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Der erste Hochverratsprozeß vor dem Reichstag vom 10. bis 21. Oktober 1881

Das Sozialistengesetz hat den Anarchismus verschuldet, erklärte am 8. Mai 1884 der nationalliberale Abgeordnete Freiherr v. Stauffenberg im Reichstag bei der Beratung der Verlängerung des Sozialistengesetzes. Denselben Gedankengang, nur in noch weit ausführlicherer Weise und gestützt auf zahlreiche Tatsachen, enthält der Bericht des Generalstaatsanwalts über die anarchistischen Umtriebe in der Schweiz, Mai 1885. Damit wurde nur bestätigt, was wir vorher im Reichstag wiederholt nachdrücklich erklärt hatten.

Der Anarchismus war vor dem Erlaß des Sozialistengesetzes ein in Deutschland fast unbekanntes Gebilde. Es gab wohl einzelne Anhänger desselben, aber nicht in nennenswerter Zahl. Einen größeren Anhang, aber immer noch keinen erheblichen, erlangte er erst, sobald das Sozialistengesetz verhängt wurde und Most vom Jahre 1880 ab in der »Freiheit« begann, den Anarchismus in seiner gewalttätigsten Form zu propagandieren. Die Erbitterung, die das Gesetz geschaffen, war ein geeigneter Boden dafür, und diese Erbitterung wuchs durch die brutalen Maßnahmen zahlreicher Polizeibehörden, die darauf berechnet schienen, die Betroffenen zu Gewalttätigkeiten anzureizen. Daß sie ohne das Sozialistengesetz nie zum Anarchismus gekommen wären, gestanden in dem zur Erörterung stehenden Prozeß auch mehrere Angeklagte selbst zu.

Aber die Machtmittel, die das Gesetz der Polizei in die Hände gab, wurden für viele Beamte ein Reizmittel, sich als Staatsretter aufzuspielen. Die großen Geheimfonds, die namentlich in Preußen schon allein durch den Reptilienfonds zur Verfügung standen, ließen es auch bald genug als ein profitables Geschäft erscheinen, Verschwörungen anzuzetteln und Fanatisierte anzustiften, ihrem Haß gegen die Gewalthaber durch Attentatsversuche Befriedigung zu verschaffen. Tatsache ist, daß bei all den Attentatsversuchen und Attentaten, die sich in den Jahren 1881 bis 1886 und noch später zutrugen, Polizeiagenten ihre Hände im Spiele hatten und die Anreger waren. Gelang es alsdann im geeigneten Augenblick, die Verschwörer aufzuheben und zur gerichtlichen Verantwortung zu bringen, dann erschien die Polizei in der Gloriole der Staats- und Gesellschaftsretter, sie hatte ihre Unentbehrlichkeit, ja ihre Notwendigkeit erwiesen, und es regnete Lob, Belohnungen und Ehrungen.

Der Prozeß, der sich gegen dem Schuhmacher Breuder aus Frankfurt am Main, den Schriftsteller Viktor Dave aus London, den Metallschläger Albert Lichtensteiger aus Lechhausen bei Augsburg und weitere elf Angeklagte aus Frankfurt a. M., Darmstadt und Berlin richtete, in dem sich die Angeklagten wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Verletzung der §§ 110, 112, 128, 129 und 130 des deutschen Strafgesetzbuches und § 19 des Sozialistengesetzes verantworten sollten, wurde typisch für alle späteren Hochverrats- und Anarchistenprozesse.

Der Polizeirat Rumpf in Frankfurt a. M. empfand das Bedürfnis, sich einen bezahlten Provokateur zuzulegen, der die Aufgabe haben sollte, mit den in Frankfurt a. M. und Umgegend vorhandenen Anarchisten anzuknüpfen, um sie der Staatsanwaltschaft zu überliefern, aber auch, um ein Attentat gegen Rumpf selbst vorzubereiten, damit dieser sich bei seinen Vorgesetzten als einen Mann empfehle, dessen staatsretterischer Eifer ihn bei den Anarchisten als einen ganz gefährlichen Verfolger erscheinen ließ. Der Gefängnisinspektor Weidemann, der, wie er im Prozeß selbst aussagte, sich Rumpf zu Dank verpflichtet fühlte, empfahl ihm als geeignetes Subjekt den wegen Unterschlagung in Haft befindlichen Schneider Horsch. Dieser, ein armer Teufel, der eine zahlreiche Familie besaß, ließ sich gegen eine Entschädigung von zehn bis zwanzig Mark pro Woche von Rumpf in Dienst nehmen.

Zunächst sollte Horsch festzustellen suchen, wer die Hersteller und Verbreiter eines im Oktober 1880 in Frankfurt verbreiteten Flugblattes: »Die reaktionäre Sozialdemokratie« gewesen seien, das auch in Berlin und anderwärts verbreitet worden war. Um sich in das Vertrauen der Anarchisten einzuschleichen, abonnierte er mit Polizeigeld die »Freiheit« und verbreitete dieselbe unter den Anarchisten. Auch regte er im Einverständnis mit Rumpf bei seinen Freunden an, ein Attentat auf den Polizeirat zu unternehmen, das der Schuhmacher Breuder ausführen sollte. Er sollte dem Polizeirat auf einem seiner Spaziergänge ein Fläschchen Säure ins Gesicht gießen. Horsch selbst besorgte diese Säure und brachte sie nebst verbotenen anarchistischen Flugschriften und Platten zum Druck solcher Schriften von Darmstadt nach Frankfurt. Ebenso war Horsch bemüht, im Sinne der Mostschen Anweisungen Gruppen zu fünf Personen zu bilden, die getrennt voneinander die Pläne durchzuführen hatten.

Selbstverständlich wurden die Verschwörer nebst einer Anzahl ihrer Genossen rechtzeitig verhaftet und nach Berlin überführt, wo sich bereits mehrere der Anarchisten in Untersuchung befanden, die der aus dem Hödel- und Nobilingprozeß bekannte Stadtrichter Hollmann leitete, der sich zu diesem Amte eine ganz besondere Befähigung angeeignet zu haben schien. Um die gewünschten Geständnisse zu erhalten, wurden mit Wissen Hollmanns andere Gefangene in die Zellen der Verhafteten gelegt, um diese auszuhorchen. Um die Angeklagten weiter zu täuschen, verhaftete Rumpf auch Horsch, damit seine Genossen in dem Glauben blieben, es in Horsch mit einem ehrlichen Menschen zu tun zu haben. Als aber der Reichsanwalt erfuhr, daß Horsch Polizeiagent sei, setzte er ihn in Freiheit. Einer der den Verhafteten beigegebenem Spione gab nachher im Zeugenverhör die Erklärung ab, daß er sechsmal aus dem Gefängnis geführt worden sei, um Kassiber der Angeklagten hinauszubringen, die stets abgefaßt wurden. Auch habe der Polizeikommissar, Graf Stillfried, ihm tausend Mark Belohnung in Aussicht gestellt, wenn es ihm gelang, die Angeklagten hineinzulegen. Ferner habe ihm der Untersuchungsrichter Hollmann in Aussicht gestellt, ein Gnadengesuch zu befürworten, falls er durch seine Tätigkeit in diesem Prozeß als Zwischenträger verurteilt werden sollte. In der Verhandlung kamen auch zwei kompromittierende Briefe Rumpfs an Hollmann zur Kenntnis. In dem einen schrieb Rumpf: »Ich glaube nicht, daß es rätlich sein dürfte, Horsch als Zeuge zu vernehmen, weil dann sein Verrat klar zutage treten würde, was für ihn verderblich und für mich mindestens nicht erwünscht sein dürfte.«

»Ich glaube, Euer Wohlgeboren die Entscheidung zu überlassen, da das, was geschehen ist, lediglich im Interesse des Staates und zur wirksamen Bekämpfung des Sozialismus geschehen ist, und da ich für meine Pflicht gehalten, mit den mir zu Gebote stehenden Mitteln das Ziel zu erreichen. Der Erfolg hat dieses Streben gerechtfertigt.«

In dem anderen Brief an Hollmann schrieb Rumpf: »Ich halte es im öffentlichen und staatlichen Interesse für unbedingt nötig, daß die zur Erzielung des Resultats angewandten Mittel nicht bekannt werden«, die ihn aufs schwerste bloßstellten und die schuftige Rolle enthüllten, die er gespielt hatte.

Und einer der Rechtsanwälte gab auch dem Untersuchungsrichter einen Denkzettel, indem er in seiner Verteidigungsrede zugunsten der Angeklagten äußerte: Es sei kein Zweifel, daß Herr Hollmann, den er für einen sehr guten Untersuchungsrichter nach der alten Inquisitionsschule halte, auf das Geständnis eingewirkt habe.

Nach neuntägiger Verhandlung wurde die Mehrzahl der Angeklagten verurteilt. Unter anderen erhielt Breuder zweieinhalb Jahre, Peschmann zwei Jahre, Dave zweieinhalb Jahre, Kristupeit zwei Jahre, Lichtensteiger ein Jahr und sechs Monate Zuchthaus mit den üblichen Nebenstrafen.

Neben den Breuder und Genossen hätte von Rechts wegen auch der Haupturheber der Verbrechen, Schneider Horsch, auf die Anklagebank gehört, aber von Rechte wegen auch der Polizeirat Rumpf und der Untersuchungsrichter Hollmann, der sich Handlungen hatte zuschulden kommen lassen, die sich mit dem Strafgesetzbuch nicht vereinbaren ließen. Der Prozeß machte in der Öffentlichkeit das peinlichste Aufsehen. Die Anarchisten aber schworen Rache, und sie führten sie aus.

Am 13. Januar 1885 wurde abends 8 Uhr der Polizeirat Rumpf sterbend im Vorgarten eines Hauses aufgefunden. Es war ihm durch zwei Messer- oder Dolchstiche das Herz durchbohrt worden. Der Mord machte ungeheures Aufsehen, die erschreckten Behörden setzten zehntausend Mark aus als Belohnung für die Entdeckung des Mörders. Wenige Tage nach dem Mord wurde in Hockenheim bei Mannheim der Schuhmacher Julius Lieske aus Zossen als der Tat verdächtig durch einen Gendarmen verhaftet. Als der Gendarm ihn verhaften wollte, schoß Lieske auf ihn, ohne ihn zu verletzen. Nach fünfmonatiger Untersuchungshaft wurde Lieske vom Frankfurter Schwurgericht wegen Totschlagsversuchs an dem Gendarmen und wegen Ermordung Rumpfs zu vier Jahren Zuchthaus, zehn Jahren Ehrverlust und zum Tode verurteilt, und das Todesurteil wurde vollstreckt. Die Verurteilung zum Tode erfolgte auf bloße Indizien hin, da Lieske hartnäckig leugnete, die Tat begangen zu haben.

Bezeichnend für die Stimmung der Frankfurter Bürgerschaft nach der Ermordung Rumpfs war, daß sie sich bei der Beerdigung demonstrativ von dem Trauergeleite fernhielt. Dieses bestand ausschließlich aus Beamten.


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