Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Erste Abtheilung.


Die Wildschützen

Eine Erzählung.

I.

Zorn und Necken sind leider die gewöhnlichsten, aber auch die gefährlichsten Fehler unter der Jugend. Aus ihnen keimen so viele traurige Folgen des höheren Alters, so viel Unglück für Staat und Familien.

Lies, meine liebe Jugend, folgende Erzählung, lies sie bedächtig, beherzige sie, prüfe dich, ob du keinen dieser Fehler an dir hast, und – bessere dich, wie Hermann und Julie! –


Vor etwa fünfzig Jahren lebte in einem engen Waldthälchen am Rhein ein Mann von sechzig Jahren seine alten Tage dahin. Er war seit seiner Jugend der Forstmann einer guten, wohlthätigen Herrschaft gewesen, der er immer in Treue und Redlichkeit gedient hatte. Sein Jägerhäuschen stand am Fuße eines schroffen Felsens, von dem noch die grauen Ruinen einer zerfallenen Burg aus der Ritterzeit herniedersahen. Und die über der Hausthüre hochragenden Hirschgeweihe sagten jedem Manne: »Hier wohnt der ehrliche Oswald.«

Oswald hatte noch in seinen späteren Jahren ein gutes, sittsames, liebenswürdiges Mädchen geheirathet, und durch sie zwei schöne Kinder bekommen. Aber, ach, es traf ihn gleich darauf ein Schlag, der ihn beinahe zu Boden drückte. Bei dem letzten Kinde mußte die arme junge Frau das Leben lassen. Daher war der gute Mann vor der Zeit alt geworden, und die weißen Haare auf seinem Haupte gaben ihm das Ansehen, als wenn er noch zehn Jahre mehr hinter dem Rücken hätte. Er war oft äußerst betrübt; und hätte er sich nicht in die Vaterarme der göttlichen Vorsehung geworfen – er hätte dem Gram unterliegen müssen. – »Ständ' ich allein nur auf der Erde,« seufzte er, »so wollte ich den schrecklichen Verlust gelassen ertragen und mich mit der kurzen Zeit trösten, die ich in diesem Thal des Jammers noch zu verleben habe. Aber wenn ich meine zwei unerzogenen Kinder ansehe, wird es mir so erschrecklich bange, daß ich beinahe vergehe. Ich bin, trotz meines Alters, fast Tag und Nacht in den Wäldern. Es ist meine Pflicht. Ich kann nicht anders. Wer wird sie nun erziehen, unterrichten, bilden? Ich schicke sie zwar in die Kirche, in die Schule – aber was nützt das Alles, wenn nicht im Vaterhause der Stempel auf das Gute gedrückt wird, das sie anderswo hören und lernen. Dort sind sie zerstreut, ihre Gedanken auf vielerlei gerichtet, wo sie nicht sein sollten. Aber zu Hause im trauten Familienkreise sind ihre Herzen gerührt und weich, um das Gehörte und Gelernte zu bewahren.« –

Deßungeachtet trug er doch Alles bei, was in seinen Kräften stand, um die Erziehung seiner Kinder zu vervollkommnen. In der Frühe, wenn er mit Jagdtasche und Gewehr nach dem Walde ging, mußten sie ihn begleiten, so weit das Thälchen reichte. Er zeigte ihnen Gottes Allmacht in Gottes schöner Natur; stieg vom Wurme bis zur aufgehenden Sonne, von der Sonne bis zum Menschen, von dem Menschen bis zum Schöpfer. Er redete von der Nahrung des Wurmes, das ist das Fett der Erde; von der Nahrung der Lilie auf dem Felde, das ist der Thau des Himmels; von der Nahrung des Menschen, das ist das Brod für den Leib, für den Geist aber Frömmigkeit, Tugend und Liebe zu Gott. Und dieß Alles erklärte er so einfach und väterlich, daß den Kindern nicht ein einziges seiner Worte entgehen konnte. –

Wenn er Abends nach Hause kehrte, harrten sie schon am Eingange des Waldes, und antworteten jubelnd auf die Töne seines Jagdhorns. Sein Erstes, wenn er sie erblickte, war immer die Frage, wie sie den Tag zugebracht hätten. Und wenn sie nun redliche Rechenschaft abgelegt, und er mit ihnen zufrieden war, durften sie sich an seinen Hals hängen, und ihn küssen. Oder er brachte ihnen einen jungen Vogel, oder ein Sträußchen Erdbeeren, oder eine schöne seltene Waldblume. Nun wurden im Nachhausegehen, wenn die Dämmerung des Abends sich so geheimnißvoll in das Dunkel der Nacht verlor, die jungen Herzen mit göttlichen Dingen beschäftigt. Der brillantene Schimmer der Sterne am unermeßlichen Himmelsgewölbe, und der matte Schein eines Johanniswürmchens am Boden, das Rauschen des Rheinstromes in der nächtlichen Stille, und das Sumsen der Abendkäfer – Alles gab ihm Stoff zu heiligen Gesprächen mit seinen Kindern. Und er freute sich so innig in seiner Seele, wenn er sah, daß seine Lehren Wurzeln faßten, und ihm die Hoffnung gewährten, daß sie in Zukunft reichliche Früchte tragen werden. –

Hermann und Julie, so hießen die Beiden, waren im Ganzen recht gute Kinder. Aber Jedes hatte doch einen sehr bedeutenden Fehler. Hermann hatte einen gränzenlosen Jähzorn, so daß er, nur ein wenig gereizt, mit den Füßen die Erde stampfte, niederfiel, weinte, Scheltworte ausstieß, ja sogar in der höchsten Wuth nach Messer und Hirschfänger lief, oder, um seinen Zorn an einem Gegenstand auslassen zu können, den Hühnerhund seines Vaters so derb durchprügelte, daß das arme Thier winselte und heulte, und sich Tagelang unter dem Scheiterhaufen hinter dem Hause verbarg. War sein Zorn vorüber, so reute ihn Alles, was er gethan hatte. Er schämte sich vor den Leuten, die sein wildes Toben mit angesehen. Und wenn ihn der Vater gestraft hatte, so trat er dann zu ihm, kniete vor ihm nieder, bat um Verzeihung, und versprach vollkommene Besserung. –

Julie hatte einen entgegengesetzten Fehler. Sie konnte zwar nicht leicht zum Zorn gebracht werden; bei Allem, was ihr Hermann Leids zufügte, blieb sie immer ruhig und gelassen; höchstens, daß sie eine Thräne vergoß, mit den Worten: »Warte nur, ich will es dem Vater klagen, wenn er nach Hause kömmt.« – Anstatt, daß sie es aber wirklich that, sann sie auf eine Gelegenheit, ihn auf das Feinste necken zu können, und besonders seine Lieblingsvergnügungen zu stören. Je mehr er ihr's untersagte, desto mehr neckte sie ihn. Das erweckte seinen Zorn; es gab Streitigkeiten, und sie kamen endlich Beide klagend vor den Vater.

Der Vater schlichtete den Streit, versöhnte sie wieder, ermahnte sie zur Geschwisterliebe, weinte vor ihren Augen über ihren grenzenlosen Leichtsinn, stellte ihnen lebhaft vor, daß sie, von ihren Leidenschaften verleitet, noch in's schrecklichste Elend hineinrennen würden, bestrafte sie mit Worten, mit der tagelangen Aeußerung seiner Unzufriedenheit mit ihnen, züchtigte sie – und Alles wollte nicht helfen. Sie besserten sich zwar auf einige Zeit, und gaben einander die Hände, mit dem gegenseitigen Vorsatze, dem Vater nicht mehr so viel Kummer und Sorgen machen zu wollen. Allein, wenn die Gelegenheit gar so reizend zum Necken und zum Zorne war – so vergaßen sie die Ermahnungen und Züchtigungen des Vaters und ihre eigenen Vorsätze, und verfielen in ihre alten Fehler ärger, als jemals. –

»Ihr bringt mich noch vor der Zeit in's Grab,« sagte der alte Vater zitternd vor Gram; »zu euch muß der liebe Gott mit seiner Zuchtruthe kommen, ich richte nichts aus mit euch. Ihr macht mir mehr Kummer und Sorgen, als die Wildschützen im Walde, die auf mein Leben lauern. Ihr seid auch Wildschützen, so jung ihr noch seid, und für mich die gefährlichsten. Ihr schießt mit euren Leidenschaften auf einander los, wie auf wilde Thiere, und bedenkt nicht, daß die zehnfachen Kugeln dieser eurer schrecklichen Gewehre jedesmal mein Herz treffen. O meine Kinder, was soll das werden? Schonet doch um Gottes willen meiner grauen Haare. Was habt ihr davon, wenn ich heut oder morgen im Grabe liege? Jetzt bedenkt es, jetzt! Wenn ich nicht mehr bin, ist die Reue zu spät. Den halb vermoderten Vater können keine Thränen mehr lebend machen. Habt ihr es gehört? Merkt es euch endlich doch einmal auf immer, ihr jungen Wildschützen.«

Diese Rede des Vaters schien den mächtigsten Eindruck auf die Herzen der Kinder gemacht zu haben. Hermann hatte von jeher den auffallendsten Abscheu vor den Wildschützen; und daß ihn nun der Vater selbst einen geheißen, das führte ihn unvermerkt auf ernsthafte Betrachtungen über sein wildes, zorniges Wesen. Julchen aber weinte einen ganzen Tag lang. Er bat und flehte den Vater: »O, ich will gewiß nicht zu den Wildschützen gehören!«

»Wenn ihr,« entgegnete Oswald, »nur einmal ein Vierteljahr in Verträglichkeit und Liebe mit einander zugebracht, so will ich von Herzen gern dieß Wort zurücknehmen; und ich umarme euch wieder mit Vaterfreude – als meine Kinder!«

II.

Der Herbst rückte heran – und die Geschwisterte Der Autor verwendet in der ganzen Erzählung Geschwisterte; das Wort war im vergangenen Jahrhundert in Teilen der Schweiz, auf jeden Fall in der südlichen Schweiz, im häufigen Gebrauch; ohne Zweifel noch immer.sch. für Gutenberg hatten sich immer noch gut gehalten, worüber sich Oswald im Innern väterlich freute. Nun wurde von der Herrschaft eine große Jagd angesagt, wozu eine Menge vornehmer Herren und Jagdliebhaber aus der Gegend geladen waren. Der Morgen, an dem die Schützen ausgezogen, war freundlich und helle, und verkündete einen heitern Herbsttag. Der alte Oswald durfte nicht zu Hause bleiben; denn er kannte ja jedes Plätzchen im Walde, und wußte am besten, wo sich ein Hirsch, oder ein Rehe, oder ein Wildschwein verborgen hielt. Die jungen Barone und Edelleute drangen auch während des Weges unaufhörlich mit Bitten in ihn, sie auf einen Stand zu führen, wo sie gewiß etwas erbeuten könnten – was dem guten, alten Oswald nicht wenig schmeichelte. Weil er bisher mit Hermann zufrieden sein konnte, so nahm er ihn mit auf die Jagd, um ihm Freude zu machen. Julie aber beschäftigte sich nach Kräften zu Hause in der Küche, und half für die Jagdtreiber, wenn diese Abends zurückkehrten, eine tüchtige Kost zubereiten.

Der Lärm der Jagenden hallte durch Wald und Thal; Schüsse auf Schüsse fielen. Manches Wild stürzte todt zu Boden – manches lief aber auch davon, was zu einer Menge von Spässen und Scherzen unter den Schützen Veranlassung gab. So wurde dieß Wesen bis zu Sonnenuntergang getrieben, und man kehrte, reichbeladen mit Beute, und unter frohen Jagdliedern der Heimath zu. Aber die reichste Beute war – ein Wildschütze, dem man zufällig auf die Spur gekommen war. Ein paar tüchtige Jagdhunde hatten sich über ihn hergemacht – und so war er von den Schützen gefangen worden.

Der wilde Mann mit trotzigem Auge und schwarzen, borstigen Haaren, mußte, die Hände über den Rücken gebunden, dem Zuge vorangehen. Rechts und links war er von tüchtigen Bauernburschen mit knotigen Jagdprügeln umgeben; und vor ihm liefen sechs bis acht Hunde von der besten Art, die fortwährend auf ihn zurückbellten. Als Hermann diesen Gefangenen ansah, wurde es ihm ganz unheimlich und bange. Er gedachte der Worte seines Vaters: »Du bist ein junger Wildschütze!« – und machte in der Stille auf's Neue bei sich den festen Vorsatz, gewiß nicht mehr jähzornig zu werden.

Als man an Oswalds Wohnung angekommen war, befahl der Gutsherr, man solle den Wildschützen einstweilen in den danebenstehenden Thurm einschließen, bis ihm der Prozeß gemacht werde. Oswald schüttelte bedenklich den Kopf, indem er einwendete, der Thurm sei schon alt und morsch, und der Wildschütze könne mit einiger Anstrengung in der Nacht wohl herausbrechen.

Allein man merkte auf Oswald's Warnung nicht, weil man zu sehr von der Freude des Tages eingenommen war. Und der Wildschütze wurde eingesperrt. –

»So, böser Mann,« sagte Oswald in ernstem Tone, da er die Thüre zu verriegeln im Begriffe war, »warte nur, die Gerechtigkeit folgt dir auf dem Fuße nach.« – Aber der Wildschütze drehte die Augen, hob die Faust empor, schlug sie an die Wand, und fluchte.

Unterdessen hatte sich Alles in das Jägerhaus gemacht; und Oswald eilte, seine Gäste zu bewirthen. Ach, hätte er doch sein Gewehr mit sich hineingenommen. Aber nein, er vergaß es in der Eile, und ließ es an einem Baume hängen.

III.

Während drinnen im Hause Alles lustig und vergnügt war, schlich Hermann leise durch eine Nebenthüre heraus in's Freie. Er hatte vom Fenster aus Vögel auf den Bäumen und in der Nähe des Hauses herumfliegen sehen – da konnte er es im Zimmer nicht mehr aushalten. Denn es steckte ein gewaltiger Jäger in dem Knaben. Hurtig griff er nach der Lockpfeife, kroch auf allen Vieren in die am Eingang einer Schlucht neben einer Quelle von Gesträuch erbaute Vogelhütte, bestrich die Leimruthen, legte sie auf den Hecken umher, und schickte sich nun an, zitternd vor Begierde, die herumflatternden jungen Vögel auf die Ruthen zu locken.

Aber, ach, welch' ein Unglück! Da gerade Hunderte in der Nähe waren, hüpfte Julchen herbei, die ihn schon lange gesucht – und die Vögel flogen wieder fort. Ungehalten über das Geräusch, das sie verursacht hatte, schalt er sie derb aus. »Ach,« sagte sie, ihn besänftigend, »ich wußte es ja nicht, was du thun willst. Jetzt weiß ich es wohl. Laß mich nur zu dir in die Hütte, und ich will die Vögel nicht mehr verjagen.« – »Ich will dich nicht,« erwiederte Hermann; wärst du stille herbeigeschlichen, so könnt' ich dich wohl in der Hütte leiden – aber jetzt geh' nur, geh'!« – »Ich bitte dich, Brüderchen,« flüsterte Julie, »ich will stille sein, wie der Fuchs auf dem Acker, wenn er Mäuse sucht.« – »Nein,« trotzte Hermann, »ich kann dich nicht brauchen; und kommst du, so werf' ich dich aus der Hütte.« – »Nun, so sollst du auch keinen einzigen Vogel fangen,« sagte Julie, und stellte sich hinter ein Gesträuch.

Hermann lockte mit der Pfeife. Die Vögel kamen wieder auf den einladenden Ruf, und flogen rechts und links um die Ruthen. Da sprang Julie hervor, warf ihre Schürze in die Höhe, und schrie: »Husch! Husch!« und fort waren sie alle. Hermann wurde roth vor Zorn, ballte die Fäuste, drohte ihr mit Schlägen, zog das Jagdmesser aus der Tasche, und – dachte nicht an den Wildschützen im Thurme, mit dem ihn der Vater so ernst und sinnreich verglichen hatte. Julchen aber lachte, und sagte nur immer: »Laß mich in die Hütte – und ich bin ruhig.« – »Und jetzt gerade nicht!« erwiederte der zornige Bruder.

Ueber eine Weile pfiff er wieder. Die Vögel kamen. »Husch! Husch!« Und Hecken und Ruthen waren leer. »Aber, Mädchen,« schrie der wilde Knabe, und zog den Hirschfänger, »ich spalte dir den Kopf, wenn du nicht stille bist.« – »Ei, ei,« entgegnete Julie spottend, »was du da doch sagen magst. Höre! wenn du mich nun gleich in die Hütte einließest – ich will nicht. Doch sollst du auch keinen Vogel haben.«

In dem Augenblicke ließ sich auf einem nahen Baume der wunderschöne Gesang einer Grasmücke hören. Hermann lockte; das Vögelchen sang immer näher und freundlicher; er lockte wieder, da hüpfte es von Ast zu Ast tiefer herab, flatterte von Hecke zu Hecke, immer näher und näher, und eben wollte es auf eine Leimruthe – »Husch! Husch!« –

Jetzt rannte der Knabe wie wüthend hervor; Thränen des Zornes glänzten in seinen rollenden Augen. Er sah die Flinte des Vaters am Baume hangen. Im Hui hat er sie, spannt, zielt, und schießt. Ein Schrei – Julchen fällt todtenblaß auf die Erde.

Obwohl der Knabe selbst durch und durch erschrocken war, so glaubte er doch Anfangs, sie verstelle sich nur, und ließ sie ein paar Augenblicke liegen. Aber nun sprang er hinzu, und berührte ihre Wange. Sie war kalt und ohne Leben. Er zitterte vor Angst, und rüttelte sie an den Gliedern: »Julchen! Liebes, liebes Schwesterchen, steh' auf, ich bitte dich; sieh', ich hab' es ja nicht so böse gemeint. Du sollst den ersten Vogel haben, den ich fange. Komm selbst in die Hütte; fange ihn selbst! Oder, sage nur, was soll ich dir geben! Ich habe eine schöne Bilderbibel. Willst du meinen jungen Hühnerhund? Alles, Alles sollst du haben. Steh' nur auf! Ich bitte dich um Gottes willen, steh' auf!«

Allein Julie blieb ohne Bewegung. Jetzt erst trat dem Knaben sein begangener Fehler in all' seiner Furchtbarkeit vor die Seele. »Was hab' ich gethan?« rief er laut auf weinend, »heiliger Gott! Sie ist todt! Ich habe meine Schwester erschossen. Ich bin der elendeste Knabe auf der Erde. Dadurch werde ich auch meinen Vater tödten. Ach, was fang' ich nun an, was fang' ich an? Verflucht sei der Zorn, der mich zu dieser That verleitete. Ach, wie bereu' ich sie! – Aber es ist zu spät, zu spät! Sie ist todt, todt! – Halt, ich höre schon Geräusch in dem Hause. Ich muß fort, fort! Ich darf meinem Vater nicht mehr unter die Augen treten. Ich bin ein Wildschütze! Ich bin Schwester- und Vatermörder! Fort, in den Wald! Ein harter Stein sei mein Lager; Nesseln und Wurzeln will ich essen. Für mich ist das Schlechteste gut genug; ich verdiene das Leben nicht. – O meine Schwester! Julchen, Julchen, lebe wohl! Verzeihe, verzeihe mir! Verklage mich nicht vor Gottes Richterstuhl!« –

So rief er bewußtlos, fiel auf sie hin, küßte und drückte sie, und benetzte ihre Wangen mit seinen Thränen.

Der Schuß, der in geringer Entfernung von dem Jägerhause gefallen war, hatte auf einmal dem Jubel und Singen der lustigen Zecher ein Ende gemacht. Anfangs saßen alle stumm; dann aber rannten sie auf, und jeder wollte zuerst zur Thüre hinaus, um zu sehen, was vorgefallen. »Das muß ein Wildschütze sein!« schrieen sie wie aus einem Munde, und langten nach Gewehr und Jagdmesser, um ihn zu verfolgen.

Aber wie starrten sie auf einmal, als sie Hermann neben der leichenblassen Schwester knieen sahen, und den Schreckensausruf vernahmen: »Ich habe meine Schwester erschossen!« Der Förster konnte sich bei dieser Entdeckung nicht mehr halten, er sank, übermannt vom fürchterlichsten Schmerzgefühl, zusammen. Ein Jäger, der noch einige Geistesgegenwart besaß, schickte auf der Stelle seinen Burschen fort, um den Wundarzt des eine halbe Viertelstunde entlegenen Dorfes schleunigst herbeizuholen. Nun wurde das Mädchen von vier Männern sanft emporgehoben, und langsam in das Haus getragen. Den wankenden greisen Vater führten sie nach. Er rang die Hände, zerraufte sich die grauen Haare. Seufzer ohne Ende zerstießen seine Brust; Thränen aus den rothen Augen flossen auf die Erde. »O Gott,« jammerte er, »was muß ich an meinen Kindern Alles erleben! Wie weit ist es mit ihnen gekommen! O das ist schrecklich; das bringt mich unter die Erde! Dieß noch hat gefehlt, dieß – und das Maaß meines Jammers ist voll. Ach, daß ich doch vorher gestorben wäre. Ich hätte sie segnen können. Mein Segen hätte sie vielleicht vor so schrecklichen Mißgriffen ihres jungen Lebens bewahrt! Hermann! Hermann! hab' ich dieß um dich verdient? Dieß ist also der Lohn für alles Gute, für meine Vaterliebe? – O wie oft, wie nachdrücklich und ernst hab' ich dir deinen leidenschaftlichen Zorn vorgehalten. So wenig hast du meine Ermahnungen zu Herzen genommen, daß du nun in deinen jungen Jahren Mörder deiner Schwester – und bald auch deines Vaters werden mußt. Ja, ja, ich werde bald sterben. Für mich ist Sterben das Beste. O mein Gott, hole mich heim zu dir!«

Und sie hatten das Jägerhaus erreicht. Alles strömte nach, die erschossene Julie zu sehen, und Oswalds Jammer zu hören. Es flossen auch viele Thränen der Theilnahme über ein so erschreckliches Unglück.

Im Freien aber war es indessen stille und lautlos geworden. Hermann hatte sich, da er allein war, schnell aufgerafft, und entfloh durch die Schlucht dem Walde zu. – Die Natur verhüllte sich in ihr Dämmerungs-Gewand, und der Herbstnebel stieg, wie ein Geist, aus dem nahen Feldthal in die Höhe, um die alten Ruinen auf dem Felsen zu umfangen. Cikaden kreischten; Wellen stiegen, und der Abendstern schien an das Jägerhaus, und wollte sagen: »Gute Nacht!«

IV.

Da rührte es sich allmählig im alten Thurme. Der Wildschütze hatte Alles mit angehört, was vorgefallen war, und da er nun nichts Menschliches mehr in seiner Nähe hörte, mußte er den Entschluß gefaßt haben, die morsche Thüre zu sprengen, und davon zu laufen. Das von Innen tönende Gepolter gab dieß leicht zu erkennen. Aber da es auf wiederholte Versuche nicht gelingen wollte, brach er in die schrecklichsten Verwünschungen aus. Jedes lebende Wesen, wenn es die fürchterliche Baßstimme aus einem so verdächtigen Orte heraus vernommen hätte, wäre voll Schrecken davon geflohen. Endlich wurde er stille. Aber nicht lange, so pfiff er ganz schauerlich und nervendurchdringend. Ueber eine Weile pfiff er zum zweitenmale, noch lauter; da entstand im nahen Gebüsch ein Geräusch. Er pfiff zum drittenmale – und Zwei seines Handwerkes, halbe Riesen, gerade so abscheulich, wie er, krochen hinter einem Baume hervor. Sie lauschten und sahen überall umher, ob kein Mensch in der Nähe wäre. Dann schlichen sie zum Thurme.

»He da, wo bist du denn?« brummte Einer in's Schlüsselloch hinein. »Verflucht sei, der dich da hineingesperrt.« – »Zum Henker,« erwiederte der im Thurme, »flucht, wenn ich draußen bin; jetzt aber macht mich frei. Ihr habt die beste Gelegenheit dazu. Es ist stockfinstere Nacht. Alles ist im Jägerhaus. Wenn es auch dort laut zugeht – das darf euch nicht kümmern. Ein glücklicher Zufall hält sie Alle drinnen gefesselt. Hier dürft ihr pochen und hämmern, wie ihr wollt. Wenn ich nicht heute noch aus diesem verfluchten Loche komme, so führen sie mich morgen in die Stadt, und dann ist's um uns Alle geschehen. Denn, wenn ihr mich hier so erbärmlich im Stiche laßt, so werde ich euch im Verhör nicht verschonen.« –

Endlich, geschreckt durch diese Drohung, schickten sie sich an, mit einem scharfgeschliffenen Beile die morschen Bretter der Thüre zu zerhauen. Die Arbeit hielt doch lange an; und das durch das Einhauen verursachte hohle Gekrache bewog sie oft, daß sie sich hinter den Thurm zurückzogen, um immer wieder zu lauschen, ob man im Hause drinnen ihrer nicht gewahr werde. Nach einer Viertelstunde brach durch gegenseitige Anstrengung die Thüre – und der Wildschütze war los. Er umarmte in der gräßlichsten Freude seine Kameraden, und lachte, als wenn er der Strafe des Weltgerichts entgangen wäre. »Nun,« brummte er höhnisch, »nun sollen sie morgen in aller Frühe kommen, und mich abholen wollen. Ha, ha! das wird ein gewaltiger Spaß werden. Der alte Graukopf hatte doch recht, da er die Andern warnte, mich nicht da hineinzusperren. Ich warf ihm ein paar Blicke zu, da er dieß sagte, als wenn ich ihn durchstechen wollte. Aber zu meinem Glücke haben ihm die Dummköpfe nicht geglaubt. Nun sollen sie mich holen im tiefsten Walde, wo wir Herren und Vögte sind.« –

Und alle Drei lachten schrecklich zusammen. Dann hob der Erste die Faust gegen das Jägerhaus, dessen Inneres mit einem Kerzenlichte beleuchtet war, und fluchte bei der furchtbaren Nacht: »Warte, alter Jäger, ich will nicht ruhen, bis ich dir deine schlaue Warnung vergolten habe. Wenn du mir schon mein Gewehr genommen – sieh' hier liegt noch das Deinige am Boden. Dein Sohn hat seine Schwester damit erschossen. Ich aber will dir eine Kugel daraus zusenden, daß du keiner zweiten mehr bedarfst.« –

Bei diesen Worten griff er hastig nach dem Gewehr, das man in der Verwirrung mit in's Haus zu nehmen vergessen hatte, hob es hoch empor, schwang es dreimal in der Luft, und rannte mit seinen Kameraden über Stock und Stein – in die Nacht hinaus.

V.

Die Nacht war vorüber. Der Nebel des Herbstmorgens verzog sich allmählig in einen leichten Dunst, und verschwand in der Luft. Die falben Blätter der Waldbäume fielen, von den Tropfen des Nebels überwältigt, rauschend zur Erde. Da fuhr Hermann erschreckt vom Schlafe auf. Er war gestern kraftlos und müde durch das nächtliche Herumirren im Walde unter einer Buche niedergesunken. Schreckliche Träume hatten ihn gequält; die furchtbare That stand in belebten Gestalten vor seinem Gewissen.

»Wo bin ich?« fragte er sich selbst. »So hat sich denn wirklich all' dieß Furchtbare zugetragen? O ja, ich kenn' es an den Qualen meines Gewissens. Ach, Julchen, mein Julchen! – Wie ich an meinen Gliedern zittere, meine Kleider sind durchnäßt vom Nebel; die Herbstluft ist so schauerlich und kalt, und mir ist so bang unter diesen Bäumen. Ich will zu meinem Vater zurückkehren; ich will vor ihm niederfallen; ich will ihm sagen: Siehe Vater, hier liegt dein ungerathener Sohn; ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen dich. Aber verstoße mich nicht! Nur dießmal, dießmal nur noch Verzeihung! Fange mit mir an, was du willst; halte mich für den geringsten Knecht; züchtige mich; nur verstoße mich nicht; verzeihe mir!« –

Und er wandte den Fußtritt auf den engen Pfad zurück, auf dem er gekommen war. Aber da hielt er plötzlich inne. »Nein,« rief er, und verbarg sein Angesicht, über das die Thränen herabquollen; »nein, ich darf, ich kann nicht zurück. Ich habe schon so oft Besserung versprochen und nie gehalten. Das Schrecklichste ist geschehen. Julchen ist todt! Der Vater darf mir nicht verzeihen. Nein, nein, ich will nicht zurück; mein Anblick tödtet auch ihn. Wie liebreich hat er mich oft ermahnt! Und was sagte er noch vor kurzer Zeit? »Ihr seid auch Wildschützen. Ihr schießt mit eueren Leidenschaften auf einander los – und die zehnfachen Kugeln treffen mein Herz.« Diese Worte konnt' ich vergessen, ich Elender! Und wie erschrack ich gestern, als ich den Gefangenen sah! Welche Vorsätze machte ich, mich zu bessern, und gleich darauf wurd' ich ein größerer Sünder, als er selbst! – O, es empört sich mein Inneres vor mir!«

Und er warf sich auf seine Kniee nieder. Seine thränenvollen Augen wandte er hinauf, so weit er konnte, die Hände rang er ohne Unterlaß, das jugendliche, keineswegs verdorbene Herz schwebte auf seinen zitternden Lippen. »Gott im Himmel,« betete er, »nur dießmal noch mach' es anders, wenn es möglich ist, und dir ist ja Alles möglich. Du siehst in mein Herz! Du kennst meine Reue und den Vorsatz einer vollkommenen Besserung; o laß mich doch nicht verloren gehen. Ich will mir diesen Vorfall mein Leben lang wohl zu Gemüthe nehmen. Ich will bei jedem Reiz zum Bösen an diese schreckliche That denken. Nur nimm mich wieder auf als dein Kind. Du hast noch keinen einzigen reuigen Sünder von dir gewiesen – verstoße auch mich nicht; lege mir in das Herz, was ich nun beginnen soll.« –

Da wurde er plötzlich durch ein Geräusch und menschliches Brummen aus einiger Entfernung unterbrochen. Er erschrack und kroch vorsichtig in ein nahes, sehr dunkles Gesträuch, wo er jedoch, wenn er den Kopf ganz auf die Erde neigte, den freien Platz vor sich im Anblicke hatte. Es vergingen einige Minuten – da sah er drei Männer durch die Waldschlucht heraufkommen, die unter einander in sehr heftigem Gespräche begriffen waren. Der Weg, wie es schien, führte sie an dem Gesträuche vorüber. Aber wie zitterte er, da er den Mann, der in der Mitte ging, sogleich für den gestern eingefangenen Wildschützen erkannte. Zu der Angst gesellte sich im Augenblicke die innerste Gewissenspein, da er an der Seite des Mannes das Gewehr seines Vaters gewahrte. Es erinnerte ihn wieder auf das Lebhafteste an die schrecklich verübte That.

Die Männer standen gerade vor dem Gesträuche stille, und luden ihre Gewehre. Während dieser ganzen Zeit schwebte der Knabe in wahrer Todesangst. Er hielt den Odem an sich, und rührte sich nicht. Das geringste Geräusch hätte ihn verrathen.

»So wahr ich die Flinte lade,« hub der in der Mitte an, »der Jäger Oswald darf nach zweimal vierundzwanzig Stunden nicht mehr leben. Der Alte ist uns schon lang ein Stein im Wege. Und nun durch den gestrigen Vorfall hat er mir vollends die Galle auf's Höchste getrieben.«

»Nur sachte, sachte,« entgegnete der Andere; »so blindlings dürfen wir nicht zu Werke gehen, wenn wir nicht alle Drei unser Leben auf's Spiel setzen wollen, wie du gestern das Deinige.« – »Du hast Recht,« fiel der Dritte ein, »ich für meinen Theil werde um alle Welt nichts wagen, wenn sich nicht eine gute Gelegenheit darbietet.« – »Ich sag' euch aber,« brummte der Erste lachend, »die haben wir morgen mit Haut und Haar. Ihr wißt, es wird in der Riedmühle drüben Kirchweihe gehalten. Da muß der Jäger, trotz der Trauer über den Tod seines Töchterleins, dabei sein, weil ihm der Gutsherr die Aufsicht über Ruhe und Ordnung gegeben hat. Ich verkleide mich in einen Bauernknecht, und halte mich immer in seiner Nähe. Wenn er nun in der Nacht nach Hause geht, so stoß' ich auf dem Fußwege, wie von ungefähr, zu ihm, und leiste ihm in aller Vertraulichkeit Gesellschaft. Er wird froh sein, einen Gefährten durch den verrufenen Wald zu haben. Sind wir aber in der Nähe der drei großen Buchen, wo ihr euch Beide inzwischen verborgen habt – so pfeif' ich dreimal durch den Finger; ihr springt hervor, und wir haben ihn gefangen. Nun schleppen wir ihn tiefer in den Wald, und binden ihn an eine Eiche, bis der Tag erwacht. Dann will ich auf sein Herz zielen, so ruhig und sicher, wie auf ein Wildthier.«

Die beiden Andern schüttelten den Kopf bei dem verwegenen Plan ihres Meisters. Da er aber bei ihrem Zaudern furchtbar schrie: »Nun, wollt ihr nicht? schlagt ihr nicht ein?« warfen sie ihre Hände in die seinigen, daß das Echo des Klatschens schauerlich am Waldberg hinaufzischte.

Die Flinten waren geladen – und sie gingen weiter.

Wie dem Knaben im Gesträuche während dieser Zeit gewesen sein mußte, läßt sich leicht denken. Schrecken, Angst und Freude bemächtigten sich seines Herzens. Da die Männer vorüber waren, kroch er hervor, kniete nieder, und rief: »Lieber Gott, ich danke Dir! Noch bin ich nicht verloren! Du hast mich wieder in Gnaden angenommen!« – Nun erhob er sich schnell, und eilte hinab durch die Schlucht, der Heimath zu.

VI.

Der alte, bedauerungswürdige Oswald war, da sie ihn mit Julchen in das Zimmer gebracht hatten, stumm und krank vor Schmerzen in seinen Lehnstuhl gesunken. Seine Thränen flossen auf Julchen, die bleich und bewegungslos in ihrem Bettchen lag.

Kaum war eine Viertelstunde vorüber, so trat der Wundarzt ein. »Sie ist todt, todt!« rief ihm der bekümmerte Vater beim Eintritte entgegen. Der Wundarzt aber, ein ehrwürdiger, erfahrener Mann, trat ruhig vor ihr Bett, untersuchte und fand, daß der Schuß nur am rechten Arme vorüber gestreift hatte; er fühlte nach den Pulsen – sie schlugen.

»Gottlob! es ist nicht so!« sprach er lächelnd: »Sie lebt! Sie ist unbeschädiget! Ich habe bereits den ganzen Hergang der Sache aus dem Munde des Jägerburschen vernommen, der mich hiehergeholt. Das Mädchen ist blos vom Schrecken überrascht worden; eine Ohnmacht hat sie ergriffen. Tröstet euch, mein lieber, alter Freund! Sie wird bald genesen. Und wir wollen Gott danken, daß die Sache, die allerdings sehr bedeutend hätte ausfallen können, so gut abgelaufen ist.«

Oswald war durch diese tröstende Entdeckung wie zu einem neuen Leben zurückgerufen; er erhob voll Dank die noch zitternden Hände.

Nun ergriff der Wundarzt alle erdenklichen Mittel, das Mädchen zur Besinnung zurückzubringen. Er rieb mit warmen Tüchern die Gliedmassen, befeuchtete mit scharfem Essig und wohlriechendem Oele ihre Schläfen; gab ihr an die Nase zwei bis drei Tropfen einer geistigen Tinktur – und nach wenigen Minuten rührte sich Julchen, und richtete sich im Bette auf.

Der alte Vater, darüber hoch entzückt, fiel ihr um den Hals: »O ihr bösen Kinder,« stammelte er, »was habt ihr wieder gethan? Euren armen Vater habt ihr beinahe zu Tode gemartert. Doch, Gott sei Dank, weil du nur wieder lebst!«

Julchen sank zurück auf ihr Bett, und schlummerte ein.

»O ihr bösen Kinder,« redete der alte Mann noch immer mit sich selbst, »ihr Bösen! Ja, beinahe zu Tode gemartert! – Ihr Wildschützen!« – Er lehnte das matte Haupt über das Rückenpolster und schlief. –

Als er am Morgen erwachte, lächelte ihm Julie frisch und heiter entgegen. Jetzt gedachte der Vater seines Sohnes. Im furchtbaren Schrecken hatte er gestern seiner vergessen. – »Wo ist Hermann? wo ist er?« rief er im ganzen Hause herum. Niemand wußte, wo? »Um Gottes willen, so geht doch! sucht, sucht! ihr dürft nicht ohne ihn kommen. Ach, wie arm bin ich alter Mann! Nun fehlt mir wieder der Knabe. Und an Allem ist er selber Schuld, der böse Knabe.«

In dem Augenblicke kam ein Jägerbursche, und brachte die Nachricht, Hermann werde sogleich da sein; er eile raschen Schrittes dem Zimmer seines Vaters zu; der Arme habe ganz rothgeweinte Augen.

»Ja, ja,« schluchzte Oswald, »er soll nur weinen, recht weinen; er hat mir auch viele Thränen ausgepreßt. Ich will ihn aber auch bestrafen dafür. Julchen, geschwind verbirg dich im Nebenzimmer. Er soll es nur noch eine Zeitlang glauben, daß du todt seiest, – der böse Knabe!«

Kaum hatte sich Julie verborgen, da öffnete sich die Thüre in das Zimmer des Vaters – und Hermann kroch auf den Knieen herein. Der Knabe weinte, daß eine Thräne die andere schlug. »O Vater, mein Vater!« Dieß waren die Worte, die er hervorbringen konnte. Oswald trat ihm ernst entgegen: »Hermann,« sprach er bewegt, »du hast die Früchte deines Zornes geärntet; du trägst nun auf immer den Gedanken an eine schreckliche That in dir. Was geschehen ist, kannst du nie mehr ungeschehen machen. All' mein Warnen, all' mein Strafen war umsonst. Ach, mein Sohn, mein Sohn, wenn du dich jetzt nicht wahrhaft besserst, so ist's vorüber.«

»O gewiß, gewiß,« rief Hermann, und umfaßte die Kniee seines Vaters, »sieh Vater, hier liegt dein ungerathener Sohn; ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen dich; aber verstoße mich nicht; nur dießmal, dießmal nur noch Verzeihung. Fange mit mir an, was du willst! Halte mich für den geringsten Knecht! Züchtige mich; nur verstoße mich nicht! Verzeihe mir! Siehe, ich will mich gewiß bessern. O mein Gott! Vater! Julchen!« –

Nun konnte es Oswald selbst nicht mehr aushalten. Sein weiches Vaterherz zerschmolz in Thränen. »Hermann,« sagte er, »wenn es dir denn wirklich ernst ist, wenn du deinen Vater nicht auf ein Neues betrügen willst – siehe, so geb' ich dir deine Schwester wieder.«

Und mit diesen Worten öffnete er die Thüre in das Nebenzimmer. Kaum, daß sich die beiden Geschwisterte erblickten, so erscholl es: »Julchen! Hermann.« Und sie lagen sich in den Armen. »So bist du denn wirklich mein Julchen?« fragte Hermann: »O wie froh bin ich, daß ich dich wieder habe. Ich will gewiß nicht mehr schießen. Geh' in meine Hütte, so oft du willst. Sie gehört dein – ich will sie dir schenken. Julchen, und du gehörst wieder mein!« –

Oswald freute sich über diesen Anblick im Stillen, und sagte bei sich: »Nun kann ich einem frohen Greisenalter entgegensehen. Gott ist mit seiner Zuchtruthe gekommen.«

Wie er sich nun nach dem ganzen Hergang der Sache genau erkundigte, wollte Jedes allein die Schuld haben. Dieß schien ihm schon ein gutes Zeichen einer beginnenden Besserung. Denn, wenn sie sonst Zwist mit einander hatten, wollte Jedes Recht haben. Er aber sagte am Ende: »Beide tragt ihr die Schuld. Und wenn die Sache übler ausgefallen wäre, als es wirklich der Fall ist – ich könnte Keines in Schutz nehmen. Du, Hermann, sollst nicht zürnen, und Julchen, du sollst nicht necken. Merkt es euch nun einmal in allem Ernste; ihr jungen Wildschützen!« –

VII.

»Wildschützen!« rief Hermann, und fiel dem Vater um den Hals: »Theurer, guter Vater, du schwebst in naher Todesgefahr. Der Wildschütze hat aus dem Thurme gebrochen. Laß nur einmal nachsehen, ob es sich nicht so verhalte. Ich sah ihn im Walde. Ich sah sie Alle. Drei sind es an der Zahl, wilde furchtbare Männer. Sie haben sich gegen dich verschworen. Sie gehen auf dein Leben los.«

Hermann redete noch – da drangen die Jägerbursche beim Zimmer herein, und schrieen: »Der Wildschütze ist fort! Die Thüre ist eingesprengt!«

Der Knabe erzählte nun das Gespräch der Wildschützen im Walde von Wort zu Wort; denn es war ihm keines entgangen. Oswald war äußerst ergriffen von dem, was er hörte. Und nachdem Hermann mit der Erzählung fertig war, sagte er sehr ernst und väterlich: »Siehst du nun, mein Sohn, welch' ein furchtbares Ende deine That genommen haben würde, wenn nicht Gott unendlich gütig und freundlich mit uns verführe. Dein Zorn hat auf Julchen geschossen; der Schuß und Julchens Ohnmacht brachte das ganze Haus in Verwirrung; die Verwirrung begünstigte das Vorhaben des Wildschützen, aus dem Thurme zu brechen, und – wir sind Alle verloren. Aber in dem Augenblicke, da du wahre, innige Reue über deinen Fehltritt empfunden, sieht dich Gott in Gnaden an, und gewährt dir die Freude, mich vor der nahen Todesgefahr warnen zu können. O Dank, Dank dem gütigen Gott!« –

Nun berathschlagte sich Oswald mit seinen Leuten, was zu machen wäre. »Herr,« sagten diese frohlockend, »Ihr habt weiter nichts zu thun, als morgen zur Kirchweihe in die Riedmühle zu gehen. Für alles Andere laßt uns sorgen. Dießmal fangen wir alle Drei auf einen Streich; und so ist doch die Gegend wieder einmal sicher und frei von dem tollen Raubgesindel.«

Sie erklärten ihrem alten Herrn, wie sie es mit den drei Wildschützen machen wollten; und Oswald war mit ihrem Anschlage ganz zufrieden. Nur empfahl er den jungen hitzigen Jägerburschen Ruhe und kluge Vorsicht.

Am andern Tage in aller Frühe wanderte Oswald, mit Gewehr und Jagdtasche versehen, der Riedmühle zu. Er nahm einen Umweg, um den Wald zu vermeiden, und sich, besonders dießmal, keiner Gefahr auszusetzen. Die Jägerbursche versprachen mit Hermann nachzukommen, weil sie kein Aufsehen erregen wollten. – Der Müller hieß den Förster freundlich willkommen, und nahm den herzlichsten Antheil an dem gestrigen Unglücke; denn er hatte auch schon davon gehört; deßgleichen die Bauern und ihre Weiber aus dem nahen Dorfe, die alle mit ihren Söhnen und Töchtern zur Kirchweihe gekommen waren. Da aber Oswald den guten Ausgang der Geschichte erzählte – boten sie ihm freudig die Hand, und wünschten ihm Glück; denn sie schätzten ihn als den verständigsten und bravsten Mann in der Gegend.

Unter den Gästen war auch ein junger Bauernbursche, der immer allein saß, und hie und da ein Wort dazwischen sprach und, wenn es gerade Niemand bemerkte, die Augen unter den schwarzen Wimpern herumwarf, wie ein Luchs, wenn er auf Beute lauert. Es ging das Gerede unter den Gästen, er sei erst gestern Abends bei einem Bauern im andern Dorfe drüben eingestanden.

Unterdem kamen die Jäger. Hermann hatte gleich beim Eintritte den Fremden in's Auge gefaßt und, trotz seines veränderten, vortheilhaften Aussehens, sogleich erkannt. Er winkte seinen Leuten zu, und bezeichnete den dort als verdächtig.

Als der verkappte Wildschütze plötzlich zehn bis zwölf Jägerbursche hereintreten sah, zeigte sich auf seinem Gesichte eine trotzige Verwirrung. Er suchte sie zu verbergen, und führte ein Mädchen zum Tanze auf. Da er aber sich schnell umdrehte, fiel ihm ein großer, schwarzer Bart aus der Tasche. Einer aus Oswalds Leuten sah es, schlich herbei, und steckte den Bart zu sich. Nun war er gänzlich verrathen. Die Bursche bewachten alle Ein- und Ausgänge des Hauses.

Nun setzte man sich zur Mahlzeit, und die Gäste ließen es sich alle wohl schmecken. Diese Gelegenheit benützte der Wildschütze, stahl sich aus dem Zimmer, schlich durch einen finstern Gang, und wollte sich durch die Hinterthüre des Hauses in's Freie davon machen. Aber da wurde er von den Fäusten und dem Gelächter tüchtiger Jägerbursche empfangen. Alles Wüthen und Fluchen nützte nichts; er wurde gebunden und in das Haus zurückgeführt. Bei Durchsuchung seiner Taschen fand man Pulver und Blei, einen Jagddolch, und einen vom Schafte gedrehten Flintenlauf. Alles freute sich über diesen glücklichen Fang. Nur die Mütter schalten und bissen sich vor Aerger in die Lippen, daß ihre Töchter mit einem Wildschützen getanzt hatten.

Oswalds Leute banden nun den saubern Kameraden an einen eisernen Ring, der in der Wand befestigt war, und bewachten ihn, während sich die übrigen Gäste wiederum den Freuden des Festes überließen, als wenn nichts vorgefallen wäre. Da aber die Nacht hereingebrochen, und es so dunkel geworden war, daß man kaum sechs Schritte vor sich hinsehen konnte, brachen die Jägerbursche mit ihrem Gefangenen auf. »Du mußt uns,« sagte Einer zum Wildschützen, »mit oder wider Willen einen sehr großen Dienst erweisen. Wir möchten gerne deine Kameraden sehen. Man sagt, sie seien so prächtige Männer, wie du. Führ' uns also bei ihnen vor. Denn gehen wir so allein zu den drei Buchen, so erschrecken sie und laufen davon. Wir wollen aber nicht, daß sie sich vor uns fürchten sollen. Du hast ein Zeichen mit ihnen verabredet, auf dieses werden sie augenblicklich erscheinen, und – den alten Jäger Oswald in Empfang nehmen. Nicht wahr? So ist es? Wissen wir es nicht? O, die Bäume haben Ohren und Zungen. Schurken, nehmt euch besser in Acht, wenn ihr wieder einmal einen Mordanschlag verabredet. Doch wir wollen sorgen, daß es nimmer geschieht.«

Der Wildschütze war durch diese Rede wie vom Blitz zerschmettert, er starrte vor sich hin und fluchte. Aber der Jäger setzte ihm ein zweischneidendes Messer auf die Brust, und sprach mit donnernder Stimme: »Willst du dich ruhig verhalten bis zu den drei Buchen? Willst du dann dreimal durch die Finger pfeifen? Willst du?« –

Er mußte wollen. Er entschloß sich auch lachend, indem er nun doch schon verloren war. Der Zug bewegte sich fort. Drei führten den Gefangenen. Die Andern hielten sich immer in geringer Entfernung, ohne ein Wort zu reden, oder auch nur das geringste Geräusch zu machen. Unter ihnen waren Oswald und Hermann. So kam man in die Nähe der drei Buchen. Zwei von den Jägerburschen redeten ganz gemüthlich und laut miteinander, um die lauernden Wildschützen zu täuschen, als wenn es ihr Kamerad mit dem alten Jäger wäre. Der Gefangene brummte: »Dummköpfe, bleibt drinnen, wenn ich pfeife« – und pfiff – wieder – zum drittenmal. Da stürzten die zwei Wildschützen mit gräßlicher Stimme hervor – und sahen sich rings von Jägerburschen umgeben, die schon auf das zweite Pfeifen voran gerannt waren. Alles Toben half nichts. Im Augenblicke waren sie fest gebunden. Man schlug Feuer, und zündete eine Fackel an. Nun sahen sie ihren Irrthum ein – und verfluchten ihren Meister. Er aber lachte und schrie: »Hab' ich denn nicht gebrummt: Dummköpfe bleibt drinnen, wenn ich pfeife? Aber was schadet's euch? Wo euer Meister ist, sollt auch ihr sein. Und ist es denn etwas Arges, ob ein Jahr früher am Stricke hangen? – Zeigt doch vor diesen da nicht, als wenn es euch nicht gleichgiltig wäre.«

Da trat Oswald mit Hermann in den schauerlich beleuchteten Haufen. – »Dießmal,« sprach er, »habt ihr die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Mein Sohn, der aus Angst und Schmerz über seine böse That besinnungslos in den Wald geflohen, hat euren schändlichen Mordanschlag mitangehört. Die strafende Gerechtigkeit hat euch erreicht. Gehet nun hin, und empfanget den Lohn für euer verbostes Leben!«

VIII.

Die Wildschützen wurden noch in derselben Nacht in die Stadt abgeführt, und dem Gerichte übergeben. Drei Monate brachten sie in dem Kerker zu, ohne auch nur das Geringste ihrer frühern Verbrechen einzugestehen. Endlich wurde durch die schrecklichste Folter dem Häuptling das Geständniß entlockt, daß er schon einmal einen Mord begangen. Er wurde daher zum Tode verurtheilt. Die beiden Andern aber, weil sie nach der Aussage des Erstern selbst an keinem andern Mordanschlag, als an dem gegen Oswald, Antheil genommen, wurden zur zehnjährigen Kettenstrafe verdammt.

Da nun Jener hörte, daß ihm wirklich der Prozeß gemacht sei – fuhr er erschrocken zusammen. Er hatte immer noch auf gelindere Strafe gehofft. Sein höhnisches Lächeln, das er die ganze Zeit im Kerker beibehalten hatte, verwandelte sich auf einmal in eine ernsthafte, nachdenkende Miene. Er fragte den Wärter, wie lang er noch leben dürfe; und hörte mit Schrecken, so lange nur, als er den alten Jäger Oswald leben lassen wollte. Er weinte, und verlangte zum erstenmale einen Geistlichen. Durch diesen wurde er endlich so in sich selbst zurückgeführt, daß er sein Leben aus dem innersten Grunde seines Herzens bereute, zur großen Freude Aller, die von dem Wildschützen gehört hatten. Am Tage vor seiner Hinrichtung, wo ihn viele Hunderte von Menschen besuchten, gab er besonders der Jugend herzergreifende Ermahnungen. Und wenn die Leute über ihn weinten, hob er den Finger empor, und sagte mit zitternder Stimme: »O weinet über eure Kinder, wenn sie euch nicht gehorchen; und über euch selbst, wenn ihr sie nicht fromm und sorgsam erziehet.« –

Gegen Abend ließ er den Förster Oswald mit seinen Kindern zu sich bitten. Als der Mann erschien, fiel er vor ihm nieder, und bat ihn tausendmal um Verzeihung wegen des Leides, das er ihm angethan, und dankte Gott mit erhobenen Händen, daß er den schrecklichen Mordplan nicht zur Ausführung kommen ließ. Zu den Kindern aber sagte er: »O ich bitt' euch um Gottes willen, folget eurem Vater, und werdet verträglich. Der unbändige Zorn in meiner Jugend hat mich zu dem greuelvollen Leben, und nun zu dem schmachvollen Tode auf der Richtstätte gebracht. Ich hatte eine Schwester, die ich über Alles liebte. Aber mein rasender Zorn verleitete mich zu einer That gegen sie, die die Grundlage meines künftigen verdorbenen Lebens wurde. – Wir angelten einmal mit einander an einem Bache. Sie fing größere und schönere Fische, als ich. Das verdroß mich, und ich wurde mürrisch. Als wir nach Hause gingen, lachte sie mich aus. Ich wurde zornig. – »Sieh, sieh! ich kann der Mutter schönere Fische bringen, als du!« So neckte sie mich, zeigte mir die Fische, verbarg sie wieder in ihrer Schürze, da ich darnach haschen wollte, und reizte meinen Zorn auf das Aeußerste. Da machte ich mich über sie her, gerade auf einem morschen Steg, über den wir gehen mußten, schlug sie mit den Fäusten, und wollte ihr die Fische entwenden. Sie wehrte sich dagegen. Ich stampfte mit den Füßen. Das Geländer brach entzwei. Meine Schwester fiel in den Bach – und ich lief lachend davon. – O, ihr Angstgeschrei, ihr Weinen und Rufen um Hilfe tönt mir jetzt noch fürchterlich in den Ohren. Damals aber rannt' ich ohne Gefühl dem Walde zu. Kaum stand ich dort einige Minuten, so war mein Zorn vorüber, und ich sah nun ein, was ich gethan. So unbändig vorher meine Wuth war, so groß war jetzt meine Reue und mein Schmerz. Aber was sollte ich anfangen? Ich durfte ohne meine Schwester nicht nach Hause kommen. Wenn die Eltern erfahren, daß ich sie in's Wasser geworfen, wenn sie todt heimgetragen wird – o, das ist fürchterlich, das martert meine Eltern zu Tode. Nein, nein! Ich darf nicht umkehren! ich darf nicht!«

»So schrie ich, warf mich nieder auf einen Baumstock, heulte und wehklagte, daß der Wald davon ertönte. Da fühlte ich auf einmal einen Schlag auf meine Schulter – ich fuhr erschrocken auf, und sah einen alten, bärtigen Mann mit Gewehr und Jagdmesser vor mir stehen. Sei nicht so dumm, Knabe, brummte er, und schüttelte mir die Hand. Was geschehen ist – das schlage dir aus dem Sinne. Nach Hause kannst du nicht mehr. Komm mit mir. Du sollst ein herrliches Leben führen.«

»Der Böse fuhr in mich. Ich ging und war in den Händen eines Wildschützen. Der Mann machte mein Herz immer kälter und kälter, mein Gewissen immer leichter und leichter; ich vergaß Eltern, Schwester und Heimath – nahm das Gewehr an die Seite und das Messer in das Wamms, und gefiel mir in diesem Handwerk so gut, daß es mir bald zur Leidenschaft wurde. – Aber es währte nur einige Jahre, da verlor ich meinen Lehrmeister plötzlich durch einen schauderhaften Tod. Ich traf ihn, nachdem ich zwei Tage im Walde herum ihn gesucht hatte, entseelt unter einer Tanne liegen; sein Gewehr lag zerschmettert neben ihm; seine Brust war von einer Kugel durchbohrt; drei Aeste an der Tanne waren abgeknickt. Vermuthlich hatte der Mann die Tanne bestiegen, um auf ein Wildthier zu lauschen. Der Branntwein, den er gerne trank, mochte seine Sinne betaumelt haben. Er wird auf dem Baume eingeschlafen, und schlafend herabgestürzt sein. Am Stürzen aber wird die Flinte an den Aesten gestreift, die Ladung sich freigemacht, und die Kugel seine Brust durchbohrt haben.«

»Ich stand wie versteinert neben dem entseelten Körper. Und wenn ja noch ein Funken eines guten Gewissens in mir gelebt hätte – würd' ich reuig in die Arme meiner Eltern zurückgekehrt sein. Aber, nein; daran dacht' ich nicht, sondern ich irrte Tag und Nacht im Walde herum – allein – in Angst und Schrecken. Und weil ich wußte, daß man auf die Wildschützen Jagd hielt, scheute ich mich, einen Schuß aus der Flinte zu lassen. Daher mußte ich auch bald den schmerzlichsten Hunger leiden. Ich entschloß mich nun zur Vollführung des Abscheulichsten, was ein Mensch thun kann. Ich lauerte auf einen Reisenden, dem ich Geld und Gepäcke abnehmen könnte. Damit wollte ich über die Grenze flüchten. Das Glück und Unglück war mir günstig. Ich griff einen Kaufmann an. Der Arme flehte auf seinen Knieen nur um sein Leben; nein – o ich entsetze mich vor mir selbst – ich stieß ihm den zweischneidenden Hirschfänger durch das Herz; nahm Geld und Gepäck, rannte davon – wollte über die Grenze – da traf ich die zwei armseligen Männer, die nachher meine Kameraden wurden. Sie lagen im Gras, halbnackt und knirschend vor Armuth und Hunger. Ich theilte ihnen von dem Erbeuteten mit – und kehrte mit diesen neuen Freunden zum Wildschützen-Handwerk zurück.«

»Ungefähr um diese Zeit erfuhr ich durch einen Zufall, meine Schwester sei damals von herbeieilenden Männern aus dem Bache gezogen, und zum Leben zurückgebracht worden. Sie habe sich von ihrem Fehler ganz gebessert, und viele, viele Thränen um mich geweint. In ihrem zwanzigsten Jahre habe sie sich mit einem braven Bauernsohne verheirathet, und lebe nun glücklich und zufrieden, von Mann und Kindern geliebt. Meine Eltern aber seien aus Kummer und Herzenleid über die Ungewißheit, was aus mir geworden, ein paar Jahre nachher gestorben.«

»Ueber diese Nachricht war ich so bewegt, daß ich eine ganze Nacht im Walde herumirrte und weinte. Ich faßte auch den Entschluß, zu meiner Schwester zu gehen, und ihr als Knecht zu dienen. Aber da trat die jüngstverübte Mordthat furchtbar vor meine Seele. Du bist verloren! Was willst du thun, elender Thor? rief es in meinem Innern, und ich sank in die alte Verstocktheit zurück.«

»So führte ich dieß unstäte Leben bis auf den Tag, wo man mich auf der Jagd gefangen nahm, und in den alten Thurm einsperrte. Dort hörte ich den Vorfall zwischen euch zwei Kindern – und ich hatte ein Vergnügen daran. Der Schuß, der Julchen niederstreckte, war ein Zauberklang in meinen Ohren. Und ich faßte den boshaften Plan, auch den Vater zu tödten; dann gehört der Knabe mir. Ich wollte ihn ganz für mein Handwerk erziehen. Aber, Gottlob, daß es anders gegangen!«

Jetzt quollen Thränen über die eingefallenen Wangen des Wildschützen. Der alte Oswald war im Innersten heftig ergriffen. Hermann und Julchen schluchzten, und fielen dem Vater um den Hals. Endlich reichte der Förster dem Gefangenen die Hand und sagte: »Gott sei dir gnädig, wie uns Allen!« –

»Ja, ja, das woll' er,« erwiederte der Wildschütze; »ich dank' euch für den mitleidigen Wunsch. Lebt wohl! Kinder, Kinder, nehmt euch ein Beispiel an dem Wildschützen!« –

IX.

Die Erzählung des Wildschützen und die darauffolgende, grausenhafte Scene auf dem Hochgerichte hatten auf Hermann und Julchen einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.

Es gab jetzt keine verträglichere, sanftere Geschwisterte, als es die beiden Kinder des alten Försters waren. Darüber freute sich Oswald im Innersten seiner Seele. Und wenn er allein war, warf er sich oft auf seine Kniee, und dankte dem lieben Gott für dieses Glück.

Hermann, der eine außerordentliche Freude zum Forstwesen äußerte, blieb bis zu seinem achtzehnten Jahre bei seinem Vater; dann aber mußte er, um wissenschaftlich gebildet zu werden, an die Hochschule gehen. Beim Abschiede sagte der Vater getrost und lächelnd zu ihm, indem er ihn küßte: »Hermann, ich kann ruhig sein; denn du hast deine Leidenschaft besiegt. Du wirst unter den vielen jungen Leuten standhaft und gesetzt sein, wenn sie dich auch zum Zorne reizen sollten. Denk' an dein Unglück und an die Geschichte von dem Wildschützen. Und nun geh' mit Gott und mit meinem Segen!«

Hermann befolgte treu und pünktlich die Ermahnungen seines Vaters. Er war einer der ausgezeichnetsten und vollkommensten Jünglinge an der Hochschule. Nach drei Jahren kehrte er als ein wissenschaftlich gebildeter, junger, schöner Mann in die liebe Heimath zurück.

Nach einigen Monaten darauf trat ein Diener der Herrschaft mit einem großen Briefe in Oswalds Wohnung. Oswald war erstaunt – öffnete den Brief – las – Freudenthränen glänzten in seinen Augen; er fiel dem Sohne hocherfreut um den Hals. Hermann war in diesem Schreiben zum Oberjäger über alle gräflichen Waldungen aufgestellt. »Wir haben uns,« so lautete dasselbe, »in der Stadt nach den Eigenschaften des jungen Mannes genau erkundigt, und nur Lobenswerthes und Gutes gehört. Wir vertrauen ihm also alle unsere Waldungen zur Oberaufsicht, besonders weil er die ihm Untergebenen mit ruhigem Anstand und ernster Milde zu behandeln gelernt hat – und versichern ihn unsers gräflichen Wohlwollens.«

Hermann selbst konnte sich der Thränen nicht enthalten, da er diese Schrift las. »O mein Vater,« rief er im kindlichen Gefühle, »Alles, Alles hab' ich dir zu verdanken!« – Er blieb im väterlichen Hause. Einige Jahre darauf wählte er sich ein verständiges, sittsames Mädchen zur Gemahlin; sie wetteiferte mit ihm, dem Vater die alten Tage zu versüßen.

Julie wurde nicht minder glücklich. Sie hatte sich von jenem schlimmen Tage an in das sanfteste, liebenswürdigste Wesen umgestaltet, und wurde wegen ihrer vorzüglichen Eigenschaften von der Gräfin zur Gesellschafterin gewählt. Im zweiundzwanzigsten Jahre aber wurde sie die Frau eines herrschaftlichen Beamten, eines vortrefflichen Mannes. Die Gräfin entließ sie ungerne und unter Thränen, war aber doch hoch entzückt über das Glück, das ihr zu Theil wurde. –

Wer Gefühl und Herz hat – der stelle sich die Freude des biedern, nun achtzigjährigen Oswalds vor. Alles wünschte ihm Glück, und er weinte immer nur Freudenthränen. – Und wenn er so in der Mitte seiner Kinder saß, ward er wie verklärt, entblößte sein Haupt mit den silbernen Locken, hob Augen und Hände in die Höhe, und rief freudezitternd: »Gott! du hast mir das glücklichste Alter beschert! Ich danke dir!« – Dann umarmte er seine Kinder, streichelte ihre Wangen, küßte sie auf die Stirne, und sagte lächelnd: »Nun, ihr seid doch recht brav geworden! Hermann, Julchen, ihr seid so sanft, so bescheiden! Seht ihr nicht, wie mich dieß freut? Nicht wahr, der Schuß? – O ihr bösen Kinder, habt mich damals so erschreckt! Und die Geschichte? – Wißt ihr noch? – Höret, wenn ich längst unter der Erde schlafe, und ihr Kinder habt, so wie ihr gewesen, dann erzählt ihnen von eurem Vater, erzählt ihnen den Schuß und die Geschichte! Nicht wahr? Erzählt ihnen auch die Früchte eurer Besserung! – Aber still, still! Alter Vater, du thust den Kindern wehe! – Sie sind ja gut, so gut! Kommt in meine Arme – an meinen Hals – ihr jungen Wildschützen!« –



 << zurück weiter >>