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Das Richtersche Jahrbuch

Das Zögern und die Unlust der drei Züricher Genossen – Schramm, Höchberg und Bernstein – gegenüber unserem Verlangen, das Erscheinen des »Sozialdemokrat« energisch zu fördern, klärte sich jetzt auf; sie hatten in einem von Höchberg veranlaßten Werk »Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, das im Juli 1879 erschien, einen gemeinsam verfaßten Artikel veröffentlicht, der allerdings schlecht zu dem von uns geplanten Unternehmen paßte. Wir wollten in dem von uns zu gründenden Blatt mit aller Wucht den Kampf gegen das Schandgesetz, das in unseren Augen das Sozialistengesetz war, führen. Die drei aber sahen in einer Art Quietismus – darauf deuteten schon im Grundton die an Most gerichteten Briefe aus dem März hin – das Gesetz als eine nicht unverdiente Zuchtrute für unser so wenig artiges Verhalten vor der Zeit des Sozialistengesetzes an. Erklärten sie doch im Eingang des Artikels, der die Überschrift trug »Rückblicke auf die sozialistische Bewegung, kritische Aphorismen von *«, daß die Partei die recht nötige Ruhepause, die ihr das Sozialistengesetz aufoktroyiert habe, zur Selbstkritik und zur Einkehr bei sich selbst nötig habe, also einer Art Bußzeit bedürfe. Nachdem sie getadelt, daß man sich bisher weder bei den Kommunalwahlen noch bei den Landtagswahlen ohne Rücksicht auf die bestehenden Landesgesetze beteiligt habe, kritisierten sie das ablehnende Verhalten gegenüber den bürgerlichen Demokraten und den Intelligenzen.

Man habe dadurch tüchtige Bundesgenossen vor den Kopf gestoßen und damit verhindert, Leute von Intelligenz und Wissen zu gewinnen, um durch sie eine forttreibende Entwicklung herbeizuführen. Man habe sich, hieß es weiter, in einseitiger Weise als »Arbeiterpartei« geriert und sei dadurch auf die geistige Produktion weniger Männer beschränkt geblieben, die in dem Parteiorgan den Inhalt der Lassalleschen Agitationsbroschüren vielfach mit denselben Schlagworten wiederholten. Nur für Arbeiter schreibend und nur zu Arbeitern sprechend, habe man den Ton der Volksversammlung in die Presse übertragen und sich in kräftiger Ausdrucksweise zu überbieten gesucht. Der Ton der Zeitungen habe durchaus nicht zur Bildung eines guten Geschmacks beigetragen. Wollte man ein Lexikon der in unseren Zeitungen vorgekommenen Schimpfereien anlegen – wobei auch Lassalle wegen einzelner Äußerungen im »Bastiat-Schulze«, die Mangel an Höflichkeit zeigten, einen Hieb erhielt –, »so dürfte dasselbe selbst von dem enragiertesten Genossen sicherlich nicht als eine Musterleistung zur Erlernung des guten Tones angesehen werden... Und der Stil ist der Mensch... Offengesagt hat hier das böse Beispiel einzelner Führer geradezu demoralisierend gewirkt.

So ging das Moralpredigen weiter. Es erstreckte sich sogar auf den Anzug und das äußere Aussehen und Auftreten der Parteigenossen. »Von der Arbeit schmutzig zu sein, ist sicherlich keine Schande, wohl aber, sich nach getaner Arbeit in dem Schmutz wohl zu fühlen.«

Über »das Eindringen der sozialistischen Ideen in die Kreise der Gebildeten«, wie es die drei ansahen, hieß es: »Das Auftreten der Pastoren Stöcker und Todt, ja das Verhalten des Fürsten Bismarck zu so entschieden sozialistisch, wenn auch nicht sozialdemokratisch gesinnten Personen wie Geheimrat Wagener und Lothar Bucher zeigt evident, daß die neue Wahrheit unwiderstehlich die Gemüter gefangen nimmt.« Im weiteren wurde gegen die Halbbildung geeifert, gegen den Mangel an Takt einzelner Redakteure, und wurde die Frage aufgeworfen, ob die Partei nicht selbst einige Schuld daran trüge, daß sie die Schlacht vom 21. Oktober 1878 verloren habe. Die Frage wurde bejaht.

Es ist nur ein kurzer, unvollständiger Auszug, den ich aus dem Artikel wiedergebe.

Dieser Artikel, ohne jeden höheren Gesichtspunkt und jede tiefere Auffassung der Bewegung, wurde von uns als eine Schulmeisterarbeit ersten Ranges angesehen, der überall in Parteikreisen Erbitterung erregen mußte, wo man ihn las. Die Zeit für eine solche Leistung war so unglücklich wie möglich gewählt. Es war ein Glück, daß das Buch mit Ausschluß der Öffentlichkeit erschien. Für die Bismarck und Genossen wäre der Artikel eine glänzende Genugtuung ihres Verhaltens gegen uns gewesen. Sobald das Buch an Marx und Engels gelangte – und sie erhielten es früher als wir – und sie den Artikel lasen, gerieten beide in den höchsten Zorn. Das Buch hatte noch gefehlt, um ihnen die Überzeugung beizubringen, daß sie es in Höchberg – denn ohne dessen Geld wäre das Buch unmöglich gewesen – mit einem bewußten Parteiverderber zu tun hatten. Sie arbeiteten ein Exposé aus, in dem sie Buch und Artikel gründlich zerzausten. Engels schrieb mir sogar, ein Mann wie Höchberg müsse aus der Partei ausgeschlossen werden. Das Exposé schickten sie zur Kenntnisnahme an die Fraktion, die ihrerseits durch Fritzsche eine Antwort ausarbeiten ließ, nachdem wir uns über diese verständigt hatten. Das Exposé ging von uns an Bracke, was Marx und Engels ausdrücklich verlangt hatten, und von diesem an das Züricher Dreigestirn. Darauf schrieb ich an Engels:

»Leipzig, den 23. Oktober 1879.

Lieber Engels!

Die beifolgende Antwort auf Ihr und Marx' Exposé ist um deswillen so formell ausgefallen, weil sie Fritzsche verfaßte.

In dem Augenblick, wo ich das Schriftstück absenden wollte, kam mir ein Fragment vom Richterschen Jahrbuch unter Kreuzband zu, das den vielberufenen Artikel enthält. Ich habe denselben gelesen und begreife Ihre Entrüstung. Abgesehen von den prinzipiellen Schnitzern, ist derselbe eine Schulmeisterarbeit, wie mir noch keine vor Augen gekommen ist. Indem sich die drei Verfasser so recht hübsch über alle stellen und ihr kritisches Licht vom hohen Stuhle herab leuchten lassen, haben sie es mit allen verdorben, ohne einen zu gewinnen oder zu befriedigen. Dabei ist die Arbeit voller Widersprüche.

Ich werde selbstverständlich nicht anstehen, meine Meinung nach Zürich zu schreiben. Dasselbe werden auch die anderen hier tun, sobald sie den Artikel zu Gesicht bekommen haben, wofür ich sorgen werde. Indem ich mich also gegen diese Arbeit und ihre gänzlich zwecklose Veröffentlichung aussprechen muß, möchte ich andererseits vor einer Überschätzung des Einflusses der Verfasser in der Partei warnen. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, daß in der Partei kein Dutzend Leute sind, die diese Arbeit auch nur in der Hauptsache billigen, und niemand hat mehr Schaden davon als die Verfasser selbst.

Eine ganz irrtümliche Meinung ist die Ihre über den Einfluß der Verfasser in der Partei. Ich muß wiederholt und mit allem Nachdruck betonen, daß Höchberg trotz der wirklich großartigen Opfer, die er materiell der Partei geleistet, nie den geringsten Versuch gemacht hat, dafür auch entsprechenden Einfluß zu verlangen. Er hat, soviel ich weiß, nie eine Bedingung gestellt, daß dies oder jenes Blatt so oder so redigiert werden müsse, daß dieser oder jener Redakteur weggehen oder ein anderer hinkommen müsse. So oft er um Hilfe von irgendeiner Seite angegangen wurde, und das ist sehr oft geschehen, und er hat ein bedeutendes Vermögen bereits verloren, hat er sich stets entweder an Geib oder an mich, in der Regel an uns beide und noch an andere mit der Frage gewandt, ob er Hilfe gewähren solle, ob das Unternehmen oder die Personen es verdienten, und unser Wort war für ihn bindend. Dieser höchst seltenen Uneigennützigkeit wegen habe ich ihm seine mancherlei Fehler nachgesehen.

Wenn er in der ›Zukunft‹ durch seine redaktionelle Tätigkeit einen gewissen Einfluß erlangte, so geschah es, weil tatsächlich Mangel an passenden Kräften vorhanden war. Überdies wäre es grobe Selbsttäuschung, wenn wir behaupten wollten, daß eine volle prinzipielle Klarheit in vielen Köpfen in der Partei schon vorhanden gewesen wäre. Das mag ein Fehler und zu bedauern sein, es ist aber nicht zu ändern. Es liegt in der Kürze ihres Bestehens und in dem Umstand, daß Tausende sich ihr zunächst aus den verschiedensten Gründen und ohne klare Erkenntnis anschlossen, die dann erst nach und nach in der Partei die nötige Schulung erhielten.

Um nun noch einmal auf die berührten Personalien zurückzukommen, bemerke ich folgendes:

Hirsch brauchte sich gerade so wenig an etwaigen brieflichen Ungenauigkeiten der Züricher zu stoßen, wie Vollmar das getan hat. Vollmar hat seinen Standpunkt brieflich nach Zürich klargelegt; hier hat er sich seine Instruktionen geholt, und als er nach Zürich kam, ging die Sache glatt und ohne Anstand. Heute beschwert er sich über zu wenig Aufsicht, wenigstens soweit es die Geschäftsleitung anlangt; redaktionell ist ihm noch niemand zu nahe gekommen. Sie sind sehr irre, wenn Sie glauben, daß erst Hirsch uns zu einem unabhängigen Blatt verhelfen hätte. Sie haben uns da gründlich unterschätzt und ebensosehr die Züricher überschätzt.

Wenn nun Hirsch so sehr Gewicht auf die zufriedenstellende Antwort bezüglich seiner Anfrage wegen der Fundierung legt und Sie dies gleichfalls tun und ihm darin vollkommen recht geben, so verstehe ich dieses nicht.

Die Partei hat bisher nie an ihre Unternehmungen den Maßstab strenger Geschäftsmäßigkeit gelegt, denn dann wären die meisten Blätter nicht entstanden. Wir haben seinerzeit das ›Demokratische Wochenblatt‹, aus dem der ›Volksstaat‹ und dann der ›Vorwärts‹ hervorgingen, ohne Geld gegründet, und genau so ist es mit einem Dutzend anderer Zeitungsunternehmen gegangen.

Diese Frage hat uns, ehrlich gestanden, auch diesmal sehr wenig Kopfschmerzen gemacht, weil wir alle der Überzeugung waren und sind, das Blatt wird sich in Kürze nicht nur decken, sondern auch einen Überschuß abwerfen, um die Gründungskosten zu decken.

Worauf wir rechneten, war, daß Höchberg allenfalls sich herbeilassen werde, die nötigen Vorschüsse für die Gründung und Einführung zu machen, soweit wir sie nicht aufzubringen vermöchten. Hätte Hirsch sich an mich gewandt, so hätte ich ihm nicht anders antworten können, als ich Ihnen hier schreibe. Es scheint mir aber, daß Hirsch ohne garantierte Tausende Zuschuß kein Vertrauen in das Unternehmen hatte, und weil ihm dieses fehlte, Gespenster sah, wo keine waren.

Es fällt mir gar nicht ein, mich weiter über diese Punkte auszulassen. Die Sache ist abgetan, das Unternehmen lebt und wird so leben bleiben, daß es auch Ihren und Marx' Beifall findet.

Wenn wir im Ton des Blattes uns eine gewisse Reserve auflegen, so geschieht es, damit bei den gar nicht ausbleibenden Prozessen, die wegen Verbreitung erfolgen, die Gerichte die Angeklagten nicht noch auf schwere Vergehen in bezug auf den Inhalt anklagen können. Wir können diese Verurteilungen, die uns schwere Geldopfer auferlegen, jetzt absolut nicht brauchen. Es hält sehr schwer, die nötigen Geldmittel für die Menge der Ausgewiesenen und deren Familien und sonstige durch das Sozialistengesetz außer Brot gekommene Genossen aufzubringen; jeder neue Anspruch an unseren Beutel ist uns höchst unwillkommen. Wäre die Krise nicht, dann würden wir lachen, aber diese drückt von Woche zu Woche furchtbarer; auf unseren besten Bezirken lastet sie am schwersten. Das sind Umstände, denen wir Rechnung tragen müssen, wir mögen wollen oder nicht.

Noch einige Worte über den Fall Kayser. Ich sage Ihnen geradeheraus, daß ich über die Art und Weise wie Hirsch Kayser angriff, empört war, so wenig ich selbst mit Kaysers Haltung einverstanden bin. In dieser Weise traktiert man Parteigenossen nicht. Der Angriff strotzte von persönlichen Gehässigkeiten; man sah es dem Schreiber an, daß er die Gelegenheit mit Freuden ergriff, Kayser etwas am Zeuge zu flicken.

Wie die Partei über Schutzzoll und Freihandel denkt, hat ihre Resolution auf dem Kongreß zu Gotha (1877), dem Hirsch beiwohnte, bewiesen. Die dort angenommene Resolution, der K. Hirsch und Most zustimmten, war die Richtschnur unseres Handelns. Ob durch einen Schutzzoll Bismarck eine Reihe von Millionen erhielt oder nicht, war für uns gänzlich indifferent, wenn wir zu der Ansicht gekommen wären, daß ein Schutzzoll unter den gegebenen Verhältnissen für die Industrie notwendig gewesen wäre. In dieser Ansicht waren wir geteilt, und zwar in mehr als in einem Fall, und in dieser Frage waren nicht nur wir Abgeordnete geteilt, sondern auch die Partei überhaupt. So war zum Beispiel Auer wütender Schutzzöllner, während Geib und Blos ebenso wütende Freihändler waren. Höchberg war für unbedingten Freihandel, Bernstein bedingt für Schutzzoll usw.

Was uns im Reichstag blamierte, waren nicht unsere Abstimmungen, sondern die mangelhafte Vertretung durch das Wort. Kaysers unglückliches Debüt in der Eisenzollfrage konnte niemand mehr ärgern als uns, und es hat ihm an Vorwürfen nicht gefehlt. Vahlteich, der die Generalrede halten sollte, kam in der ersten Generaldebatte nicht zum Wort, und als er bei der dritten Lesung zum Wort kam, war er so unglücklich disponiert, daß wir froh sein mußten, daß er keinen Schnitzer gemacht. Das war Pech, und ich war davon nicht erbaut.

Was sonst noch unsere diesmalige Vertretung so matt erscheinen ließ, war – abgesehen von verschiedenen Wortabschneidungen, mit denen ich allein in der Getreidezollfrage zweimal bedacht wurde – die lange Dauer der Session, die uns fast sämtlich nötigte, längere Zeit nach Hause zu gehen und häufig zu fehlen, dann der Mangel an Mitteln, die auf diese Dauer nicht eingerichtet waren. Sie im Ausland haben gar keinen Begriff von den Schwierigkeiten, mit denen fast jeder einzelne von uns zu kämpfen hat. Ich würde es für kein Unglück ansehen, wenn ich mal durch einen Durchfall bei einer Wahl auf einige Jahre erlöst würde.

Auf die Befürchtungen, die Sie betreffs der Haltung des neuen Organs aussprechen, will ich nicht weiter eingehen. Das Blatt ist da, und Sie mögen urteilen. Genügt es Ihnen und Marx nach dieser oder jener Richtung nicht, nun so helfen Sie es besser machen, indem sie fleißig hineinschreiben.

Morgen sende ich das Aktenstück von Ihnen an Bracke, der übrigens infolge seiner Krankheit fast von nichts weiß, und von dort soll es nach Zürich gehen.

Freundschaftliche Grüße an Sie und Marx von Ihrem

A. Bebel


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