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Ein tüchtiger Leiter der Expedition des »Sozialdemokrat« war mindestens ebenso nötig wie ein tüchtiger Redakteur. Was nützte uns das beste Blatt, wenn nicht eine Kraft vorhanden war, die den außerordentlich schwierigen Transport des Blattes ins Deutsche Reich und die Organisierung seiner Verbreitung im Reich zu leiten verstand? Wenn sich nicht ein Mann fand, der, ungeachtet aller Fehlschläge, die unausbleiblich waren, nie den Mut und den Kopf verlor, sondern mit gutem Humor immer neue Wege und Mittel fand, den zahlreichen Aufpassern an der Grenze eine Nase zu drehen? Denn kaum war das Blatt erschienen, so bot die deutsche Polizei durch Spione, die sie nach Zürich sandte, oder dort für gutes Geld zu gewinnen suchte, das Äußerste auf, um den Schleichwegen auf die Spur zu kommen, auf denen der Massentransport des Blattes bewerkstelligt wurde. Und die Polizeispionage in der Schweiz wurde durch die Mobilmachung der Grenzwächter längs der deutsch-schweizerischen Grenze ergänzt, deren höchster Ehrgeiz es wurde, eine Sendung »Sozialdemokrat« abzufangen.
Der Kampf, der nunmehr während zehn Jahren zwischen den Leitern der Verbreitung des Blattes und der deutschen Polizei und den Grenzwachen geführt wurde, dürfte der interessanteste gewesen sein, der jemals in dieser Art stattfand. Er stellte die höchsten Anforderungen an die Ausdauer, die Umsicht, die Geschicklichkeit und Verschlagenheit des angreifenden Teils und konnte nur dadurch siegreich durchgeführt werden, daß sich allmählich diesseits und jenseits der Schweizer Grenze eine große Anzahl wagender und gewandter Genossen fanden, die, Hand in Hand mit der Leitung in Zürich, sich in den Dienst der gemeinsamen Sache stellten. Aber diese Genossen zu finden und entsprechend zu instruieren, war auch kein leichtes Stück Arbeit. Doch es gelang. Und nicht bloß fanden sich Genossen in Zivil, auch solche im Bahn- und sogar im Polizeidienst, die bei dem Transport der verbotenen Ware behilflich waren. Zu letzteren gehörte ein Polizeiwachtmeister B. in Konstanz, der uns manchen guten Dienst leistete. So sollte er zum Beispiel eines Tages einen verfolgten Genossen auf Anweisung des Staatsanwalts Fieser in Karlsruhe verhaften, dem er in der Nacht vorher Quartier in seiner Wohnung gegeben und zur Flucht verholfen hatte. B. hat später den Dienst quittiert und lebt in der Schweiz als wohlhabender Mann. Sein Vermögen erwarb er sich durch einen Schuhwarenhandel, den er in Winterthur begann. Unter den deutschen Genossen waren es insbesondere Adolf Geck und sein Bruder Karl, ferner die Genossen Autenriet und Haueisen in Offenburg, Kaufmann Arnold in Konstanz, Fr. Haug in Freiburg in Baden und sein Bruder Jakob Haug in Mühlhausen im Elsaß, die Brüder Lutz in Villingen und Besigheim, Gutmann in Basel und viele andere, die den Schmuggeldienst übernahmen oder vermittelten. Später, und namentlich als der »Sozialdemokrat« vom Sommer 1888 ab in London erschien, war Hamburg das Einfallstor für das Blatt, dessen Verbreitung hauptsächlich Wilhelm Schröder und Steinfatt leiteten.
Viele Verbreiter erhielten wegen ihrer Tätigkeit zum Teil wiederholt Gefängnisstrafen. So Adolf Geck elf, sein Bruder Karl sieben, Autenriet vier, Haueisen drei Monate usw.
Die Lagerungsplätze und Transportgelegenheiten für den »Sozialdemokrat« waren zuweilen recht eigenartige. So wurde das Blatt längere Zeit in einer Kirche in Villingen unter der Treppe der Kanzel gelagert. Der Verbreiter des »Sozialdemokrat« im Leipziger Bezirk, Genosse Kleemann, verwahrte es bis zu seiner Ausweisung aus Leipzig in einem ihm als Logenschließer im Stadttheater zur Verfügung stehenden Schrank. Und als Kaiser Wilhelm II. einmal von einer Reise nach England zurückkehrte, ahnte er nicht, daß im Bauch seines Schiffes ein großes Quantum »Sozialdemokrat« verstaut war. Sind einmal die unteren Beamten und Staatsarbeiterschichten für eine einer Regierung feindliche Partei gewonnen, so vermag sie mit dieser Partei nicht mehr fertig zu werden; sie ist auf die Leistungen dieser Schichten angewiesen. Ihr schwankt alsdann der Boden unter den Füßen.
Als der »Sozialdemokrat« ins Leben trat, wurde ein Parteigenosse Uhle, der sich als tüchtiger und gewandter Agitator betätigt hatte, Expedient desselben. Aber bald zeigte sich, daß er für diesen Posten nicht taugte, es fehlte ihm die Geschäftsgewandtheit. Immerhin machte er in der kurzen Zeit, da er diesen Posten bekleidete, eine sehr wertvolle Erwerbung. Er gewann in dem Genossen Schuhmacher J. Belli, einem badischen Bauernsohn, der sich in dem Grenzort Kreuzlingen bei Konstanz niedergelassen hatte, einen vorzüglichen Organisator des Pascherdienstes. J. Belli hat über seine Erlebnisse in dieser Rolle ein Büchlein erscheinen lassen unter dem Titel: »Die rote Feldpost und anderes«, in dem er amüsant die Abenteuer schildert, die mit seiner Tätigkeit verbunden waren. Die Unzulänglichkeit Uhles für seinen Posten veranlaßte mich, an Motteler zu schreiben, ob er geneigt sei, den Posten zu übernehmen, aber Motteler antwortete, er wolle Deutschland ohne Not nicht verlassen. Darauf wandten Vollmar und ich uns nach einiger Zeit nochmals an ihn, der damals in Nymphenburg bei München wohnte, und nunmehr nahm er unser Anerbieten an. Damit hatten wir den richtigen Mann für den richtigen Posten gefunden.
Motteler hatte sich als Kaufmann in der Wollwarenmanufaktur ausgebildet, er war aber auch, um das Geschäft gründlich kennenzulernen, längere Zeit als Arbeiter in der Fabrik tätig gewesen. Er hatte also sozusagen von der Pike auf gedient. Aber Motteler war nicht nur Geschäftsmann, er war auch eine geborene Dichter- und Künstlernatur. Ein genialisch angelegter Mensch und ein angenehmer Gesellschafter, dem Witz und Humor zur Verfügung standen. Unsere Frauen freuten sich stets, wenn die Leipziger Messe herannahte, und er als Vertreter der von ihm gegründeten Krimmitschauer Spinn- und Webgenossenschaft in Leipzig erschien. Die Phantasie spielte allerdings in seinen Erzählungen eine große Rolle. Er sah die Welt stets anders an als wir anderen, aber vergnüglich war es, ihm zuzuhören. Auch war er ein guter Redner, der die Hörer in glänzenden Bildern hinzureißen wußte. Was ihn besonders für seine neue Stellung geeignet machte, war seine Energie und Findigkeit. Auch war er eine unermüdliche Arbeitskraft, im höchsten Grad opferwillig, gewissenhaft und zuverlässig. Eine besondere Geschicklichkeit entwickelte er in der Verpackung des Blattes, sei es in Briefen, sei es in Paketen. Wer auf dem »Olymp« erschien, so hieß die Wohnung Mottelers bei den Züricher Genossen, die mit der Expedition verbunden und für gewöhnliche Menschenkinder unzugänglich war, mußte an den Expeditionstagen auch zur Arbeit heran. Der beständige Wechsel in den Adressen, herbeigeführt durch Wohnungs- oder Ortswechsel, Briefsperre, Verrat oder Bespitzelung der Adressaten verursachte sehr viel Arbeit und erforderte große Umsicht. Kam aber ein Genosse auf den »Olymp«, der nach Deutschland reiste, dann mußte ein solcher eine besondere Prozedur über sich ergehen lassen. Der »rote Postmeister«, wie bald genug Motteler im Munde der Parteigenossen hieß, ordnete alsdann an, daß der Betreffende bis auf die Unterwäsche sich entkleidete. Alsdann wurden der Körper und seine Gliedmaßen kunstgerecht mit Briefen in den verschiedensten Formen eingepackt und ausgepolstert. War dieses Geschäft unter steter großer Heiterkeit der Beteiligten beendet, dann durfte er zur Bahn, um sich jenseits der Grenze in sicheren Händen der überflüssigen Last zu entledigen. Mir ist nicht bekannt, daß je einer der so ausgepolsterten Genossen von einem Zerberus jenseits der Grenze gefaßt worden wäre.
Dagegen wurden manchmal ganze Ladungen an der Grenze oder im Inneren des Landes, fast immer infolge von Ungeschicklichkeit oder Vertrauensseligkeit der eigenen Leute, abgefaßt. Kam eine solche Nachricht, dann geriet auch der rote Postmeister in Zorn. Nun mußte sein Adlatus Belli hinaus, um einen anderen Weg ausfindig zu machen oder neue Schmuggler zu engagieren, für die der Blatt- und Schriftenschmuggel ein gutes Geschäft war.
Aber eine Lücke in meiner Darstellung wäre es, wollte ich hier nicht auch der Ehefrau Mottelers gedenken. Beide stammten aus der gleichen Stadt, Eßlingen in Württemberg. Jugendneigung verband sie. Frau Motteler stand ihrem Mann treu helfend zur Seite. Wehe dem, der gegen ihren Julius eine ungünstige Bemerkung machte. Die Wohnung Mottelers am oberen Wolfbach in Zürich war so gewählt, daß er von ihr aus einen bequemen Überblick über die damals noch unbebaute Umgebung besaß. Polizeispione, deren namentlich das Berliner Polizeipräsidium stets eine Anzahl in Zürich präsent hatte, konnten sich also nicht unbemerkt an die Wohnung heranschleichen. Kam aber ein Fremdling nach dem »Olymp« und begehrte Einlaß, dann trat ihm die »Tante«, wie Frau Motteler wegen ihres gastfreundlichen Wesens von uns scherzweise genannt wurde, in der Tür persönlich entgegen und fragte nach seinem Begehr, wobei sie den Fremdling mit strengstem Blick vom Scheitel bis zur Zehe maß. Bestand er das Examen, dem er unterworfen wurde, dann wurde ihm der Eintritt in das Heiligste, die Expedition, erlaubt. War er aber ein Vertrauter der beiden Eheleute, dann wurde er zum Eintritt in das Allerheiligste, in die gemütlich eingerichtete Wohnstube gebeten.
Aber trotz allen Vorsichtsmaßregeln und allem Mißtrauen, das volle Berechtigung hatte, geschah es doch einmal, daß ein später als gefährlicher Polizeispion und Agent provocateur Entlarvter in die Mottelersche Wohnung Zutritt erlangte, der ehemalige badische Artilleriehauptmann a. D. von Ehrenberg und seine Frau. Sobald aber unser Mißtrauen gegen den Herrn erweckt wurde, mußte er mit seiner sicher völlig unschuldigen Frau das Feld räumen.
Ich komme später noch auf Ehrenberg zu sprechen.
Es mag hier noch kurz einiges über das private Treiben unserer Züricher Freunde verlautbart werden. Allmählich hatte sich in Zürich ein ganzer Generalstab tüchtiger Kräfte eingefunden. Neben Bernstein, Motteler, Vollmar die beiden Setzer des »Sozialdemokrat« Richard Fischer und Tauscher, Derossi, der Gehilfe Mottelers, Karl Kautsky und später Heinrich Schlüter, dann der Züricher Genosse Schneider Beck und der Buchbinder Karl Manz, der in Berlin der letzte verantwortliche Redakteur der Berliner »Freien Presse« gewesen war, ehe ihr das Sozialistengesetz den Garaus machte, und andere. Schlüter beriefen wir Ende 1883 auf meinen Vorschlag nach Zürich, zur Organisierung des Schriftenvertriebs, nachdem er in Dresden ausgewiesen worden war und in Stuttgart keine ihn befriedigende Existenz hatte finden können. Auf ihn geht die Einrichtung des Parteiarchivs zurück, dessen Gründung ich schon im Leipziger »Vorwärts« und dann wieder im »Sozialdemokrat« angeregt hatte. Schneider Beck, ein lustiger Kumpan, war der »Hofschneider« des damaligen Studenten Peter Karageorgewitsch, des späteren Königs Peter von Serbien. Peter Karageorgewitsch, der öfter mit unseren Parteigenossen verkehrte, manchmal auch an den lustigen Sitzungen im Mohrenklub teilnahm, war damals ein armer Teufel, der sich ständig in Geldnot befand. Um sich ein wenig herauszuhelfen, veranlaßte er den Schneider Beck, ihm seine Rechnung fünfzig Prozent höher im Preise anzusetzen. Sobald dann Peters Rechnung von dessen Angehörigen bezahlt wurde, erhielt Peter von Beck die überschießenden Beträge. König Peter hat während des Balkankriegs einem Interviewer der »Neuen Züricher Zeitung« das Geständnis abgelegt, wie schön es in seiner Jugend in Zürich gewesen sei und welche hochfliegenden Pläne sie damals für Völkerwohl und Völkerglück geschmiedet hätten. Aber Träume sind Schäume. Es gibt noch manchen Staatsmann und hohen Beamten auf dem Balkan, der in jungen Jahren in Zürich ein firmer Marxist wurde und es mit der Internationale hielt. Es soll ihnen kein Vorwurf daraus gemacht werden. Ich schätze sie höher als jene preußischen Junkersöhne – darunter einige von altem Adel –, die damals ebenfalls in Zürich studierten, aber ebenso borniert nach Hause zurückkehrten, wie sie in Zürich einrückten.
In Zürich ging es zuweilen recht lustig zu, denn Trübsalblasen war auch unter dem Sozialistengesetz trotz alledem nicht unsere Art. Die ständig von allen Seiten nach Zürich gelangenden Nachrichten von den Schand- und Gewalttaten im Reiche, die noch durch die Erzählungen der nach Zürich kommenden Ausgewiesenen und Flüchtlinge ergänzt wurden, steigerten zwar den Zorn unserer Genossen über diese Zustände, was an der Haltung des »Sozialdemokrat« zu spüren war, aber es gab auch wieder Stunden, wo man sich mehr als Mensch denn als Parteimann fühlte und dem Humor die Zügel schießen ließ. In der Regel ging es im Mohrenklub, wie in Erinnerung an die gleichnamige Verbindung, die vor dem Sozialistengesetz in Berlin bestand, eine Vereinigung von Parteigenossen sich nannte, besonders lebhaft zu, wenn wir nach Zürich kamen, was jedes Jahr mehrere Male geschah. Alsdann wurde mit besonderer Andacht das berühmte »Lied vom Bürgermeister Tschech« gesungen, der in den vierziger Jahren ein Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. mit ziemlich komischem Ausgang unternommen hatte. Eduard Bernstein war alsdann der Vorsänger, den Refrain sang der Chor. Diesem Lied folgte das ebenso berühmte »Petroleumlied« und ähnliche Spottgesänge auf die Zustände in Deutschland. Oder Eduard Bernstein und Karl Kautsky – damals die beiden Unzertrennlichen – sangen ein Duett, das Steine erweichen, Herzen brechen machte. Oder man trieb sonstige Allotria, bei denen wir aus dem Lachen nicht herauskamen. Eine Zeitlang wohnte in dem Hause, in dessen Parterreräumen der Mohrenklub tagte, Gottfried Keller, der berühmte Züricher Dichter. Als er eines Abends den Besuch von Paul Heyse hatte, war der Lärm im Parterre besonders stark. Heyse fragte Keller, wer denn die Lärmer seien, worauf Keller im züricherischen Dialekt antwortete, das seien die Sozialdemokraten. Darauf deklamierte Paul Heyse mit komischem Pathos: »Dort unter der Schwelle brodelt die Hölle.« Aber diese gemütlichen Lärmer konnten sehr ungemütlich werden, galt es, einem entlarvten Spitzel gründlich das Fell zu gerben oder ihm sonst zu zeigen, »wo Barthel den Most holte.« Das geschah zum Beispiel dem sächsischen Spitzel Schmidt, den das Dresdener Polizeipräsidium mit Staatsgeldern unterstützte, wissend, daß Schmidt ein gemeiner Verbrecher war. Als Schmidt nach seiner Entlarvung nach Dresden zurückkehrte, mußte ihm der Prozeß gemacht werden, in dem er zu fünfjährigem Zuchthaus verurteilt wurde.
Sobald Motteler seinen Posten in Zürich angetreten hatte, entwickelte sich zwischen uns eine lebhafte Korrespondenz. Ich kann dieselbe ungeachtet ihres interessanten Inhaltes nur zum kleinsten Teile wiedergeben, meine Arbeit nähme sonst einen zu großen Umfang an. Dieselbe Reserve muß ich mir auch in der Wiedergabe der Korrespondenz mit Marx, Engels, Vollmar und anderen auferlegen. Mit Mottelers Eintritt in die Verwaltung des »Sozialdemokrat« bekam diese ein anderes Gesicht. Es kam Zug in die Sache, und die Zahl der Leser wuchs rasch. Ende 1879, also schon nach dreimonatigem Bestand, hatte der »Sozialdemokrat« einen Absatz von 3600 Exemplaren, ein über Erwarten großer Erfolg in Erwägung der großen Schwierigkeiten, die seiner Einschmuggelung in Deutschland entgegenstanden. Und der Absatz stieg immer mehr, aber auch die Schwierigkeit der Einschmuggelung, da die Grenzwachen ihre Tätigkeit verdoppelten und verdreifachten. So entstand nach einigen Jahren die Frage, ob es sich nicht empfehle, einen größeren Teil der Auflage im geheimen in Deutschland drucken zu lassen. Die gleiche Frage entstand nun noch dringender für die Herstellung verbotener Schriften, deren Absatz ebenfalls ständig wuchs. Hier kamen den Zürichern die Ratschläge und das Eingreifen der Genossen Dietz und Grillenberger zu Hilfe, die sich damit um die Partei große Verdienste erwarben. Die Herüberschmuggelung der Matern nach Deutschland geschah in sehr ingeniöser Weise. Das Blatt wurde bald hier bald dort fertiggestellt, manchmal auch auf längere Zeit an einem Orte, erlaubten das die Umstände. Die Polizei merkte bald, wohl unterrichtet durch die Grenzbeamten, denen zeitweilig immer kleiner werdende Sendungen Blätter in die Hände fielen, daß in der Hauptsache das Blatt in Deutschland gedruckt werden müsse. Die Polizei setzte nunmehr ihr ganzes Können ein, um den Orten der geheimen Herstellung auf die Spur zu kommen. Vergeblich. Wo nicht Ungeschicklichkeit im Spiele war, reichte der Witz der Polizei nicht aus, Entdeckungen zu machen. Verräter gab es hier keine, denn die Genossen, die sich an der Herstellung dieser Literatur beteiligten, waren erstklassige Männer, auf deren Verschwiegenheit und Geschicklichkeit man bauen konnte. Während der ganzen Dauer des Sozialistengesetzes gelang es der Polizei auch nicht einmal, eine Herstellungsstätte verbotener Schriften zu entdecken. Mit geradezu unerhörter Kühnheit druckte zum Beispiel längere Zeit Grillenberger den »Sozialdemokrat«. Die Nürnberger Polizei ahnte, daß er bei Wörlein & Co., dem Grillenbergerschen Geschäft, hergestellt werde. Sie veranstaltete auch eine Haussuchung nach der anderen bei Tag und bei Nacht, jedoch stets ohne Resultat.
Auch Genosse Dietz nahm ein großes Risiko auf sich, als er mehrere Auflagen meines Buches: »Die Frau und der Sozialismus« im geheimen herstellte. Hier handelte es sich um eine umfangreiche Schrift, deren Herstellung längere Zeit in Anspruch nahm, wobei die Gefahr der Entdeckung mit jedem Tage wuchs. Ich begriff seine Lage, als er mir eines Tages schrieb: Es sei doch eine verflucht gefährliche Geschichte, in die er sich eingelassen habe. Der Stuttgarter Staatsanwalt leitete auch, wahrscheinlich auf Hörensagen hin, eine Voruntersuchung wegen Herstellung verbotener Schriften gegen ihn ein. Aber der Liebe Müh war vergeblich.
Über diese Angelegenheit schreibt Genosse Dietz:
Bebel beabsichtigte eine vollständig neu bearbeitete Ausgabe seines Buches »Die Frau und der Sozialismus« in Deutschland herstellen zu lassen. Als Verlag sollte eine Schweizer Firma genannt werden. Maßgebend war, daß eine in Deutschland gedruckte Auflage im Inlande verbleiben und daher leichter verbreitet werden konnte als eine, die vom Ausland über die Grenze geschmuggelt werden mußte. Bebel und ich kamen überein, das Werk in der Stuttgarter Buchdruckerei herzustellen. Das Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich hatte sich bereit erklärt, seine Firma auf das Werk setzen zu lassen und den Vertrieb für das Ausland zu übernehmen. Der alte Titel wurde abgeändert in »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. Etwa ein halbes Jahr nach der Fertigstellung wurde der Behörde verraten, ich hätte das Werk gedruckt. Eine Haussuchung fand statt, von dem Werk wurde in der Druckerei nichts vorgefunden, dagegen glaubwürdig festgestellt, daß die Verjährung nach dem Preßgesetz (6 Monate) bereits eingetreten sei, eine Verfolgung also nicht mehr eintreten könne. Ein Nachspiel sollte die Affäre aber insoweit haben, als Herr v. Puttkamer in der nächsten Session des Reichstags einen von der Regierung eingebrachten Gesetzentwurf verteidigte, nach dem die Verjährungsfrist wegen Preßvergehen von einem halben Jahr auf drei Jahre erhöht werden sollte. Der Reichstag lehnte den Gesetzentwurf kurzerhand ab.
Unter seinen Papieren hatte Herr v. Puttkamer auch Bebels Buch liegen, das damals
unter dem gelben Umschlag der »Berichte der Fabrik-Inspektoren 1883« eine starke Verbreitung fand.
Das auf Grund- des Sozialistengesetzes erlassene Verbot hatte folgenden Wortlaut: »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Von August Bebel. Verlag des Verlags-Magazins (J. Schabelitz) zu Zürich 1883. Kgl. Polizei-Präsident zu Berlin. 2.11.83. Das Verbot erstreckt sich auch auf diejenigen Exemplare dieser Druckschrift, welche unter einem Deckelumschlag mit der Titelaufschrift: »Berichte der Fabrik-Inspektoren 1883« verbreitet werden. Kgl. Polizei-Präsident zu Berlin. 19.12.83.«
Die erste Auflage von 1879 war schon unter Umschlägen verbreitet worden auf denen gedruckt stand »Engel, Statistik, 5. Heft«.
So hing über den meisten von uns das Damoklesschwert, bei dem einen aus diesem, bei dem andern aus jenem Grunde. Und das band uns wieder zusammen, wenn einmal zwischen uns Differenzen ausbrachen, was bei der Verschiedenheit der Temperamente und der Auffassungen nur natürlich war, begünstigt durch die Schwierigkeit, im öffentlichen Kreise sich aussprechen zu können. Das war, ist und wird sein, solange es eine Partei gibt. Dem gemeinsamen Feind aber standen wir allezeit als eine geschlossene Phalanx gegenüber, die jeden Tag stärker wurde.