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Es war spät in der Nacht, und Tom lag stöhnend und blutend in einem alten verlassenen Raume des Baumwollhauses unter einzelnen zerbrochenen Maschinenteilen, Haufen beschädigter Baumwolle und anderem Gerumpel, das sich dort gesammelt hatte.
Die Nacht war feucht und schwül, und in der dicken Luft schwärmten Myriaden Moskitos, welche die ruhelose Marter seiner Wunden noch vermehrten, während ein brennender Durst – eine alle anderen übertreffende Folter – das Maß des physischen Schmerzes bis aufs äußerste füllte.
»Ach, guter Herrgott! Schau herab auf mich – gib mir den Sieg! – Gib mir den Sieg über alles!« betete der arme Tom in seiner Angst.
Schritte ließen sich in dem Zimmer hinter ihm hören, und der Schimmer einer Laterne fiel auf sein Auge.
»Wer ist da? O um Gottes Erbarmen willen, gebt mir Wasser!«
Cassy – denn diese war es – setzte ihre Laterne hin, goß Wasser aus einer Flasche, hob seinen Kopf in die Höhe und gab ihm zu trinken – darauf leerte er noch zwei andere Becher mit fieberischer Hast.
»Trinkt, soviel Ihr wollt«, sagte sie, »ich wußte, wie es kommen würde. Es ist nicht das erstemal, daß ich mich in der Nacht hierher schleiche, um Leuten in Eurer Lage Wasser zu bringen.«
»Ich danke Euch, Missis«, sagte Tom, als er mit Trinken fertig war.
»Nennt mich nicht Missis! Ich bin ein elender Sklave, wie Ihr seid – noch schlechter und niedriger, als Ihr jemals werden könnt!« sagte sie bitter. »Aber jetzt«, sagte sie, indem sie nach der Tür ging, und einen kleinen Strohsack hereinzog, über welchen sie mit kaltem Wasser angefeuchtete Laken gebreitet hatte, »versucht, armer Mann, Euch hier auf den Strohsack zu wälzen.«
Steif von Wunden und Schwielen, gelang es Tom erst nach längerer Zeit diese Bewegung zu bewerkstelligen; aber als es ihm gelungen war, fühlte er eine erhebliche Erleichterung von der kühlenden Wirkung der feuchten Leintücher.
Die Frau, welche durch lange Übung unter den Opfern roher Grausamkeit einiges Geschick in den heilenden Künsten erlangt hatte, machte noch verschiedene Umschläge um Toms Wunden, durch deren Hilfe er sich bald etwas erleichtert fühlte.
»So«, sagte die Frau, als sie unter seinen Kopf eine Rolle beschädigter Baumwolle gelegt hatte, die als Kissen diente, »das ist das Beste, was ich für Euch tun kann.«
Tom dankte ihr; und die Frau setzte sich auf den Fußboden hin, zog ihre Knie an sich, schlang die Arme darum und sah starr und mit einem bitteren und leidenden Ausdruck auf dem Gesichte vor sich hin. Ihre Kopfbedeckung fiel zurück, und lange, weiche Locken von schwarzem Haar wallten um ihr eigentümliches, melancholisches Gesicht.
»Es nützt Euch nichts, armer Mann!« begann sie endlich. »Es nützt Euch nichts, daß Ihr hier so etwas versucht. Ihr wart ein braver Kerl – Ihr hattet das Recht auf Eurer Seite; aber es ist alles vergebens, und für Euch außer aller Frage dagegen anzukämpfen. Ihr seid in den Händen des Teufels; er ist der Stärkste; und Ihr müßt nachgeben.«
Nachgeben! Und hatten nicht menschliche Schwäche und physische Qual ihm schon dasselbe zugeflüstert? Tom durchzuckte es bei diesem Gedanken, denn die finstere Frau mit ihren wilden Augen und ihrer melancholischen Stimme schien ihm eine Verkörperung der Versuchung zu sein, mit der er gekämpft hatte. »O Herr!« stöhnte er. »Wie kann ich nachgeben?«
»Es nützt nichts, den Herrn anzurufen – er erhört Euch nie«, sagte die Frau mit kalter Ruhe. »Es gibt keinen Gott, glaube ich; oder wenn es einen gibt, hat er Partei für unsere Gegner genommen. Alles geht gegen uns, im Himmel und auf Erden, alles treibt und stößt uns in die Hölle. Warum sollen wir nicht hingehen?«
Tom schloß die Augen und schauderte über die bösen gottlosen Worte.
»Ihr seht«, sagte die Frau, »Ihr wißt nichts davon – ich aber kenne es. Ich bin fünf Jahre auf dieser Plantage gewesen und habe mit Leib und Seele diesem Manne gehört, und ich hasse ihn, wie ich den Teufel hasse. Ihr seid hier auf einer einsamen Plantage, zehn Meilen von jeder anderen entfernt, mitten in den Sümpfen; kein Weißer ist hier, welcher bezeugen könnte, wenn Ihr lebendig verbrannt, in heißem Wasser gesotten, in zollkleine Stückchen zerschnitten, von den Hunden zerrissen oder zu Tode gepeitscht würdet. Es gibt hier kein Gesetz von Gott oder dem Menschen, das Euch oder einem von uns das mindeste nützen könnte; und dieser Mann! Es gibt nichts Schlechtes auf Erden, was er nicht schlecht genug wäre zu tun. Ich könnte Euch das Haar zu Berge stehen und die Zähne klappern machen, wenn ich nur erzählen wollte, was ich hier gesehen und erfahren habe – und Widerstand hilft nichts! Wollte ich mit ihm leben? War ich nicht ein anständig und fein erzogenes Weib? Und er – Gott im Himmel, was war er und was ist er? Und doch habe ich mit ihm diese fünf Jahre gelebt und jeden Augenblick meines Lebens verwünscht – Tag und Nacht! Und jetzt hat er eine neue mitgebracht – ein junges Ding von nur 15 Jahren; und sie ist fromm erzogen, wie sie sagt. Ihre gute Herrin hat sie gelehrt, die Bibel zu lesen, und sie hat ihre Bibel mit hergebracht – in die Hölle mit ihr!« Und das Weib stieß ein wildes und klägliches Lachen aus, das mit seltsamem, unheimlichem Klange durch den alten verfallenen Schuppen hallte.
Tom faltete die Hände; alles war Finsternis und Entsetzen. »O Jesus! Herr Jesus! Hast Du uns arme Sünder ganz vergessen?« rief er endlich aus. »Hilf, Herr, ich verderbe!«
Die Frau fuhr mit finsterer Entschiedenheit fort:
»Und was sind diese jämmerlichen niederen Geschöpfe, mit denen Ihr arbeitet, daß Ihr ihretwegen leiden wollt? Jeder einzelne von ihnen würde sich gegen Euch wenden, sowie er eine Gelegenheit dazu fände. Sie sind alle so schlecht und grausam gegeneinander, als sie nur sein können; Eure Leiden, sie vor Schaden zu bewahren, nützen zu nichts.«
»Die armen Geschöpfe!« sagte Tom. »Was hat sie grausam gemacht? Und wenn ich nachgebe, gewöhne ich mich daran und werde allmählich ebenso wie sie! Nein, nein, Missis! Ich habe alles verloren – Weib und Kinder und einen guten Herrn – und er hätte mich freigelassen, wenn er nur eine Woche länger gelebt hätte. Ich habe alles auf dieser Welt verloren, und es ist fort, für immer – und ich kann nicht auch noch den Himmel verlieren; nein, ich kann nicht auch noch schlecht werden!«
»Aber es ist unmöglich, daß uns der Herr die Sünde anrechnet«, sagte die Frau, »er kann sie uns nicht zur Last legen, wenn wir dazu gezwungen werden; er legt sie nur denen zur Last, die uns dazu getrieben haben.«
»Ja«, sagte Tom, »aber das hält uns nicht ab, gottlos zu werden. Wenn ich so hartherzig werde, wie Sambo, und so gottlos, so macht es keinen sehr großen Unterschied für mich, wie ich so geworden bin; es ist das Gottlossein – das ist's, wovor ich mich fürchte.«
Das Weib sah mit einem verstörten und aufgeregten Blick Tom an, als ob ein neuer Gedanke in ihr aufleuchtete, und dann sprach sie mit schwerem Seufzen:
»O Gott der Gnaden! Ihr sprecht die Wahrheit! O – o – o!« und laut stöhnend sank sie auf den Boden hin, wie eine von dem äußersten Grade der Seelenangst Gefolterte sich krümmend.
Eine Pause des Schweigens trat ein, in welcher man das Atmen der beiden hören konnte, bis Tom mit schwacher Stimme sagte: »Ach bitte, Missis!«
Die Frau erhob sich plötzlich, und ihr Gesicht hatte wieder seinen gewöhnlichen, finsteren, melancholischen Ausdruck angenommen.
»Bitte, Missis, sie haben meinen Rock dort in die Ecke geworfen, und in meiner Rocktasche steckt meine Bibel – wenn Missis mir sie herreichen wollte.«
Cassy stand auf und holte sie. Tom schlug eine mit starken Strichen bezeichnete und stark abgelesene Seite auf, welche von den letzten Lebensszenen desjenigen handelt, durch dessen Leiden wir geheilt werden.
»Wenn Missis nur so gut sein wollte, das zu lesen – es ist besser als Wasser.«
Cassy nahm das Buch mit einer trockenen und stolzen Miene und überblickte die Stelle. Dann las sie laut mit einer weichen Stimme und einer eigentümlichen Schönheit der Betonung die rührende Geschichte von Christi Leiden. Oft, wie sie las, zitterte ihre Stimme oder stockte manchmal ganz, wo sie dann mit einer Miene ruhiger Fassung innehielt, bis sie ihre Bewegung bezwungen hatte. Als sie zu den rührenden Worten kam: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« warf sie das Buch hin, verhüllte das Gesicht mit den schweren Locken ihres Haares und schluchzte laut mit krampfhafter Heftigkeit.
Tom weinte auch und ließ dann und wann einen halb unterdrückten Ausruf hören.
»Wenn wir uns nur so halten könnten!« sagte Tom. »Ihm schien es so natürlich zu kommen, und wir haben so angestrengt darum zu ringen! O Herr hilf uns! O himmlischer Herr Jesus, hilf uns!
»Missis«, sagte Tom nach einer Pause, »ich erkenne wohl, daß Ihr in allem viel weiter sein müßt als ich; aber eine Sache könnte Missis sogar von dem armen Tom lernen. Ihr sagt, der Herr nehme Partei gegen uns, weil er uns mißhandeln und peinigen läßt; aber Ihr seht, wie es mit seinem eigenen Sohn geschah, dem himmlischen Herrn der Herrlichkeit. War er nicht immer arm? Und ist es einem von uns schon so schlimm ergangen wie ihm? Der Herr hat uns nicht vergessen – des bin ich gewiß. Wenn wir mit ihm leiden, werden wir auch mit ihm herrschen, sagt die Schrift; aber wenn wir ihn verleugnen, wird er uns auch verleugnen. Haben sie nicht alle gelitten – der Herr und alle die Seinen? Wir lesen, wie sie gesteinigt und zersägt wurden und in Schaffellen und Ziegenfellen herumirrten und entblößt, bekümmert und gequält waren. Daß wir leiden, ist kein Grund, uns glauben zu machen, der Herr hätte sich gegen uns gewendet, sondern gerade das Gegenteil, wenn wir nur an ihm festhalten und uns nur der Sünde nicht ergeben.«
»Aber warum bringt er uns in Lagen, wo wir nicht anders können als sündigen?« sagte die Frau.
»Ich glaube, wir können anders«, sagte Tom.
»Ihr werdet es sehen«, sagte Cassy. »Was wollt Ihr machen? Morgen werden sie Euch wieder vornehmen. Ich kenne sie und habe all ihr Tun gesehen; ich mag gar nicht daran denken, was sie Euch alles noch tun werden – und sie werden Euch doch noch zum Nachgeben bringen!«
»Herr Jesus!« sagte Tom. »Du wirst meine Seele in Deine Obhut nehmen! O Herr, ich bitte Dich! – Laß mich nicht nachgeben.«
»Ach, ich habe auch von andern schon dieses Rufen und Beten gehört«, sagte Cassy, »und doch hat man sie mürbe gemacht, bis sie sich fügten. Da ist Emmeline, die versucht auch, es auszuhalten, und Ihr versucht es – aber was nützt es? Ihr müßt nachgeben oder Euch zollweise töten lassen.«
»Nun, dann will ich den Tod leiden!« sagte Tom. »Mögen sie es auch noch so lange hinausziehen, sie können es nicht verhindern, daß ich endlich einmal sterbe! – Und danach können sie nichts mehr tun. Ich bin ruhig! Ich bin entschlossen! Ich weiß, der Herr wird mir helfen und mich durchbringen.«
Die Frau antwortete nicht, sie saß da und heftete die schwarzen Augen starr auf den Fußboden.
»Vielleicht ist das der Weg«, murmelte sie vor sich hin, »aber für die, welche nachgegeben haben, ist keine Hoffnung mehr – keine! Wir leben in Schmutz und werden ekelhaft, bis wir uns vor uns selbst ekeln! Und wir sehnen uns zu sterben und wagen doch nicht, uns den Tod zu geben. Keine Hoffnung! Keine Hoffnung! Keine Hoffnung! – Dies Mädchen da – gerade so alt, wie ich war. Ihr seht mich jetzt«, sagte sie in hastiger Rede zu Tom, »seht, was ich bin! Ich bin in Wohlleben und Üppigkeit aufgewachsen. Meine erste Erinnerung ist, daß ich als Kind in glänzenden Zimmern spielte, daß man mich wie eine Puppe anputzte und Gesellschaft und Gäste meine Schönheit anpriesen. Vor den Salonfenstern war ein Garten; und dort spielte ich mit meinen Brüdern und Schwestern unter den Orangenbäumen Verstecken. Ich ging in ein Kloster, und dort lernte ich Musik, Französisch, Sticken und was sonst nicht; und als ich 14 Jahre alt war, verließ ich es, um meines Vaters Leichenbegräbnis beizuwohnen. Er starb sehr rasch, und als sie seine Geschäfte abschlossen, fand ich, daß kaum genug da war, um die Schulden zu decken; und als die Gläubiger ein Inventar des Mobiliareigentums aufnahmen, kam ich auch mit auf das Verzeichnis. Meine Mutter war eine Sklavin, und mein Vater hatte immer beabsichtigt, mich frei zu lassen; aber er hatte es nicht getan, und so kam ich mit zum Verkauf. Ich hatte stets gewußt, was ich war, aber hatte mir nie besondere Gedanken darüber gemacht. Niemand denkt sich, daß ein gesunder, starker Mann bald sterben könnte. Mein Vater war vier Stunden vor dem Tode noch gesund – er war eins der ersten Choleraopfer in New Orleans. Am Tage nach dem Begräbnisse nahm die Frau meines Vaters ihre Kinder und begab sich auf ihres Vaters Plantage. Ich dachte, sie behandelte mich sonderbar, aber wußte sonst nichts. Ein junger Advokat hatte die Ordnung des Geschäfts übernommen; und er kam jeden Tag, besuchte das Haus und redete mit mir sehr höflich. Eines Tages brachte er einen jungen Mann mit sich, den ich für den schönsten halten mußte, den ich jemals gesehen. Ich werde diesen Abend nie vergessen; ich ging mit ihm im Garten spazieren. Ich fühlte mich einsam und bekümmert, und er war so gut und freundlich gegen mich; und er sagte mir, er hätte mich gesehen, ehe ich ins Kloster ging und mich schon seit langer Zeit geliebt, und wollte mein Freund und Beschützer sein. Kurz, obgleich er mir nicht sagte, daß er 2000 Dollar für mich bezahlt hatte und ich sein Eigentum war, gab ich mich ihm doch gern hin, denn ich liebte ihn!« unterbrach sich die Frau. »O wie ich diesen Mann liebte! Wie ich ihn jetzt noch liebe, und immer lieben werde, solange ich atme. Er war so schön, so stolz, so edel! Er gab mir ein schönes Haus mit Dienerschaft, Pferden, Wagen, Möbeln und schönen Kleidern. Alles, was sich mit Geld kaufen ließ, schenkte er mir; aber ich legte auf das alles keinen Wert, ich kümmerte mich nur um ihn. Ich liebte ihn mehr, als meinen Gott und meine Seele; und wenn ich's auch versuchte, konnte ich doch nicht anders tun, als nach seinen Wünschen.
Nur eines wünschte ich noch, daß er mich heiraten möchte. Ich dachte, wenn er mich wirklich so liebte, wie er sagte, und wenn ich das war, wofür er mich zu halten schien, so könnte er nichts dawider haben, mich zu heiraten und mich freizulassen. Aber er überzeugte mich, daß es unmöglich sei, und sagte mir, wenn wir nur einander treu wären, so war das eine Ehe vor Gott. Wenn das wahr ist, war ich dann nicht dieses Mannes Gattin? War ich ihm nicht treu? Sieben Jahre lang studierte ich jeden seiner Blicke und jede seiner Bewegungen, und lebte und atmete nur ihm zu Gefallen. Er bekam das gelbe Fieber und zwanzig Tage und Nächte wachte ich bei ihm – ich allein; und reichte ihm alle seine Medizin und tat alles für ihn; und dann nannte er mich seinen guten Engel und sagte, ich hätte ihm das Leben gerettet. Wir hatten zwei schöne Kinder. Das erste war ein Knabe und wir nannten ihn Henry; er war das Ebenbild seines Vaters – er hatte so schöne Augen, so eine Stirn, und das Haar umwallte ihn in reichen Locken – und er besaß das ganze Feuer des Vaters und auch seine Talente. Die kleine Elise, sagte er, sähe mir ähnlich. Er sagte mir immer, ich sei die schönste Frau in Louisiana, so stolz war er auf mich und die Kinder. Er sah es gern, wenn ich sie anputzte und mit ihnen in einem offenen Wagen ausfuhr und Bemerkungen hörte, welche die Leute über uns machten; und er redete mir beständig von den schönen Sachen vor, die sie meinen Kindern und mir zum Lobe gesprochen hatten. Ach das waren glückliche Tage! Ich hielt mich für so glücklich, als nur ein Mensch sein konnte; aber nun kamen böse Zeiten. Ein Vetter von ihm, der sein vertrauter Freund war, kam nach New Orleans. Er hielt große Stücke auf ihn; aber von dem ersten Augenblicke an, ich weiß nicht, warum, flößte er mir Furcht ein, denn ich fühlte mich überzeugt, daß er uns ins Unglück bringen würde. Er gewöhnte Henry, mit ihm auszugehen, und oft kam er nicht vor zwei oder drei Uhr nachts nach Hause. Ich wagte kein Wort zu sagen, denn Henry war so stolz und heftig, daß ich mich vor ihm fürchtete. Er nahm ihn mit in die Spielhäuser, und er war einer von denen, die sich nicht mehr halten lassen, wenn sie einmal dort sind. Und dann führte er ihn bei einer anderen Dame ein, und ich erkannte bald, daß sein Herz nicht mehr mir gehörte. Er sagte es mir nie, aber ich sah es – ich wußte es Tag für Tag. Ich fühlte, wie mir das Herz brach, aber konnte kein Wort sagen. Darauf erbot sich der Elende, mich und die Kinder ihm heimlich abzukaufen, um seine Spielschulden zu tilgen, die seiner Verheiratung, die er im Sinne hatte, im Wege standen – und verkaufte uns. Eines Tages sagte er mir, er habe Geschäfte außerhalb der Stadt und werde auf zwei oder drei Wochen verreisen. Er war zärtlicher als gewöhnlich und sagte, er werde wiederkommen; aber er täuschte mich nicht, ich wußte, daß die Zeit gekommen war, mir war es, als wäre ich Stein geworden; ich konnte weder sprechen noch eine Träne vergießen. Er küßte mich und küßte die Kinder viele Male und verließ uns. Ich sah ihn aufs Pferd steigen und blickte ihm nach, bis er ganz außer Gesichtsbereich war, dann sank ich bewußtlos zu Boden. Dann kam er, der Elende! Er kam, mich in Besitz zu nehmen. Er sagte mir, daß er mich und meine Kinder gekauft hätte, und zeigte mir die Papiere. Ich verfluchte ihn vor Gott und sagte ihm, ich wollte lieber sterben, als mit ihm leben.
›Ganz wie es Euch beliebt‹, sagte er. ›Aber wenn Ihr Euch nicht verständig benehmt, so verkaufe ich Eure beiden Kinder an einen Ort, wo Ihr sie nie wiedersehen sollt.‹ Er sagte mir, er habe sich von dem ersten Male an, wo er mich gesehen, vorgenommen, mich zu besitzen; und er habe Henry verführt und ihn zum Schuldenmachen verlockt, damit er willens werde, mich zu verkaufen. Durch seine Veranstaltung habe er sich in eine andere Frau verliebt; und ich möchte daraus sehen, daß er nach solchen Bemühungen seinen Vorsatz nicht wegen ein paar Tränen oder Ohnmachten aufgeben werde.
Ich fügte mich, denn die Hände waren mir gebunden. Er hatte meine Kinder; wenn ich mich seinem Willen in irgend etwas widersetzte, so drohte er, sie zu verkaufen, und machte mich so unterwürfig, wie er nur wünschte. Oh, was das für ein Leben war! Mit brechendem Herzen jeden Tag zu leben – immer fort und fort zu leben, wo nur Jammer war; und mit Leib und Seele an einen Mann gefesselt zu sein, den ich haßte. Henry hatte ich früher gern vorgelesen oder ihm vorgespielt oder mit ihm gewalzt und gesungen; aber alles, was ich für diesen tat, war mir eine wahre Last – und doch wagte ich nicht, ihm etwas zu verweigern. Er war sehr herrisch und barsch gegen die Kinder. Elisa war ein schüchternes kleines Wesen; aber Henry war keck und feurig, wie sein Vater und hatte sich noch vor keinem Menschen gebeugt. Diesen zankte und schimpfte er immer aus; und ich verlebte jeden Tag in Furcht und Besorgnis. Ich versuchte, dem Kinde Ehrerbietigkeit zu lehren – ich versuchte, sie fern voneinander zu halten, denn ich hing an diesen Kindern, wie an meinem Leben; aber es nützte mir nichts. Er verkaufte beide Kinder. Er fuhr eines Tages mit mir aus, und als ich nach Hause kam, waren sie nirgends aufzufinden! Er sagte mir, er hätte sie verkauft; er zeigte mir das Geld, den Preis ihres Blutes. Da war es, als ob alles Gute mich verließe. Ich wütete und fluchte – verfluchte Gott und die Menschen; und eine Zeitlang, glaube ich, fürchtete er sich wirklich vor mir. Aber er gab nicht nach. Er sagte mir, meine Kinder wären verkauft, aber ob ich sie jemals wiedersehen würde, hinge ganz von ihm ab; und wenn ich mich nicht ruhig verhielte, würden sie es empfinden. Nun, man kann ja alles mit einer Frau machen, wenn man ihre Kinder in der Gewalt hat. Mich machte sein Drohen unterwürfig; ich ließ mir alles gefallen; er schmeichelte mir mit der Hoffnung, daß er sie vielleicht zurückkaufen werde, und so vergingen eine oder zwei Wochen. Eines Tages ging ich spazieren und kam an der Calabuse vorbei. Ich sah ein Gedränge um die Tür stehen und hörte die Stimme eines Kindes – und plötzlich riß sich mein Henry von zwei oder drei Männern los, die ihn hielten, stürzte schreiend auf mich los und klammerte sich an mein Kleid an. Sie kamen fürchterlich fluchend hinter mir her; und ein Mann, dessen Gesicht ich nie vergessen werde, sagte ihm, daß er nicht so entkommen solle; daß er mit in die Calabuse müsse und dort eine Lektion zu bekommen, die er nicht so leicht vergessen werde. Ich versuchte, für ihn vorzubitten – sie lachten mich nur aus; der arme Knabe schrie und sah mir flehend ins Gesicht, und klammerte sich an mich an, bis sie ihn mit Gewalt fortschleppten und mir dabei fast das ganze Kleid herunterrissen; und wie sie ihn hineintrugen, schrie er immer noch: ›Mutter! Mutter! Mutter!‹ Ein Mann stand dabei, der mit mir Mitleid zu haben schien. Ich bot ihm all mein Geld für seine Fürsprache an. Er schüttelte den Kopf und sagte, der Mann behaupte, der Knabe sei unverschämt und widerspenstig gewesen, seit er ihn besitze; und er wolle ein für allemal seinen Trotz brechen. Ich wandte mich um und eilte fort; und auf jedem Schritte glaubte ich ihn schreien zu hören. Ich erreichte unsere Wohnung und stürzte außer Atem in das Wohnzimmer, wo ich Butler fand. Ich erzählte ihm alles und bat ihn, hinzugehen und sich für den Knaben zu verwenden. Er lachte nur und sagte, dem Knaben geschehe ganz recht. Sein Trotz müsse gebrochen werden – je eher desto besser; was könnte ich anderes erwarten? fragte er mich.
In diesem Augenblicke war es mir, als zerspränge etwas in meinem Kopfe. Mir schwindelte und Raserei ergriff mich. Ich erinnere mich noch, ein großes, scharfes Bowiemesser auf dem Tisch liegen gesehen zu haben; ich erinnere mich noch dunkel, daß ich es ergriff und auf ihn losstürzte; und dann wurde alles finster und ich wußte nichts mehr – viele, viele Tage lang nicht.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem sauberen Zimmer – aber nicht in meinem. Eine alte Negerin war meine Krankenwärterin; und ein Arzt besuchte mich, und man gab sich sehr viel Mühe mit mir. Nach einer Weile erfuhr ich, daß er fort war und mich in diesem Hause zurückgelassen hatte, um verkauft zu werden; und deshalb trugen sie soviel Sorge für mich.
Ich wollte nicht gesund werden und hoffte es auch nicht; aber mir zum Trotz verging das Fieber, und ich genas und stand endlich vom Krankenlager auf. Dann mußte ich mich jeden Tag anputzen; und Herren besuchten uns und rauchten ihre Zigarre und sahen mich an und stellten Fragen und handelten um mich. Ich war so düster und schweigsam, daß niemand mich haben wollte. Sie drohten, mich auszupeitschen, wenn ich nicht heiterer würde und mir Mühe gäbe, mich angenehm zu machen. Endlich kam eines Tages ein Herr, namens Stuart. Er schien einige Teilnahme für mich zu empfinden; er sah, daß mir etwas Schreckliches auf dem Herzen lag, und besuchte mich oft, wenn ich allein war, und überredete mich endlich, ihm mein Herz auszuschütten. Er kaufte mich zuletzt und versprach alles mögliche zu tun, um meine Kinder aufzufinden und zurückzukaufen. Er ging in das Hotel, wo mein Henry gewesen war; sie sagten ihm, er wäre an einen Pflanzer oben am Pearl River verkauft; das ist das letzte, was ich von ihm gehört habe. Dann entdeckte er auch, wo meine Tochter war; eine alte Frau hatte sie in ihrem Hause. Er bot eine bedeutende Summe für sie, aber sie wollten sie nicht verkaufen. Butler erfuhr, daß er sie für mich kaufen wollte; und er ließ mir sagen, daß ich sie nie bekommen würde. Capitain Stuart war sehr gut gegen mich; er besaß eine prächtige Plantage und nahm mich mit dorthin. Im Laufe eines Jahres wurde mir ein Sohn geboren. O dieses Kind! – Wie ich es liebte! Wie ähnlich das kleine Wesen meinem armen Henry sah! Aber ich hatte meinen Entschluß gefaßt – ja, ich hatte mir vorgenommen, kein Kind emporwachsen zu lassen! Ich nahm den Kleinen in meine Arme, als er zwei Wochen alt war, und küßte ihn, und weinte über ihm; und dann gab ich ihm Laudanum ein und hielt ihn fest an meine Brust gedrückt, während er in den Tod hinüberschlief. Wie ich über der Leiche trauerte und weinte! Und wem ist es je im Traume eingefallen, daß ich ihm anders als aus Irrtum das Laudanum gegeben habe? Aber es ist eine von den wenigen Taten, über die ich mich jetzt noch freue. Ich bereue es bis heute noch nicht; wenigstens ist er von aller Plage frei. Was konnte ich dem armen Kinde Besseres geben als den Tod? Nach einer Weile kam die Cholera, und Capitain Stuart starb; alles starb, was leben wollte: Nur ich – ich, obgleich ich mich bis an die Pforten des Todes drängte – ich lebte! Dann wurde ich verkauft und ging von Hand zu Hand, bis ich welk und runzelig wurde und das Fieber bekam; und dann kaufte mich dieser Elende und brachte mich hierher – und hier bin ich!«
Die Frau schwieg. Sie hatte ihre Geschichte mit einem wilden leidenschaftlichen Haß erzählt und schien sich dabei manchmal an Tom zu wenden, manchmal mit sich selbst zu sprechen. So heftig und überwältigend war die Kraft, mit der sie erzählte, daß Tom sogar eine Zeitlang die Schmerzen seiner Wunden vergaß, und sich auf einen Ellenbogen gestützt erhob und ihr zusah, wie sie ruhelos auf und ab ging, während ihr langes schwarzes Haar sie in schweren Locken umwallte.
»Ihr sagt mir«, sagte sie nach einer Pause, »daß es einen Gott gäbe – einen Gott, der herunterblickt und alle diese Dinge sieht. Vielleicht ist's wahr. Die Klosterschwestern erzählten mir manchmal von einem Tage des Gerichts, wo alles ans Licht kommen soll; wird das nicht ein Tag der Rache werden!
Sie glauben, unsere Leiden seien ein Nichts – es sei ein Nichts, was unsere Kinder zu leiden hätten! Es ist alles nur unbedeutend; und doch bin ich auf den Straßen herumgestrichen, während es mir vorkam, als hätte ich Elend genug auf meinem eigenen Herzen, um die ganze Stadt darunter zu begraben. Ich habe gewünscht, die Häuser möchten auf mich fallen oder die Erde unter mir einsinken. Ja, am Tage des Gerichts will ich vor Gott treten und meine Kinder an Leib und Seele zugrunde gerichtet haben!
Als ich noch ein Mädchen war, glaubte ich, fromm zu sein; ich liebte Gott und betete gern. Jetzt bin ich eine verlorene Seele, verfolgt von Teufeln, die mich Tag und Nacht quälen; sie treiben mich beständig an – und ich werde es gewiß auch nächstens tun!« sagte sie und ballte die Faust, während ein Blitz des Wahnsinns aus ihren schweren Augen schoß. »Ich will ihn hinschicken, wo er hingehört – er hat nicht weit zu gehen – nächstens, und wenn sie mich dafür lebendig verbrennen!« Ein langes wildes Gelächter schallte durch den verlassenen Raum und verlief sich in ein hysterisches Schluchzen; krampfhaft stöhnend und zuckend warf sie sich auf den Erdboden.
In wenigen Augenblicken schien der Anfall vorüber zu sein; sie stand langsam auf und schien sich zu sammeln.
»Kann ich noch etwas für Euch tun, armer Mann?« sagte sie und trat an Toms Lager. »Soll ich Euch noch etwas Wasser reichen?«
Es lag eine anmutsvolle und mitleidige Lieblichkeit in ihrer Stimme und ihrem Wesen, wie sie das sagte, die einen seltsamen Gegensatz zu ihrer früheren Wildheit bildete.
Tom trank das Wasser und sah sie voll Ernst und Mitleid an.
»O Missis, ich wollte, Ihr ginget zu Ihm, der Euch das Wasser des Lebens reichen kann!«
»Zu Ihm gehen! Wo ist er? Wo ist er?« sagte Cassy.
»Er, von dem Ihr mir vorgelesen habt – der Herr.«
»Ich habe oft ein Bild von ihm über dem Altare gesehen, als ich noch ein Kind war«, sagte Cassy, und ihre Augen starrten, wie in einem melancholischen Traum versunken vor sich hin. »Aber hier ist er nicht! Hier ist nichts als Sünde und lange endlose Verzweiflung! O!« und sie legte die Hand auf ihre Brust und holte tief Atem, als wollte sie eine schwere Bürde heben.
Tom machte eine Gebärde, als wollte er wieder zu sprechen anfangen, aber sie unterbrach ihn mit einem sehr entschiedenen Winke.
»Sprecht nicht, armer Mann. Versucht lieber zu schlafen, wenn's Euch möglich ist.« Und nachdem sie den Wasserkrug an sein Bett gestellt hatte, daß er ihn erreichen konnte, und es ihm auch in anderer Weise möglichst bequem gemacht hatte, verließ Cassy den Schuppen.