Harriett Beecher Stowe
Onkel Toms Hütte
Harriett Beecher Stowe

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21. Kapitel

Der Tod

Die trügerische Kraft, welche Eva eine kurze Zeitlang aufrechterhalten hatte, schwand jetzt rasch dahin; seltener und immer seltener hörte man ihre leichten Schritte in der Veranda, und immer öfter lag sie auf einer kleinen Chaiselongue am offenen Fenster, die großen tiefen Augen auf die wogenden Wasser des Sees geheftet.

Einmal gegen Mitte eines Nachmittags, wie sie so ruhte, die Bibel halb offen vor sich und die kleinen Finger gleichgültig zwischen den Blättern, hörte sie plötzlich ihrer Mutter Stimme scheltend in der Veranda.

»Nun was gibt's schon wieder, du Balg? Was für eine neue Teufelei? Du hast Blumen abgerissen, nicht wahr?« und Eva hörte einen derben Schlag schallen.

»Ach, Missis, sie sind für Miß Eva«, hörte sie eine Stimme sagen, die sie als die Topsys erkannte.

»Für Miß Eva! Eine hübsche Entschuldigung! Du glaubst wohl, sie verlangt nach deinen Blumen, du nichtsnutziger Niggerbalg! Marsch fort mit dir!« In einem Augenblick war Eva aufgestanden und in der Veranda.

»Ach bitte, meine Mutter! Ich hätte die Blumen gern, bitte, gib sie mir, ich brauche sie noch!«

»Aber Eva, dein ganzes Zimmer ist ja schon voll.«

»Ich kann nicht zu viel haben«, sagte Eva. »Topsy, bring' sie mir her.«

Topsy, die mürrisch und mit gesenktem Kopfe dagestanden hatte, kam zu ihr heran und überreichte ihr die Blumen. Sie tat es mit einem zögernden und verschämten Blick, der ihrer gewöhnlichen koboldartigen Keckheit und Lebhaftigkeit ganz fremd war.

»Es ist ein schöner Strauß!« sagte Eva und betrachtete ihn.

Er war etwas eigentümlich – ein glänzendscharlachrotes Geranium und eine einzige weiße Camellie mit ihren glänzenden Blättern. Bei der Zusammenstellung war offenbar Rücksicht auf den Farbengegensatz genommen und die Anordnung jedes Blattes sorgfältig studiert.

Man sah, daß es Topsy Freude machte, als Eva sagte: »Topsy, du verstehst Blumen sehr hübsch zusammenzustellen. Hier in dieser Vase habe ich keine Blumen«, sagte sie. »Ich wünschte, du besorgtest mir jeden Tag einen Strauß dafür.«

»Nun, das ist doch wunderlich!« sagte Marie. »Was in aller Welt willst du damit anfangen?«

»Laß nur gut sein, Mama; es ist dir ganz gleich, ob es Topsy tut oder nicht – nicht wahr?«

»Natürlich, wenn es dir nur gefällt, liebes Kind! Topsy, du hörst, was deine junge Herrin sagt; vergiß nicht, es zu tun.«

Topsy knickste und schlug die Augen nieder; und wie sie sich wegwandte, sah Eva eine große Träne ihre schwarze Wange herabrinnen. »Du siehst, Mama, ich wußte, daß die arme Topsy etwas für mich tun wollte«, sagte Eva zu ihrer Mutter.

»Ach Unsinn! Sie tut es nur aus Lust am Unrechten. Sie weiß, daß sie keine Blume abpflücken soll – so tut sie's gerade; das ist die ganze Geschichte. Aber wenn du willst, daß sie welche pflücken soll, so mag es so sein.«

»Mama«, sagte Eva, »ich möchte mir mein Haar schneiden lassen.« –

»Wozu?« sagte Marie.

»Mama, ich möchte es meinen Freunden zum Andenken schenken, solange ich es ihnen noch selbst geben kann. Willst du nicht Tantchen bitten, mir die Haare zu schneiden?«

Marie erhob ihre Stimme und rief Miß Ophelia aus dem anderen Zimmer herbei.

Das Kind erhob sich halb vom Kissen, wie sie eintrat, schüttelte ihre goldenen Locken herunter und sagte fast scherzend: »Komm, Tantchen, schere die Lämmer!«

»Was gibt's hier?« sagte St. Clare, der eben mit verschiedenen Früchten eintrat, die er für sie geholt hatte.

»Papa, Tantchen soll mir ein paar von meinen Locken wegschneiden; ich habe zu viel und sie machen mir den Kopf warm. Und dann möchte ich auch einige verschenken.«

Miß Ophelia kam mit der Schere.

»Nimm dich in acht, daß du sie nicht verdirbst«, sagte der Vater; »schneide sie unten darunter hinweg, daß man es nicht sieht. Evas Locken sind mein Stolz.«

»O Papa!« sagte Eva traurig.

»Ja, und sie sollen hübsch bleiben für unsere Reise nach deines Onkels Plantage, um Vetter Henrique zu besuchen«, sagte St. Clare in scherzendem Tone.

»Ich werde niemals hinkommen, Papa, ich gehe in ein besseres Haus. Ach glaube es mir! Siehst du nicht, Papa, daß ich jeden Tag schwächer werde?«

»Warum bestehst du darauf, daß wir so etwas Schreckliches glauben sollen, Eva!« sagte ihr Vater.

»Nur weil es wahr ist, Papa; und wenn du es jetzt glaubst – wirst du vielleicht darüber auch so empfinden lernen wie ich.«

St. Clare preßte die Lippen zusammen und betrachtete mit düsteren Blicken die langen schönen Locken, welche Miß Ophelia, sowie sie abgeschnitten waren, einzeln nebeneinander auf des Kindes Schoß legte. Eva hielt sie in die Höhe, betrachtete sie ernst, wickelte sie um ihre dünnen Finger und blickte von Zeit zu Zeit besorgt ihren Vater an.

»Es ist ganz, wie ich's geahnt habe«, sagte Marie; »das eben hat Tag für Tag an meiner Gesundheit genagt und bringt mich ins Grab hinab, ohne daß sich jemand darum kümmert. Ich habe dies lange vorausgesehen. St. Clare, du wirst es auch noch einsehen, daß ich recht hatte.«

»Was dir natürlich großen Trost gewähren wird!« sagte St. Clare in einem trockenen bitteren Tone.

Marie streckte sich auf ein Sofa und bedeckte ihr Gesicht mit einem Batisttaschentuch.

Evas klares blaues Auge schweifte sinnend von dem einen zum andern. Es war der ruhige, begreifende Blick einer Seele, die der irdischen Bande schon halb erledigt ist; es war offenbar, daß sie den Unterschied zwischen beiden sah, fühlte und würdigte.

Sie winkte ihrem Vater mit der Hand. Er kam und setzte sich neben sie.

»Papa, meine Kraft nimmt jeden Tag ab, und ich weiß, daß ich scheiden muß. Ich habe einige Sachen zu sagen und zu tun, die ich noch tun muß; und du hörst so ungern von mir ein Wort über diesen Gegenstand. Aber es muß geschehen; es läßt sich nicht vermeiden. Erlaube mir, daß ich es jetzt sagen darf.«

»Mein Kind, sprich«, sagte St. Clare und bedeckte mit der einen Hand die Augen und hielt mit der andern Evas Hand fest.

»Dann bitte ich dich, alle unsere Leute zusammenzurufen. Ich habe ihnen einige Dinge zu sagen, die ich ihnen sagen muß«, sagte Eva.

»Es soll geschehen!« sagte St. Clare in einem Tone gezwungener Fassung.

Miß Ophelia schickte einen Boten ab, und bald waren sämtliche Dienstboten im Zimmer versammelt.

Eva lag in ihre Kissen zurückgesunken, das Haar hing ihr lose ums Gesicht, ihre roten Wangen stachen peinlich von der blendenden Weiße ihrer Gesichtsfarbe und ihren abgemagerten Zügen ab, und ihre großen, geisterhaften Augen hefteten sich auf jeden einzelnen mit tiefem Ernste. Eine plötzliche Bewegung hatte alle Dienstboten ergriffen. Das durchgeistigte Gesicht, die langen Haarlocken, die abgeschnitten neben ihr lagen, ihres Vaters abgewendetes Gesicht und Maries Schluchzen rührten auf der Stelle die Empfindungen einer gefühlvollen und allen Eindrücken leicht zugänglichen Rasse; und wie sie eintraten, blickte einer den andern an, seufzte und schüttelte den Kopf. Es herrschte ein tiefes Schweigen, wie bei einem Begräbnis.

Eva richtete sich empor und blickte lange und ernst jeden einzelnen an. Alle sahen traurig und bekümmert aus. Viele von den Frauen verhüllten ihr Gesicht mit der Schürze.

»Ich habe nach euch schicken lassen, meine lieben Freunde, weil ich euch liebhabe. Ich habe euch alle lieb; und ich habe euch etwas zu sagen, was ihr nie vergessen dürft: Ich werde euch bald verlassen. In wenigen Wochen werdet ihr mich nicht mehr sehen. –«

Hier wurde das Kind unterbrochen von dem lauten Stöhnen, Schluchzen und Klagen aller Anwesenden, welches seine schwache Stimme übertönte. Sie wartete einen Augenblick, und dann sagte sie mit einem Tone, der dem Schluchzen aller ein Ende machte:

»Wenn ihr mich liebhabt, dürft ihr mich nicht so unterbrechen. Hört, was ich euch zu sagen habe. Ich will mit euch von euren Seelen sprechen. Viele von euch, fürchte ich, sind sehr leichtsinnig. Ihr denkt nur an diese Welt. Aber ich will euch lehren, nicht zu vergessen, daß es eine schönere Welt gibt, wo Christus ist. Ich gehe hin, und ihr könnt auch hinkommen; sie ist für euch so gut wie für mich. Aber wenn ihr hinkommen wollt, so dürft ihr nicht ein träges, leichtfertiges, gedankenloses Leben führen; ihr müßt Christen sein. Ihr müßt bedenken, daß jeder von euch ein Engel werden und ewig bleiben kann. Wenn ihr Christen sein wollt, so wird Christus euch helfen. Ihr müßt zu ihm beten; ihr müßt lesen.«

Das Kind hielt inne, sah sie voll Mitleid an, und sagte betrübt:

»Ach Gott! Ihr könnt nicht lesen. Ihr Armen«, und sie verbarg ihr Gesicht in den Kissen und schluchzte, während mancher erstickte Seufzer von denjenigen, zu denen sie gesprochen und die auf dem Flur knieten, ihr nachhallte.

»Es tut nichts«, sagte sie, indem sie ihr Gesicht erhob und hell durch ihre Tränen lächelte, »ich habe für euch gebetet, und ich weiß, daß Christus euch helfen wird, wenn ihr auch nicht lesen könnt. Versucht alle so gut zu sein, wie ihr könnt; betet jeden Tag; bittet ihn, euch zu helfen, und laßt euch die Bibel, sooft es geht, vorlesen; und ich hoffe, euch alle im Himmel wiederzusehen.«

Ein Amen erklang halblaut von den Lippen Toms und Mammys und einiger Älteren, welche der Methodistengemeinde angehörten. Die Jüngeren und Gedankenloseren waren für den Augenblick ganz überwältigt, schluchzten laut und ließen den Kopf auf die Knie sinken.

»Ich weiß, daß ihr mich alle liebhabt«, sagte Eva.

»Ja, o ja! Gewiß. Gott segne Sie!« ertönte es von allen als Antwort.

»Ja, ich weiß es wohl. Keine einzige Person ist unter euch, die nicht stets freundlich gegen mich gewesen ist; und ich möchte euch etwas geben, das euch an mich erinnert, wenn ihr es betrachtet. Ich will euch jedem eine Locke von meinem Haar schenken; und wenn ihr sie anseht, so denkt, daß ich euch geliebt habe und in den Himmel gegangen bin und daß ich euch alle dort wiederzusehen hoffe.«

Es ist unmöglich, den Anblick zu beschreiben, wie sie sich mit Tränen und Schluchzen um die kleine Eva drängten und aus ihrer Hand die Locke annahmen, die ihnen als ihr letztes Liebeszeichen erschien. Sie sanken auf die Knie nieder; sie schluchzten und beteten und küßten den Saum ihres Kleides; und von den Lippen der Älteren strömten liebkosende Worte, vermischt mit Gebeten und Segnungen nach der Weise ihrer empfänglichen Rasse.

Sowie einer seine Locke empfangen hatte, gab ihm Miß Ophelia, welche die Wirkung dieser Aufregung auf ihre kleine Patientin fürchtete, ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen.

Zuletzt waren alle fort, außer Tom und Mammy.

»Hier, Onkel Tom«, sagte Eva, »ist eine schöne Locke für dich. O Onkel Tom, ich fühle mich so glücklich bei dem Gedanken, daß ich dich im Himmel wiedersehen soll, denn davon bin ich überzeugt; und Mammy – liebe, gute, gute Mammy!« sagte sie und umarmte ihre alte Amme zärtlich. »Ich weiß, du wirst auch hinkommen.«

»Ach, Miß Eva, ich sehe nicht ein, wie ich leben soll ohne Sie – kann's nicht einsehen!« sagte das treue Geschöpf. »Kommt mir vor, als ob alles auf einmal hier zugrunde ginge!« Und Mammy ließ ihrem wilden Schmerze freien Lauf.

Miß Ophelia schob sie und Tom sanft aus dem Zimmer und dachte, sie wären alle fort, aber als sie sich umdrehte, stand Topsy noch da.

»Wo bist du hergekommen?« sagte sie überrascht.

»Ich war hier«, sagte Topsy und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ach, Miß Eva! Ich bin ein böses Mädchen gewesen, aber wollen Sie mir nicht auch eine geben?«

»Ja, arme Topsy! Gewiß sollst du auch eine haben. Da – jedesmal, wo du sie ansiehst, denke daran, daß ich dich liebhabe und wünsche, daß du ein gutes Mädchen sein möchtest!«

»Ach Miß Eva, ich versuche es!« beteuerte Topsy angelegentlich. »Aber Gott, es ist so schwer, gut zu sein! 's kommt mir vor, als wäre ich nicht daran gewöhnt, gar nicht.«

»Jesus weiß es, Topsy; du tust ihm leid, er wird dir helfen.«

Die Schürze vor dem Gesicht, wurde Topsy schweigend von Miß Ophelia aus dem Zimmer gebracht; aber wie sie hinausging, verbarg sie die kostbare Locke an ihrem Busen.

Als alle fort waren, machte Miß Ophelia die Tür zu. Diese würdige Dame hatte während des Auftritts manche Träne aus ihren Augen gewischt, aber Besorgnis über die Folgen, welche eine solche Aufregung bei ihrem jungen Pflegling haben könnte, war das vorherrschende Gefühl in ihrer Brust.

St. Clare hatte die ganze Zeit über in derselben Stellung dagesessen, die Augen mit der Hand zudeckend. Als sie alle hinaus waren, saß er immer noch so da.

»Papa!« sagte Eva sanft und legte ihre Hand auf die seine. Er zuckte zusammen, gab aber keine Antwort.

»Lieber Papa!« sagte Eva.

»Ich kann nicht«, sagte St. Clare und stand auf, »ich kann das nicht tragen! O Gott der Allmächtige behandelt mich sehr grausam!« und St. Clare sprach diese Worte mit einem bitteren Nachdruck.

»Augustin! Hat nicht Gott ein Recht, mit dem, was Sein ist, zu tun nach seinem Willen?« sagte Miß Ophelia.

»Vielleicht, aber das macht die Bürde nicht leichter zu tragen«, sagte er in einer trockenen, harten, tränenlosen Weise, wie er sich wegwandte.

»Papa, du brichst mir das Herz!« sagte Eva, indem sie sich erhob und sich in seine Arme warf. »Du darfst nicht so denken!« und das Kind schluchzte und weinte mit einer Leidenschaft, welche alle beunruhigte und den Gedanken ihres Vaters sofort eine andere Richtung gab.

»Ach Eva – teuerstes Kind! Sei ruhig! Sei ruhig! Es war unrecht von mir; es war gottlos. Ich will denken, was du willst, tun, was du willst, nur gräme dich nicht so, – weine nicht so. Ich will mich in seinen Willen ergeben; es war gottlos, solche Reden zu führen.«

Eva lag bald wie eine müde Taube in den Armen ihres Vaters, und er beugte sich über sie und beschwichtigte sie durch jedes zärtliche Wort, das ihm in den Sinn kam.

Evas Gesundheit nahm von diesem Tage an rasch ab; ihr nahes Ende war nicht länger zu bezweifeln; selbst das zärtlichste Auge konnte nicht mehr blind sein.

Ihr schönes Zimmer war jetzt anerkanntermaßen ein Krankenzimmer; und Miß Ophelia verrichtete Tag und Nacht die Pflichten einer Krankenwärterin – und nie lernten ihre Verwandten ihren Wert besser kennen, als in dieser Eigenschaft.

Onkel Tom war auch sehr oft bei ihr. Eva litt sehr an nervöser Ruhelosigkeit, und es war ihr eine große Erleichterung, wenn sie getragen werden konnte; und es war Toms größte Freude, die kleine schwache Gestalt auf einem Kissen auf dem Arme zu tragen, entweder im Zimmer herum oder draußen in der Veranda, und wenn der erquickende Seewind vom See herüberwehte und das Kind sich frühmorgens am kräftigsten fühlte, trug er sie manchmal unter den Orangenbäumen im Garten umher oder setzte sich mit ihr auf einen ihrer alten Plätze und sang ihr ihre alten Lieblingskirchenlieder vor.

Ihr Vater trug sie auch oft herum; aber er war schwächer, und wenn er müde war, sagte Eva zu ihm:

»Ach, Papa, laß Tom mich tragen. Der Arme! Es macht ihm Freude, und du weißt, er kann jetzt weiter nichts tun, und er möchte doch gern etwas tun!«

»Das möchte ich auch, Eva«, sagte ihr Vater.

»Ja, Papa, aber du kannst alles tun, und bist mir alles. Du liest mir vor – du wachst nachts bei mir – und Tom hat nur dies eine und sein Singen; und ich weiß auch, daß es ihm leichter wird, als dir. Er trägt mich mit solcher Kraft!«

Der Wunsch, etwas zu tun, beschränkte sich nicht bloß auf Tom. Jeder Dienstbote des Hauses legte dasselbe Gefühl an den Tag und tat in seiner Weise, was er konnte.

Das Herz der armen Mammy sehnte sich nach ihrem Liebling; aber sie fand weder bei Tag noch bei Nacht Gelegenheit, da Marie erklärte, ihr Gemütszustand sei von der Art, daß sie keinen Augenblick Ruhe erlangen könne; und natürlich war es gegen ihre Grundsätze, andere ruhen zu lassen. Zwanzigmal des Nachts mußte Mammy aufstehen, um ihr die Füße zu reiben, um ihr den Kopf mit Wasser zu benetzen, um ihr Taschentuch zu suchen, zu sehen, was für ein Lärm in Evas Zimmer sei, einen Vorhang zuzumachen, weil es zu hell, oder ihn zu öffnen, weil es zu dunkel war; und den Tag über, wenn sie gern ihren Liebling ein wenig mit gepflegt hätte, schien Marie ungewöhnlich erfinderisch in Aufträgen zu sein, die sie überall im ganzen Hause oder bei ihr selbst beschäftigten, so daß nur verstohlene Zusammenkünfte und augenblickliches Begegnen möglich war.

»Es ist eine Pflicht für mich«, pflegte sie zu sagen, »gegenwärtig ganz besonders Sorge für mich zu tragen, denn ich bin so schwach und die ganze Sorge der Pflege des geliebten Kindes lastet auf mir.«

»Ich habe immer geglaubt, unsere Cousine hätte dich dieser Mühe überhoben«, sagte St. Clare.

»Du sprichst, wie man es von einem Manne erwartet, St. Clare – gerade als ob eine Mutter der Pflege eines Kindes in einem solchen Zustande überhoben werden könnte; aber es ist ja alles gleich – kein Mensch erkennt jemals, was ich fühle! Ich kann die Sachen nicht vergessen, wie du.«

St. Clare lächelte. Du mußt ihn entschuldigen, Leser. Er konnte nicht anders – denn St. Clare konnte immer noch lächeln. Denn so heiter und ruhig war die Abschiedsreise dieser Kinderseele – so liebliche und duftende Hauche trugen die kleine Barke den himmlischen Küsten zu – daß man sich unmöglich an den Gedanken gewöhnen konnte, daß der Tod im Anzuge sei. Das Kind fühlte keinen Schmerz – nur eine ruhige sanfte Schwäche, die täglich und fast unmerklich zunahm; und Eva war so schön, so voll Liebe und Vertrauen, so glücklich, daß niemand dem besänftigenden Einflusse der Atmosphäre von Unschuld und Frieden, die sie zu umgeben schien, widerstehen konnte. St. Clare fühlte eine wunderbare Ruhe über sich kommen. Es war nicht Hoffnung – die war unmöglich: Es war nicht Resignation; – es war nur ein ruhiges Verweilen bei der Gegenwart, die so schön schien, daß er an gar keine Zukunft zu denken wünschte. Es war jener Seelenfrieden, welchen wir in heiteren Herbstwaldungen fühlen, wenn die helle hektische Röte schon die Bäume färbt und die letzten Blumen noch am Bache verweilen; und wir freuen uns nur um so mehr daran, weil wir wissen, daß bald alles verwelken wird.

Der Freund, der am meisten von Evas Phantasien und Ahnungen wußte, war ihr getreuer Diener Tom. Ihm sagte sie alles, womit sie ihrem Vater nicht das Herz schwermachen wollte. Ihm teilte sie die geheimnisvollen Winke mit, welche die Seele fühlt, wenn die Fäden, mit denen sie am irdischen Leibe hängt, lockerer werden.

Zuletzt wollte Tom nicht mehr in seinem Zimmer schlafen, sondern lag die ganze Nacht in der äußeren Veranda, bereit, auf jeden Wink aufzustehen.

»Onkel Tom, wie bist du zu der Gewohnheit gekommen, überall und irgendwo zu schlafen wie ein Hund?« sagte Miß Ophelia. »Ich dachte, du gehörtest zu den ordentlichen Leuten, welche gern wie gute Christen im Bett liegen?«

»Dazu gehöre ich auch, Miß Feely«, sagte Tom geheimnisvoll. »Aber jetzt –«

»Nun, aber jetzt?«

»Wir dürfen nicht laut sprechen; Master St. Clare will nichts davon hören; aber Miß Feely, Sie wissen, daß jemand wach bleiben muß, bis der Bräutigam kommt.«

»Was meinst du damit, Tom?«

»Sie wissen, es steht in der Schrift: ›Um Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt.« Und das erwarte ich jetzt jede Nacht, Miß Feely, – und ich könnte nicht schlafen, wo ich es nicht hören könnte, keinen Augenblick.«

»Aber Onkel Tom, aus welchem Grunde bist du dieser Meinung?«

»Miß Eva hat es mir gesagt. Der Herr schickt seine Boten in die Seele. Ich muß dabeisein, Miß Feely; denn wenn dieses gesegnete Kind in das Reich eingeht, werden sie das Tor so weit aufmachen, daß wir alle ein paar Strahlen von der himmlischen Herrlichkeit sehen werden, Miß Feely.«

»Onkel Tom, sagte Miß Eva, sie fühle sich heute abend kränker als gewöhnlich?«

»Nein, aber sie sagte mir heute früh, daß sie dem Reiche näher komme – das wird dem Kinde zugeflüstert, Miß Feely. Es sind die Engel – ›Trompetenschall vor Morgengrauen‹«, sagte Tom, indem er eine Stelle aus einem Lieblingskirchenliede anführte.

Dieses Zwiegespräch hatte Miß Ophelia mit Tom eines Abends zwischen zehn und elf Uhr, als sie, nachdem alle ihre Anordnungen getroffen waren, die äußere Tür verriegeln wollte und Tom daneben in der äußeren Veranda liegen fand.

Sie war nicht nervenschwach oder empfindlich, aber seine feierliche aus tiefstem Herzen kommende Weise machte einen großen Eindruck auf sie. Eva war den Nachmittag ungewöhnlich munter und lebhaft gewesen und hatte im Bett aufgesessen und alle ihre kleinen Spielsachen und Kleinodien durchgesehen, und die Freunde genannt, für welche sie dieselben bestimmte; und ihr Benehmen war lebhafter und ihre Stimme natürlicher, als man seit Wochen gewohnt gewesen. Ihr Vater hatte sie des Abends besucht und hatte gesagt, Eva erscheine heute am meisten wie früher, seit ihrer Krankheit; und als er von ihr mit einem Kusse gute Nacht genommen, sagte er zu Miß Ophelia. »Cousine, wir behalten sie vielleicht doch noch; sie befindet sich entschieden besser«, und er entfernte sich mit einem leichteren Herzen, als er seit Wochen gehabt hatte.

Aber um Mitternacht – zu der wunderbaren mystischen Stunde, wo der Schleier zwischen der vergänglichen Gegenwart und der ewigen Zukunft dünner wird – kam der Bote!

Erst hörte man etwas, wie einen raschen Schritt im Krankenzimmer. Es war Miß Ophelia, welche sich entschlossen hatte, die ganze Nacht bei ihrem kleinen Pflegling zu wachen, und die im Wendepunkte der Nacht bemerkt hatte, was erfahrene Krankenwärterinnen eine Veränderung nennen. Die äußere Tür wurde rasch geöffnet, und Tom, der draußen wachte, war in einem Augenblicke auf den Beinen.

»Geh nach dem Arzte, Tom! Verliere keinen Augenblick«, sagte Miß Ophelia; und zugleich ging sie an die Tür von St. Clares Zimmer und klopfte.

»Cousin«, sagte sie, »willst du nicht kommen?«

Diese Worte fielen auf sein Herz wie Erdschollen auf einen Sarg. Warum? In einem Augenblicke war er aufgestanden und im Zimmer, und beugte sich über Eva, die immer noch schlief.

Was sah er, daß das Klopfen seines Herzens stockte? Warum sprachen die beiden kein Wort miteinander? Du weißt es, der Du denselben Ausdruck auf dem Gesicht der Deinem Herzen teuersten Person gesehen hast – diesen unbeschreiblichen hoffnungslosen, nicht mißzuverstehenden Zug, der Dir sagt, daß Dein geliebtes Wesen Dir nicht länger angehört.

Auf dem Antlitz des Kindes war jedoch kein grauenerregender Zug zu erblicken – nur ein seliger und fast erhabener Ausdruck – die überschattende Gegenwart geistiger Naturen, das Herandämmern unsterblichen Lebens in dieser Kinderseele.

Sie standen so still an dem Bette, daß selbst das Ticken der Uhr wie zu laut erschien. In wenigen Minuten kehrte Tom mit dem Arzt zurück. Er trat ein, warf einen Blick auf sie und stand stumm da wie die andern.

»Wann trat diese Veränderung ein?« fragte er leise flüsternd Miß Ophelia.

»Gegen Mitternacht«, war die Antwort.

Von der Ankunft des Arztes geweckt, trat jetzt auch Marie hastig aus dem nächsten Zimmer.

»Augustin! Cousine! – O! Was ist?« fing sie hastig an.

»Still!« sagte St. Clare mit heiserer Stimme. »Sie liegt im Sterben!« Mammy hörte die Worte und eilte fort, um die Dienstboten zu wecken. Bald war das ganze Haus wach – man sah Lichter, hörte Schritte, Gesichter voll angstvoller Erwartung drängten sich in der Veranda und blickten mit tränenvollen Augen durch die Glastüren; aber St. Clare hörte und sagte nichts – er sah nur diesen Ausdruck auf dem Gesicht der Schlummernden.

»Ach, wenn sie nur aufwachte und noch einmal mit mir spräche!« sagte er, und er beugte sich über sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Eva, liebe Eva!« Die großen blauen Augen öffneten sich – ein Lächeln flog über ihr Gesicht; sie versuchte den Kopf zu erheben und zu sprechen.

»Kennst du mich, Eva?«

»Lieber Papa«, sagte das Kind mit einer letzten Anstrengung und schlang die Arme um seinen Hals. Einen Augenblick darauf sanken sie erschlafft wieder herunter; und wie St. Clare den Kopf erhob, sah er ein Zucken des Todeskampfes das Gesicht bewegen – sie rang nach Atem und bewegte krampfhaft die kleinen Händchen.

»O Gott, das ist schrecklich«, sagte er, indem er sich in maßlosem Schmerz abwandte und halb bewußtlos Toms Hand drückte. »Ach, mein Tom, das gibt mir den Tod!«

Tom hielt seines Herrn Hände zwischen den seinen; und während Tränen seine dunklen Backen herabströmten, sah er nach Hilfe zu dem hinauf, zu dem er hinaufzublicken gewohnt war.

»Bitte Gott, daß er dem ein Ende machen möge!« sagte St. Clare. »Das zerreißt mir das Herz!«

»O, der Herr sei gepriesen! Es ist vorbei – es ist vorbei, lieber Master!« sagte Tom. »Sehen Sie hin.«

Das Kind lag erschöpft und keuchend auf den Kissen – die großen klaren Augen waren starr emporgerichtet. Ach, was sagten diese Augen, die soviel vom Himmel redeten? Die Erde und ihr Schmerz waren vorüber; aber so feierlich, so geheimnisvoll sah das Gesicht in seinem seligen Glanze aus, daß es selbst das Schluchzen des Schmerzes zum Schweigen brachte. Sie drängten sich in atemlosem Schweigen um sie herum.

»Eva!« flüsterte St. Clare.

Sie hörte nicht.

»O Eva, sage uns, was du siehst! Was siehst du?« sagte ihr Vater.

Ein heiteres, seliges Lächeln flog über ihr Gesicht, und sie sagte mit brechender Stimme:

»O! Liebe – Freude – Frieden!« seufzte sie noch einmal und ging vom Tode ins ewige Leben über!

»Leb wohl, geliebtes Kind! Die strahlenden ewigen Tore haben sich hinter dir geschlossen; wir werden dein liebevolles Antlitz nie wieder sehen. O wehe denen, die deinen Eingang in den Himmel beobachtet haben, wenn sie erwachen und nur den kalten grauen Himmel des Alltagslebens finden, und du hast sie auf ewig verlassen!«


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