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Die allgemeinen Reichstagswahlen im Herbst 1881

Wir traten unter den denkbar ungünstigsten Umständen in diese Wahlen ein. Eine im Inland erscheinende Parteipresse besaßen wir nicht mehr. Die farblosen Blätter, die hier und dort ins Leben gerufen worden waren, durften nicht wagen, für einen sozialdemokratischen Kandidaten einzutreten. Die paar Druckereien, die noch existierten, waren Tag und Nacht polizeilich überwacht, um. die Ausgabe von sozialdemokratischen Flugblättern zu verhindern. Auch wurde eine derselben, eine kleine Quetsche, die von Zumbusch & Komp. in Dresden, polizeilich geschlossen, der Inhaber und das Personal gerichtlich zur Verantwortung gezogen und teilweise verurteilt, weil man gewagt hatte, ein Flugblatt für mich zu drucken. Bürgerliche Druckereien aber hatten nicht den Mut, für uns Flugblätter herzustellen, sie wagten oft nicht einmal, Stimmzettel für einen sozialdemokratischen Kandidaten zu drucken. So geschah es, daß, als der Wahltag herankam, in einer ganzen Anzahl Wahlkreise nicht ein Flugblatt verteilt werden konnte, in vielen nicht einmal Stimmzettel. Auch verweigerten in zahlreichen Städten die bürgerlichen Blätter die Aufnahme bezahlter Anzeigen, in denen die Wahl sozialdemokratischer Kandidaten empfohlen wurde. Trotzdem glaubte die Polizei noch ein übriges tun zu müssen, um uns den Wahlkampf zu erschweren. Mit dem Näherkommen des Wahltermins vermehrten sich allerwärts die polizeilichen Verfolgungen und Schikanen, sie nahmen einen immer bösartigeren Charakter an. In sämtlichen Belagerungszustandsgebieten steigerte sich im Herbst die Zahl der Ausweisungen. Die Polizei wurde immer nervöser.

Zu alledem kam die Kandidatennot. Bracke, Geib, Reinders waren gestorben. Fritzsche, Hasselmann, Most, Reimer, Vahlteich waren ausgewandert. Andere, wie Motteler, Bernstein, Tauscher, Richard Fischer, waren durch ihre Stellung im Parteidienst im Ausland für eine Kandidatur unmöglich geworden. Viele ehemalige Kandidaten waren ebenfalls ausgewandert oder wagten nicht mehr zu kandidieren, um nicht ruiniert zu werden, oder sie hatten sich, wie Hartmann und die Gebrüder Kapell, unmöglich gemacht. Die Folge war, daß man allerwärts, wo es an eigenen Kandidaten fehlte, Genossen mit bekannten Namen, die bereits anderswo kandidierten, aufstellte, was auch zugleich die Agitation erleichterte. So kam ich zu der Ehre von fünfunddreißig Kandidaturen, Liebknecht und Hasenclever zu siebzehn, Grillenberger zu fünfzehn usw.

Erschwert wurde weiter die Agitation dadurch, daß viele Wahlversammlungen verboten, noch mehr während einer Rede aufgelöst oder dadurch überhaupt verhindert wurden, daß die Wirte die Hergabe der Säle verweigerten. Und wenn nun trotz alledem und alledem am Wahltag die Partei 311 961 Stimmen zählte, nur 125 197 weniger als bei den Attentatswahlen im August 1878, so war dieses ein gewaltiger Erfolg, der unseren Gegnern in die Glieder fuhr. Namentlich soll nach dem Bekanntwerden des Wahlresultats im Berliner Schloß eine sehr gedrückte Stimmung geherrscht haben.

Tatsächlich war schon am 27. Oktober 1881 das Sozialistengesetz besiegt.

Die moralische Wirkung auf die Partei war ungeheuer. Man hatte sich mal wieder gezählt, und siehe da, drei Viertel der alten Garde standen treu zur alten Fahne. Von jetzt an ging es unaufhaltsam vorwärts, bis endlich der 19. Februar 1890 mit 1 427 298 Stimmen die Entscheidungsschlacht gegen das Sozialistengesetz brachte.

Gewählt war keiner unserer Kandidaten im ersten Wahlgang. Wilhelm Stolle, der im achtzehnten sächsischen Wahlkreis Zwickau-Crimmitschau tatsächlich die Mehrheit hatte, wurde dieselbe durch den Wahlkommissar weggezählt. Er siegte erst in der Stichwahl. Wir waren im ganzen bei zweiundzwanzig engeren Wahlen beteiligt, ich allein in drei: Dresden, Leipzig und Berlin IV.

Die Dresdener Vorgänge waren für mich von besonderem Interesse, weil sie zwei eigentümliche Nachspiele hatten. Es war unmöglich, in Dresden ein Flugblatt herzustellen. Ich entdeckte mit Hilfe von Freunden einen kleinen Drucker in Zittau i. d. L., dem ich den Druck eines solchen übergab. Er erhielt den Auftrag, fünfundvierzigtausend Flugblätter und eine entsprechende Zahl Stimmzettel zu drucken und diese in Paketen von je tausend Stück verpackt in zwei Kisten, als Leinwand deklariert, an einen Dresdener Parteigenossen – Leinwandhändler – zu senden. Als Druckfirma wurde die Druckerei des »Sozialdemokrat« in Zürich-Hottingen genannt. Die beiden Riesenkisten gelangten glücklich an ihre Adresse, aber als der Adressat diese auf seinem kleinen Hof liegen sah, bekam er Angst. Er sandte sie kopfloserweise durch Dienstmänner an einen befreundeten Junggesellen, der im Hofe eines Spediteurs wohnte. Als dieser die Kisten sah, forschte er nach, was sie enthielten. Dadurch in Angst gejagt, schickte der neue Empfänger die Kisten vom Hofe wieder zurück, was den Spediteur stutzig machte, der eilig nach der Polizei sandte. Diese faßte die Dienstmänner mit den Kisten auf der Straße ab und ließ sie nach dem Polizeipräsidium bringen. Als der Inhalt erkannt wurde, rieb sich der Polizeikommissar Paul, einer unserer schlimmsten Gegner, vergnügt die Hände. Jetzt hat die Sozialdemokratie keine Flugblätter zur Wahl, jubelte er. Es war zwölf Tage vor derselben und unsere Lage eine höchst unangenehme. Aber ich verlor den Kopf nicht. Ich erinnerte mich eines Genossen, der Schriftsetzer und ein geriebener Bursche war. Diesen bat ich, sofort eine Reise in die Umgegend von Dresden anzutreten, ob er einen Drucker finde, der bereit sei, gegen gute Bezahlung ein Flugblatt zu drucken, ich wollte unterdes ein neues schreiben. Gesagt, getan. Als abends der Genosse wieder in meine Stube trat, sah ich an seinem Gesicht, daß seine Reise erfolgreich gewesen war. Er hatte in Pirna den Drucker des Amtsblatts für den Plan gewonnen. Dieser sandte nach Weisung am nächsten Sonnabend das Blatt in Koffern, die ihm zur Verfügung gestellt waren, durch einen Dienstmann nach dem Bahnhof, wo unsere Leute die Koffer in Empfang nahmen und an bestimmte Adressen ablieferten. Alles ging nach Wunsch. Da kommt es einem Dienstmann bei, seinen Kollegen wegen der Häufigkeit seiner Transporte nach dem Bahnhof der Polizei zu denunzieren. Die Polizei belegte die letzte Sendung, etwa sechstausend Stück, mit Beschlag und meldete den Vorgang nach Dresden. Aber da es bereits Abend geworden war, standen vierhundert unserer Leute wohlvorbereitet auf dem Posten. Ehe die Polizei von ihrer Überraschung zur Besinnung gekommen war, waren Flugblätter und Stimmzettel verteilt. Es wurden nur zwei Mann mit einigen hundert Flugblättern gefaßt, denen man aber nichts anhaben konnte. Es gelang uns alsdann, noch ein zweites Flugblatt zu verbreiten.

Am Hauptwahltag hatte ich mit 9079 Stimmen die relative Mehrheit unter vier Kandidaten. Ich kam mit dem Dresdener Oberbürgermeister in engere Wahl. Die Handwerker Dresdens, die über 2076 Stimmen verfügten, legten mir ihre Forderungen zur Unterschrift vor, alsdann wollten sie mich wählen. Ich lehnte ab. Das bedeutete meine Niederlage. Die engere Wahl, die unter ganz ungewöhnlichen Umständen stattfand – Bekanntmachung der Aufruhrparagraphen, Konsignierung des Militärs, Besetzung der Wahllokale durch Gendarmen –, entschied mit 14 439 gegen 10 827, die ich erhielt, gegen mich.

In Leipzig erhielt ich bei der Hauptwahl 6482 Stimmen und kam mit dem nationalliberalen Kandidaten, auf den 8894 Stimmen gefallen waren, in engere Wahl. In dieser erhielt ich 9821 Stimmen, mein Gegner 11 863. Auf einen Sieg hatten wir hier nicht gerechnet.

Interessanter verlief die Wahl in Berlin IV. Hier waren bei der Hauptwahl auf mich 13 524 Stimmen, auf Albert Träger 19 527 Stimmen, auf den Konservativen 8270 Stimmen gefallen. In diesem Wahlkreis wie in Berlin VI, in dem Hasenclever kandidierte, hatten die Konservativen bei den engeren Wahlen den Ausschlag zu geben. Nun war zu jener Zeit die Situation in Berlin so, daß die Konservativen (Antisemiten, Christlichsoziale usw.) verzweifelte Anstrengungen machten, die Fortschrittspartei aus dem Sattel zu heben. Sie handelten dabei im Sinne Bismarcks und Puttkamers, der seit einigen Monaten an Stelle Eulenburgs Minister des Innern geworden war. Bismarcks Haß gegen die Fortschrittler und die Liberalen überhaupt war ständig im Steigen begriffen, und so war man wieder einmal wie zu Schweitzers Zeit im konservativen Lager bereit, mit dem Teufel selbst, das heißt mit uns, einen Pakt zu schließen, nur daß wir keine Neigung dazu hatten. Die, Verhandlungen, die gepflogen wurden, gibt folgende Erklärung wieder, die wir in der »Berliner Volkszeitung« veröffentlichten:

»Die Mitteilungen des ›Reichsboten‹ in bezug auf die Unterhandlungen, welche anläßlich der Stichwahlen im vierten und sechsten Berliner Wahlkreis zwischen den Führern der Konservativen und Sozialreformer (den Herren Professor Wagner, Hofprediger Stöcker, Diestelkamp usw.) einerseits und Angehörigen der Sozialdemokratischen Partei andererseits stattgefunden haben, veranlassen uns zu folgender Darlegung:

Donnerstag mittag, den 10. November, erschienen hier in Dresden zwei unserer Berliner Parteigenossen und teilten uns mit, daß zwischen ihnen und den Führern der Konservativen und Sozialreformer Unterhandlungen wegen der bevorstehenden engeren Wahlen in Berlin stattgefunden und zu folgendem Resultat geführt hätten:

Wir, die Unterzeichneten, nebst Hasenclever, sollten folgende Erklärung unterschreiben: Wir erklären:

1. daß wir die arbeiterfreundliche Absicht der deutschen Reichsregierung in ihrer Reformpolitik anerkennen;

2. daß wir ernstlich gewillt sind, gemeinsam mit den sozialreformerischen Parteien in Frieden an der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten;

3. daß wir hoffen, nach dem Worte eines unserer Reichstagsabgeordneten, durch energische soziale Reformen die Revolution zu überwinden.

Als Preis für die Unterzeichnung dieser drei Punkte wurde uns geboten

1. die obenerwähnten Führer der Konservativen und Sozialreformer wollten dafür eintreten, daß ihre Parteigenossen im vierten und sechsten Berliner Wahlkreis bei der Stichwahl am 12. November für uns stimmten;

2. erboten sie sich alsdann, folgende Gegenerklärung zu unterzeichnen: Dagegen erklären wir, daß, wenn die deutschen Sozialisten auf gesetzlichem Wege innerhalb der bestehenden Staatsordnung die Reform erstreben, wir für die Aufhebung des Sozialistengesetzes im gegebenen Falle stimmen werden.

Weiter wurde uns mündlich mitgeteilt: Weigerten wir uns, auf diesen Vertrag einzugehen, so würden die erwähnten Führer die Losung ausgeben: Stimmenthaltung, und dann sei unsere Niederlage in Berlin gewiß.

Wir haben darauf entschieden und bestimmt mündlich erklärt:

1. daß wir jeden Schacher und Stimmenkauf von uns wiesen; daß wir lieber dreitausend ehrlich gewonnene Stimmen als dreißigtausend erkaufte haben wollen; daß wir nicht in der Lage seien, die mit Erlaß des Sozialistengesetzes inaugurierte Wirtschaftspolitik der Reichsregierung: Vermehrung und Erhöhung der indirekten Steuern und Zölle auf notwendige Lebensbedürfnisse, Vermehrung der Militärlasten, Innungsgesetz und dergleichen als arbeiterfreundlich anzuerkennen;

2. daß wir nie abgelehnt – wie unsere Haltung und Erklärungen noch zuletzt gegenüber dem Unfallgesetz gezeigt –, Reformvorschläge der Reichsregierung ernsthaft zu prüfen, zu versuchen, sie unseren Wünschen entsprechend umzugestalten und, wenn sie unserem Standpunkt entsprächen, zu akzeptieren, daß wir es aber ablehnen müßten, mit Parteien gemeinsame Sache zu machen, die in ihren Bestrebungen reaktionär und darum arbeiterfeindlich seien;

3. daß, wenn mit Punkt 3 die Annahme ausgesprochen sein sollte, als wollten wir eine gewaltsame Revolution, dies eine ganz willkürliche Annahme sei. Wir hatten stets erklärt, daß planmäßige, gründliche und ganze Reformen der gewaltsamen sozialen Revolution, die andernfalls eine notwendige Folge unserer politischen und ökonomischen Entwicklung sei, vorbeugen könnten, und wir nicht verantwortlich seien für Dinge, die nicht in unserem Willen und in unserer Macht liegen, sondern von dem Willen und der Macht unserer bisherigen Gegner abhängen.

Mit dieser Antwort reisten unsere Parteigenossen nach Berlin zurück. Das Wahlresultat ist bekannt.

Dresden, den 16. November 1881. A. Bebel. W. Liebknecht

Das Wahlresultat war, daß Hasenclever mit 17–378 gegen den Fortschrittler Klotz mit 17–947 Stimmen, ich mit 18–979 gegen 19–031 Stimmen, die auf Träger fielen, unterlagen. In Wirklichkeit hatte ich aber gesiegt; die Minderheit von 52 Stimmen, mit der ich scheinbar unterlegen war, war dadurch entstanden, daß die Wahlkommission 450 Stimmzettel, die auf meinen Namen lauteten, wegen angeblich mangelhafter Erkennbarkeit des Kandidaten für ungültig erklärt hatte.

Die Parteigenossen des vierten Berliner Wahlkreises legten Protest gegen die Wahl Trägers ein. In der Wahlprüfungskommission beantragten auch die beiden Referenten die Ungültigkeit von Trägers Wahl. Als aber die entscheidende Sitzung herankam, waren die Wahlakten verschwunden, sie waren gestohlen worden. So konnte keine Entscheidung getroffen werden, und Träger blieb im Besitz des Mandats. Wer der Aktendieb war, ist nie ermittelt worden. Von jener Zeit ab werden die Wahlakten der Kreise, gegen deren Vertreter ein Wahlprotest vorliegt, in einem verschlossenen Zimmer aufbewahrt, zu dem nur die Mitglieder der Wahlprüfungskommission Zutritt haben.

Der Kampf bei der engeren Wahl in Berlin war ein sehr heftiger gewesen. Die »Berliner Tribüne« erzählt aus demselben folgende Episode: Ein neunjähriges Mädchen schreibt an eine Haustür mit Kreide: »Wählt Bebel.« Ein Schutzmann sieht dies und fragt sie: »Wie heißt du?« Sie nennt ihren Namen. »Wo wohnst du?« Sie gibt die Wohnung an. »Was ist dein Vater?« ... Ausgewiesener.

Adolf Geck brachte den Vorgang in eine poetische Einkleidung, die lautete:

In Berlin am zweiten Martinitag,
Was war da ein heftiges Ringen!
Schwer wiegt die Entscheidung. Die Losung lag:
»Hie Träger, hie Bebel!« – es dringen
Zur Urne die ringenden Scharen
Der Bourgeois und Proletaren.
Und wie so alle gaßaus gaßein
Nach einem Ziele sich drängen,
Da mischt sich mutterseelenallein
Ein Kind in die wandelnden Mengen,
Ein neunjährig Mädchen, die Wang' gebleicht
Vom Hunger; das Auge, das hohle,
Vom Darben, vom bitteren Elend zeigt. –
Das Händchen trägt eine Kohle,
Und damit an des Palastes Wand
»Wählt Bebell« kritzelt der ärmliche Fant
Bedächtig mit kräftigen Zügen.
Der Schutzmann, er schaut's; entbrennt vor Wut
Ob des Frevels der zitternden Kleinen:
»Wer bist du, Sozialistenbrut?«
»Man nennt mich Lieschen, bin krank und arm,«
Erwidert das Kind ohne Weinen. – –
Und weiter examiniert der Gendarm:
»Wer ist dein Vater, was sein Beruf?«
Ernst mustert die Kleine den Riesen:
»Erfahre es, wer dieses Elend schuf:
Mein Vater ist ausgewiesen.«
In Berlin an jenem Tage der Schlacht
Wohl zwanzigtausend haben bedacht
Des Kindes Mahnung: »Wählt Bebel.«

Das Endresultat der Wahl war, daß wir wider Erwarten dreizehn Mandate eroberten. Es wurden gewählt: Blos in Greiz, Dietz in Hamburg II, Frohme in Hanau, Geiser in Chemnitz, Grillenberger in Nürnberg, Kayser in Freiberg in Sachsen, Kräcker in Breslau-West, Liebknecht in Mainz und Offenbach, Stolle in Zwickau, Vollmar in Mittweida in Sachsen.

Ein Unikum bei dieser Wahl war, und ein Unikum ist es bis heute geblieben, daß der Wahlkreis Freiberg durch eine Frau erobert wurde. Kayser befand sich während der Wahlagitation wieder einmal in Haft, so betrieb sein Freund Kaufmann O. Sch. in Dresden für ihn die Wahlagitation. Das bemerkte die Dresdener Polizei; sie sorgte also dafür, daß O. Sch. unter einem nichtigen Vorwand verhaftet wurde. Der arme und schlechtorganisierte Freiberger Wahlkreis war damit seines Wahlleiters beraubt. Als ich die Nachricht erfuhr, fiel sie mir auf die Nerven, ich wußte nicht, wie ich Ersatz für Sch. auftreiben sollte. Da tritt am nächsten Morgen Frau Sch. bei mir ein mit den Worten: »Daß mein Mann verhaftet wurde, wissen Sie, Herr Bebel. Er wird einige Tage brummen, das schadet ihm nichts. Aber was wird aus Max Kaysers Wahl? Was sagen Sie dazu, ich will in den Wahlkreis reisen und die Wahlagitation leiten!« Ich sah die Frau überrascht an, dann aber reichte ich ihr mit den Worten die Hand: »Frau Sch., Sie sind eine prächtige Frau, ich bin mit Ihrem Vorschlag einverstanden.« Als Frau Sch. nach Freiberg kam und dort sich den vollständig mutlos gewordenen Genossen vorstellte, wurden diese von ihrer Anwesenheit elektrisiert. Sie arbeiteten nunmehr unter Frau Sch.s Leitung mit allen Kräften, und Kayser siegte.

Die Doppelwahl Liebknechts nötigte diesen zur Niederlegung eines der eroberten Mandate. Er legte für Mainz nieder, obgleich seine Mehrheit dort nur 600 Stimmen betrug, wohingegen er im Wahlkreis Offenbach eine Mehrheit von über 3–400 Stimmen hatte. Aber er war durch das Offenbacher Wahlkomitee zu dieser verkehrten Maßnahme gezwungen worden, das noch vor der Wahlentscheidung öffentlich erklärt hatte, Liebknecht werde im Falle einer Doppelwahl für Offenbach annehmen. Nunmehr wurde ich in Mainz als Kandidat aufgestellt. Wir setzten alles daran, den Kreis zu erhalten. Vergebens. Es kam zunächst zur Stichwahl zwischen dem Demokraten Philipps und mir. Aber ich unterlag in der engeren Wahl am 15. Dezember mit 8–385 gegen 8–633 Stimmen. Ich hatte trotz der Unzufriedenheit, die bei unseren Wählern wegen der nochmaligen Wahl herrschte, 248 Stimmen mehr erhalten als Liebknecht. Als letzterer das Resultat erfuhr und mit mir darüber sprach, traten ihm die Tränen in die Augen. Das hatte er nicht gewollt.

Damit hatte zwar meine Reichstagstätigkeit, aber nicht meine parlamentarische, einstweilen ein Ende gefunden. Ich saß ja noch im sächsischen Landtag. Die Kontinuität meiner parlamentarischen Tätigkeit war also vorhanden.

Ich schrieb meiner Frau, sie solle sich über meine Niederlage nicht grämen, ich hätte jetzt mehr Zeit, mich um das Geschäft zu kümmern, da der Landtag nur alle zwei Jahre zusammentrete. Ähnlich schrieb ich an Engels, ich sei froh, einmal ein wenig Ruhe zu haben, die mir nötig sei. Der war aber nicht meiner Ansicht, er sah meine Niederlage als einen Verlust für die Partei an.

Mein Schicksal teilte auch Auer, der im siebzehnten sächsischen Wahlkreis unterlegen war. Ein Protest, den sein Wahlkomitee bei dem Reichstag einreichte, hatte die Folge, daß die Wahlprüfungskommission die Wahl seines Gegners für ungültig erklärte. Aber dieses geschah erst am Ende der letzten Session der Legislaturperiode. So kam es zu keiner Neuwahl mehr.


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