Harriett Beecher Stowe
Onkel Toms Hütte
Harriett Beecher Stowe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

37. Kapitel

Eine wahre Gespenstergeschichte

Aus irgendeinem merkwürdigen Grunde waren um diese Zeit unter den Sklaven auf Legrees Plantage Gespenstergeschichten sehr gang und gäbe.

Man flüsterte sich zu, daß man in totenstiller Nacht die Treppe zum Bodenraum habe Schritte herabkommen und durch das Haus gehen hören. Vergeblich waren die Türen des oberen Saales verschlossen worden; entweder hatte das Gespenst einen doppelten Schlüssel in der Tasche, oder es machte von dem uralten Vorrecht der Gespenster Gebrauch, durch das Schlüsselloch zu schlüpfen und promenierte mit einer wahrhaft beunruhigenden Ungeniertheit im Hause herum.

Über die äußere Gestalt des Gespenstes war man nicht ganz einig, und zwar infolge einer bei den Negern sehr häufigen Gewohnheit – und soviel wir wissen, ist sie auch bei den Weißen nicht selten –, bei solchen Gelegenheiten stets die Augen zuzumachen oder den Kopf unter Bettdecken, Unterröcke und was sich sonst zum Schutz darbot, zu stecken. Natürlich sind, wie jedermann weiß, die Augen des Geistes, wo die des Körpers unbeschäftigt sind, ganz ungewöhnlich lebhaft und scharfsichtig; und deshalb hatte man eine große Anzahl von leibesgroßen Porträts des Gespenstes, die überreichlich beschworen und von Zeugen bestätigt waren und die, wie das bei Porträts oft der Fall ist, in keinem Zuge miteinander übereinstimmten, außer in dem gemeinsamen Familienzuge des Gespenstergeschlechts – im Tragen eines weißen Leichentuchs. Die armen Seelen waren in der alten Geschichte nicht bewandert und wußten nicht, daß Shakespeare bereits Zeugnis für diese Tracht abgelegt hat, indem er berichtet:

»Die Toten stierten
Im weißen Lailach durch die Straßen Roms.«

Und deshalb ist ihre übereinstimmende Aussage eine auffällige Tatsache in der Geisterwissenschaft, welche wir der Aufmerksamkeit aller, die sich um die geheimnisvollen Welten kümmern, empfehlen.

Sei dem, wie ihm wolle, wir haben unseren Grund zu wissen, daß eine hohe Gestalt in einem weißen Leichentuch in den echtesten Geisterstunden in und um Legrees Haus sichtbar war – daß sie durch die Türen ging, auf den Gängen wandelte – zuweilen verschwand und dann wieder erschien, um die schweigsame Treppe hinauf in jenem unheimlichen Dachraum zu verschwinden; und daß man des Morgens früh die Saaltüren des oberen Stocks so fest verschlossen fand wie je.

Legree konnten diese Flüstereien unter seinen Leuten nicht verborgen bleiben; und die Sache regte ihn nur noch mehr auf, wegen der Mühe, die man sich gab, sie ihm zu verbergen. Er trank mehr Branntwein als gewöhnlich; trug den Kopf hoch und schwer und fluchte lauter als gewöhnlich während des Tages; aber er hatte böse Träume, und seine Phantasien, wenn er nachts im Bette lag, waren nichts weniger als angenehm. Am Abend des Tages, wo Toms Leiche fortgeschafft worden war, ritt er nach der nächsten Stadt, um einmal tüchtig zu zechen, und hatte ein wüstes Gelag. Er kam spät und ganz müde nach Hause.

Legree verschloß seine Tür und schob einen Stuhl davor; er setzte eine Nachtlampe zu Häupten seines Bettes und legte eine Pistole neben sich. Er untersuchte die Haspen und Wirbel der Fenster, schwor dann, daß er sich nicht vor dem Teufel und allen seinen Engeln fürchte, und ging zu Bett.

Er schlief, denn er war müde, und er schlief fest. Aber zuletzt kam über seinen Schlaf ein Schatten, ein Grauen, ein banges Gefühl, daß etwas Entsetzliches über ihm hänge. Es war seiner Mutter Leichentuch, dachte er; aber Cassy hielt es in die Höhe und zeigte es ihm. Er hörte einen verwirrten Lärm von Gekreisch und Stöhnen; und bei alledem wußte er, daß er schlief, und strengte sich an, um aufzuwachen. Er war halb wach. Er wußte gewiß, daß etwas ins Zimmer kam. Er wußte, daß die Tür aufging, aber er konnte weder Hand noch Fuß rühren. Endlich fuhr er auf und drehte sich um; die Tür stand offen und er sah eine Hand sein Licht auslöschen.

Es war eine bewölkte neblige Mondnacht, und dort sah er es! – Etwas Weißes, das eben hereingeschwebt war! Er hörte das leise Rauschen des gespenstischen Gewandes. Es blieb vor seinem Bett stehen; eine kalte Hand berührte die seine; eine Stimme sagte dreimal mit leisem, grausenerregenden Flüstern: »Komm! Komm! Komm!« und während er vor Schreck schwitzend dalag, war es fort, er wußte nicht, wie und wann. Er sprang aus dem Bett und zerrte an der Tür. Sie war fest verschlossen, und Legree stürzte bewußtlos auf den Fußboden hin.

Nach diesem Vorfall zechte Legree stärker als je. Er trank nicht mehr mit Vorsicht und Schonung seiner selbst, sondern unvorsichtig und ohne im mindesten nach den Folgen zu fragen.

Bald daraufhörte man in der Nachbarschaft erzählen, daß er krank und dem Tode nahe sei. Seine Ausschweifungen hatten jene schreckliche Krankheit nach sich gezogen, welche die grellen Schatten einer zukünftigen Wiedervergeltung schon auf das gegenwärtige Leben zu werfen scheint. Niemand konnte die Schrecken dieses Krankenzimmers aushalten, wenn er schrie und raste und von Geschichten sprach, welche das Blut der Zuhörer fast erstarren machten; und an seinem Sterbebett stand eine finstere weiße unerbittliche Gestalt, welche sagte: »Komm! Komm! Komm!«

Durch ein merkwürdiges Zusammentreffen fand man nach derselben Nacht, wo Legree dieses Gesicht erschienen war, die Haustür offenstehen, und einige von den Negern hatten zwei weiße Gestalten die Allee hinab nach der Landstraße schweben sehen.

Es war fast Sonnenaufgang, als Cassy und Emmeline einen Augenblick lang in einem kleinen Gebüsch nicht weit von der Stadt haltmachten.

Cassy war wie eine spanische Kreolin gekleidet – ganz schwarz. Ein kleiner schwarzer Hut mit einem reich gestickten Schleier verbarg ihr Gesicht. Der Verabredung nach spielte sie auf der Flucht die Rolle einer kreolischen Dame, und Emmeline war ihre Zofe.

Von frühester Jugend auf in der feinsten Gesellschaft aufgewachsen, paßten die Sprache, das Benehmen und die Miene Cassys ganz vortrefflich zu diesem Plane; und sie besaß noch genug Reste ihrer einst glänzenden Garderobe und Schmucksachen, um ihre Rolle ganz ausgezeichnet spielen zu können.

In den ersten Häusern der Stadt blieb sie vor einem Laden stehen, wo Koffer zu verkaufen waren, und kaufte einen der schönsten. Diesen ließ sie sich von einem Mann nachschaffen. So trat sie, begleitet von einem Burschen, der ihren Koffer fuhr, und Emmeline mit dem Reisesack und verschiedenen anderen Paketen, wie eine vornehme Dame in das kleine Gasthaus.

Die erste Person, die ihr nach ihrer Ankunft auffiel, war George Shelby, der ebenfalls dort eingekehrt war, um das nächste Boot abzuwarten.

Cassy hatte den jungen Mann durch ihr Astloch aus dem Dachraume beobachtet, hatte ihn die Leiche Toms forttragen sehen und hatte mit geheimem Frohlocken seinen Zank mit Legree beobachtet. Später hatte sie aus den Gesprächen der Neger, die sie belauscht hatte, während sie abends in gespenstischer Verhüllung durch das Haus streifte, erfahren, wer er war und in welchem Verhältnis er zu Tom stand. Sie empfand daher sofort ein vermehrtes Gefühl der Sicherheit, als sie entdeckte, daß er gleich ihr auf das nächste Boot wartete.

Cassys Aussehen und Benehmen und der Überfluß an Geld, über den sie offenbar gebot, erstickten jeden leisen Verdacht im Gasthause im Entstehen. Die Leute bekümmerten sich nicht zu genau um die Angelegenheiten derer, bei welchen die Hauptsache, das Bezahlen, in Ordnung ist – und das hatte Cassy vorausgesehen, als sie sich mit Geld versorgte.

Kurz vor Anbruch des Abends hörte man ein Boot anlegen, und George Shelby führte Cassy mit der jedem Kentuckyer natürlichen Höflichkeit an Bord und verschaffte ihr durch seine Bemühungen eine gute Privatkajüte.

Cassy hütete unter dem Vorwand von Unpäßlichkeit während der ganzen Fahrt auf dem Red River ihr Zimmer und ihr Bett; und ihre Zofe pflegte sie mit aufopfernder Hingebung.

Als sie den Mississippi erreichten, erbot sich George, der mittlerweile erfahren hatte, daß die unbekannte Dame ebenfalls weiter stromaufwärts reisen wollte, ihr eine Privatkajüte in demselbe Boot, in welchem er fuhr, zu besorgen; denn seine Gutmütigkeit flößte ihm Mitleid mit ihrer schwachen Gesundheit und den Wunsch ein, sein möglichstes für sie zu tun.

Wir sehen daher die ganze Gesellschaft sicher auf dem guten Dampfer Cincinnati untergebracht und mit voller Dampfkraft stromaufwärts fahren.

Cassys Gesundheit hatte sich sehr gebessert. Sie saß auf dem Verdeck, setzte sich mit an die gemeinsame Tafel und galt auf dem ganzen Boote als eine Dame, die früher sehr schön gewesen sein müsse.

Von dem Augenblick an, wo George ihr Gesicht zum ersten Male gesehen hatte, peinigte ihn beständig eine jener verschwimmenden und unbestimmten Ähnlichkeiten, deren sich fast jeder erinnern kann, und die ihn zuweilen geplagt haben.

Er konnte sich nicht enthalten, sie anzusehen und sie beständig zu beobachten. Mochte sie bei Tisch oder vor der Tür ihrer Kajüte sitzen, immer begegnete sie den Augen des jungen Mannes, die sich auf sie hefteten und höflich wegsahen, sobald ihr Gesicht verriet, daß sie fühle, sie werde beobachtet.

Cassy wurde unruhig. Sie begann zu fürchten, daß er etwas argwöhne, und beschloß endlich, sich ganz auf seinen Edelmut zu verlassen und ihm ihre Geschichte vollständig mitzuteilen.

George war vollkommen geneigt, jedem Teilnahme zu schenken, der von Legrees Plantage entflohen war – ein Ort, an den er nicht mit Ruhe denken konnte; und er versicherte ihr mit der beherzten Nichtachtung aller Folgen, welches seinem Alter und seiner Heimat eigen ist, daß er sein möglichstes tun wolle, um sie zu beschützen und in Sicherheit zu bringen.

Das an Cassys Privatkajüte stoßende Zimmer bewohnte eine französische Dame, namens de Thour, die eine hübsche kleine Tochter von ungefähr zwölf Jahren begleitete.

Diese Dame, welche aus Georges Gesprächen gehört hatte, daß er aus Kentucky war, war sichtbar geneigt, seine Bekanntschaft zu kultivieren; in welcher Absicht sie die Reize ihrer kleinen Tochter unterstützten, die ein so hübsches Spielzeug war, als nur je die Langeweile einer vierzehntägigen Dampfbootreise verkürzt hat.

Georges Stuhl stand oft neben ihrer Kajütentür, und Cassy konnte ihre Unterhaltung mitanhören, wie sie an dem Geländer darüber saß.

Madame de Thour erkundigte sich sehr ausführlich über Kentucky, wo sie in einer früheren Zeit ihres Lebens gewohnt hatte, wie sie sagte. George entdeckte zu seiner Verwunderung, daß ihr früherer Wohnsitz in seiner Nachbarschaft gewesen sein müsse; und ihre Fragen zeigten eine Kenntnis von Land und Leuten seiner Gegend, die ihn wahrhaft in Erstaunen setzte.

»Kennen Sie wohl in Ihrer Nachbarschaft einen Mann namens Harris?« sagte Madame de Thour eines Tages zu ihm.

»Ein alter Bursche dieses Namens wohnte nicht weit von meines Vaters Besitzung«, sagte George. »Wir haben jedoch nie viel Verkehr mit ihm gehabt.«

»Er besitzt viel Sklaven, glaube ich«, sagte Madame de Thour mit einer Bewegung, welche mehr Interesse zu verraten schien, als sie eigentlich an den Tag zu legen willens war.

»Allerdings«, sagte George und sah sie etwas verwundert an.

»Haben Sie jemals erfahren – vielleicht haben Sie gehört, ob unter seinen Leuten ein Mulattenknabe namens George war?«

»O gewiß – George Harris – ich kenne ihn recht gut; er hat eine Dienerin meiner Mutter geheiratet, ist aber jetzt nach Kanada entflohen.«

»Wirklich?« sagte Madame de Thour rasch. »Gott sei gepriesen!«

George sah sie fragend und verwundert an, sagte aber nichts.

Madame de Thour stützte den Kopf auf die Hand und brach in Tränen aus. »Er ist mein Bruder!« sagte sie.

»Madame«, sagte George in einem Tone lebhaftester Überraschung.

»Ja«, sagte Madame de Thour, indem sie stolz das Haupt erhob und sich die Tränen aus den Augen wischte. »Mr. Shelby, George Harris ist mein Bruder!«

»Ich bin außer mir vor Staunen«, sagte George und schob den Stuhl einen Schritt zurück, um Madame de Thour anzusehen.

»Ich wurde nach dem Süden verkauft, als er noch ein Knabe war. Ein guter und edler Mann kaufte mich. Er nahm mich mit nach Westindien, schenkte mir die Freiheit und heiratete mich. Erst vor kurzem ist er gestorben, und ich bin jetzt auf der Reise nach Kentucky begriffen, um zu sehen, ob ich meinen Bruder auffinden und freikaufen kann.«

»Ich habe ihn von einer Schwester Emilie, die nach dem Süden verkauft wurde, reden hören«, sagte George.

»Wirklich! Diese Schwester bin ich«, sagte Madame de Thour. »Sagen Sie mir, was ist er für ein Mensch?«

»Ein sehr tüchtiger junger Mann«, sagte George, »trotz des Fluchs der Sklaverei, der auf ihm liegt. Er stand sowohl wegen seiner Talente wie wegen seiner Grundsätze hoch in Ehren. Ich weiß das alles, weil er in unsere Familie heiratete«, setzte er hinzu.

»Was ist es für ein Mädchen?« fragte Madame de Thour angelegentlich.

»Ein wahrer Schatz!« sagte George. »Ein schönes, begabtes, liebenswürdiges Mädchen. Sehr fromm. Meine Mutter hatte sie auferzogen und fast so sorgfältig wie eine Tochter. Sie konnte lesen und schreiben, sehr schön sticken und nähen; und sie sang sehr schön.«

»War sie in Ihrem Hause geboren?« sagte Madame de Thour.

»Nein, der Vater kaufte sie auf einer seiner Reisen nach New Orleans und brachte sie als Geschenk für die Mutter mit. Sie war damals ungefähr 8 oder 9 Jahre alt. Der Vater wollte der Mutter nie sagen, was er für sie gegeben hatte. Aber wie wir neulich seine alten Papiere durchsahen, fanden wir auch den Verkaufskontrakt. Er bezahlte eine ausschweifend große Summe für sie – wahrscheinlich wegen ihrer ungewöhnlichen Schönheit.«

George hatte Cassy den Rücken zugekehrt und sah nicht den aufs höchste gespannten Ausdruck ihres Gesichts, wie er dies erzählte.

Als er soweit gekommen war, berührte sie seinen Arm und sagte mit einem vor Spannung ganz weißen Gesicht: »Wissen Sie, wie die Leute hießen, von denen er sie kaufte?«

»Wenn ich nicht irre, hieß der Verkäufer Simmons – wenigstens, glaube ich, stand dieser Name unter dem Verkaufskontrakt.«

»O mein Gott!« sagte Cassy und sank bewußtlos auf dem Fußboden der Kajüte zusammen.

George sprang auf und ebenso Madame de Thour; obgleich keines von den beiden die Ursache von Cassys Ohnmacht erraten konnte, so richtete sie doch alle in solchen Fällen übliche Verwirrung an. George warf in der Hitze seiner Menschenfreundlichkeit einen Wasserkrug um und zerbrach zwei Gläser; und verschiedene Damen in der Kajüte drängten sich auf die Nachricht, daß jemand in Ohnmacht gefallen sei, in die Tür der Privatkajüte und hinderten soviel als möglich den Zutritt von frischer Luft, so daß im ganzen alles geschah, was man nur erwarten konnte.

Die arme Cassy! Als sie sich wieder erholte, wendete sie das Gesicht der Wand zu und weinte und schluchzte wie ein Kind. Vielleicht, Mutter, weißt Du, woran sie dachte! Vielleicht auch nicht; aber sie fühlte sich in dieser Stunde so überzeugt, daß Gott Erbarmen mit ihr gehabt habe und daß sie ihre Tochter wiedersehen würde.


 << zurück weiter >>