis es ihm die Kehle fast zuschnürte; und der Versuch schloß regelmäßig damit, daß er das Papier zerriß, die Augen trocknete und irgendwohin stürzte, um Fassung zu suchen.

Eine freudige Aufregung herrschte den ganzen Tag über im Shelbyschen Hause, denn man erwartete des jungen Master George Ankunft.

Mrs. Shelby saß in ihrem gemütlichen Zimmer, wo ein lustiges Hickoryfeuer die fröstelnde Kühle des Spätherbstabends vertrieb. Der Tisch war mit glänzendem Geschirr und Gläsern zum Abendessen gedeckt, und unsere frühere Freundin, die alte Chloe, war noch mit der Anordnung desselben beschäftigt.

In einem neuen Callicokleid mit einer reinen, weißen Schürze und einem hohen steif gestärkten Turban, das schwarze, glänzende Gesicht vor Befriedigung glühend, trödelte sie mit nutzloser Peinlichkeit um den Tisch herum, nur um einen Vorwand zu haben, mit ihrer Herrin zu plaudern.

»So, so! Wird's ihm nun nicht ganz ordentlich vorkommen?« sagte sie. »Da – ich hab' ihm seinen Teller gerade an seine liebste Stelle gesetzt, gleich beim Feuer. Master George sitzt immer gern warm. Ja, laßt mich nur! Aber warum hat Sally nicht die beste Teekanne herausgesetzt – die kleine neue, die Master George zu Weihnachten Missis geschenkt hat? Ich werde sie holen! Missis hat einen Brief von Master George bekommen?« sagte sie forschend.

»Ja, Chloe, aber nur eine Zeile, bloß mit der Nachricht, daß er, wenn irgend möglich, heute abend eintreffen werde – weiter nichts.«

»Hat er nichts von meinem Alten geschrieben?« sagte Chloe und machte sich immer noch mit den Teetassen zu schaffen.

»Nein, gar nichts. Er hat sonst weiter gar nichts geschrieben, Chloe. Er sagt, er wolle uns alles erzählen, wenn er hier ist.«

»Ja, das sieht Master George ganz ähnlich; er bildete sich immer was darauf ein, alles selbst zu erzählen. Ich hab' das immer bei Master George bemerkt. Sehe übrigens für meinen Teil gar nicht ein, wie die weißen Leute nur immer so viel schreiben können – schreiben ist eine so langsame, schwere Arbeit.«

Missis Shelby lächelte.

»Ich glaube wahrhaftig, mein Alter wird die Jungen und die Kleine gar nicht kennen. Gott, sie ist so gewachsen; und sie ist auch gut und gescheit, Polly. Sie ist jetzt draußen und wartet, bis der Kuchen gut ist. Ich habe ganz dieselbe Sorte gebacken, die mein Alter so gern aß. Denselben Kuchen, den ich ihm an dem Morgen mitgab, als sie ihn fortschleppten. Ach, gütiger Gott! Wie mir's an dem Morgen zumute war!«

Mrs. Shelby seufzte und fühlte bei dieser Anspielung eine schwere Last auf ihrem Herzen. Sie hatte seit dem Empfang des Briefes ihres Sohnes in beständiger Unruhe geschwebt, daß hinter seinem Schweigen etwas verborgen sein möchte.

»Er erkennt Polly gewiß nicht wieder – mein Alter. Gott, schon seit fünf Jahren ist er fort! Sie war damals noch ein ganz kleines Kind – konnte eben erst auf den Beinen stehen. Erinnere mich doch, wie ich immer lachen mußte, weil sie immer hinpurzelte, als sie anfangen wollte, zu gehen. Ach Gott, ach Gott!« – Man hörte jetzt das Rollen eines Wagens.

»Master George!« sagte Tante Chloe und lief ans Fenster.

Missis Shelby eilte an die Haustür und lag an der Brust ihres Sohnes. Tante Chloe sah bange forschend in die Finsternis hinaus.

»Ach, arme Tante Chloe!« sagte George, indem er ihre harte, schwarze Hand ergriff. »Ich hätte mein ganzes Vermögen hingegeben, um ihn mitbringen zu können, aber er ist in ein besseres Land gegangen.« Mrs. Shelby konnte einen Ausruf schmerzlicher Überraschung nicht unterdrücken, aber Tante Chloe sagte nichts.

Sie drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen. Mrs. Shelby folgte ihr leise, ergriff sie bei der Hand, zog sie in einen Stuhl und setzte sich neben sie. »Meine arme gute Chloe«, sagte sie.

Chloe legte ihr Haupt auf die Schulter der Herrin und schluchzte laut:

»Ach Missis! Verzeihen Sie, das bricht mir das Herz – weiter ist's nichts.«

»Das weiß ich«, sagte Mrs. Shelby, wie ihre Tränen reichlich flossen, »und ich kann es nicht heilen, aber Jesus kann es. Er heilet die gebrochenen Herzen und verbindet ihre Wunden.«

Es herrschte für einige Zeit ein allgemeines Schweigen, und alle weinten. Endlich setzte sich George neben die Trauernde, ergriff ihre Hand und erzählte mit einfachen und rührenden Worten den sieghaften Tod ihres Gatten und seine letzten Liebesbotschaften.

Ungefähr einen Monat nach diesem Vorfall waren eines Morgens sämtliche Sklaven auf dem Shelbyschen Gute in die sich durch die ganze Länge des Hauses erstreckende große Halle berufen worden, um einige Worte von ihrem jungen Herrn zu hören.

Zu aller Erstaunen trat er in ihre Mitte mit einem Packen Papieren in der Hand, den Freiheitsbriefen für jeden einzelnen der Dienstboten, die er nacheinander verlas und unter dem Schluchzen, den Tränen und Freuderufen aller Anwesenden verteilte.

Viele jedoch drängten sich um ihn und baten ihn aufs inständigste, sie nicht fortzuschicken; und wollten ihm mit flehenden Gesichtern ihre Freilassungsscheine wieder zurückgeben.

»Wir wollen nicht freier sein, als wir schon sind! Wir haben stets alles gehabt, was wir brauchten. Wir wollen das alte Haus und Master und Missis und die übrigen nicht verlassen.«

»Gute Freunde«, sagte George, sobald wieder Ruhe herrschte, »ihr braucht mich gar nicht zu verlassen. Das Gut bedarf zu seiner Bewirtschaftung so viele Hände wie früher. Für das Haus brauchen wir ebenfalls noch dieselbe Anzahl. Aber ihr seid jetzt freie Männer und freie Weiber. Ich zahle euch für eure Arbeit den Lohn, den wir vereinbaren. Der Vorteil für euch ist, daß ihr, im Fall ich bankrott werde oder sterbe – was doch geschehen kann – nicht mit Beschlag belegt und verkauft werden könnt. Ich gedenke das Gut fortzubewirtschaften und euch zu lehren, was euch vielleicht zu lernen einige Zeit kosten wird – wie ihr die euch verliehenen Rechte als Freie zu gebrauchen habt. Ich erwarte, daß ihr euch gut aufführen und gern lernen werdet; und ich hoffe zu Gott, daß ich euch getreulich und bereitwillig unterrichten werde. Und jetzt, meine Freunde, wollen wir den Blick himmelwärts richten und Gott für den Segen der Freiheit danken.«

Ein alter Patriarch von einem Neger, der auf dem Gute grau und blind geworden war, stand jetzt auf, erhob seine zitternden Hände und sprach:

»Lasset uns danken dem Herrn!« Wie alle wie auf einen Wink niederknieten, stieg nie ein rührenderes und inniger gefühltes Tedeum zum Himmel hinauf, und wenn es auch Orgel, Glocken und Kanonendonner begleitet hätten, als aus diesem ehrlichen, alten Herzen ertönte.

Als sie aufstanden, stimmte ein anderer eine Methodistenhymne an, deren Refrain lautete:

»Das Jubeljahr ist nun gekommen
O kehrt, erlöste Sünder, heim!«

»Noch eins habe ich euch zu sagen«, sagte George, wie er den Segnungen der ihn umdrängenden Schar ein Ende machte. »Ihr erinnert euch alle noch an unseren guten, alten Onkel Tom?«

George erzählte ihnen nun in kurzem den Auftritt an seinem Sterbebette und sein liebevolles Lebewohl an alle seine hiesigen Kameraden und setzte hinzu:

»Auf seinem Grabe, meine Freunde, gelobte ich vor Gott, daß ich nie wieder einen Sklaven besitzen wollte, solange es mir möglich war, ihn freizulassen; daß durch mich niemand Gefahr laufen sollte, von der Heimat und den Seinen getrennt zu werden und auf einer entlegenen Plantage verlassen zu sterben wie er. Wenn ihr euch daher eurer Freiheit freut, so bedenkt, daß ihr sie dieser alten guten Seele verdankt, und vergeltet es ihm durch Freundlichkeit gegen seine Frau und Kinder. Gedenkt eurer Freiheit jedesmal, wo ihr Onkel Toms Hütte seht, und laßt sie euch ein Gedächtniszeichen sein, das euch stets erinnert, in seine Fußstapfen zu treten und so ehrlich, treu und christlich zu sein wie er.«


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