Ernst Barlach
Fragmente aus früherer Zeit
Ernst Barlach

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Im Märchenlande

Ganz ferne liegt der blaue Streifen, den das erinnerungssüchtige Auge sucht mit dem Blick, der in einem Wimperzucken beliebig viele Menschenjahre weit sicher trifft. Erst springt er auf das Nächste, wo ihm die Zeigefinger noch Wegweiser sind, in die allernächste Nachbarschaft und auf die deutlichen Dinge von gestern und vorgestern; aber dann nimmt er einen Anlauf und macht einen Bogensatz über Wochen und Jahre und irrt da herum und sucht langvergessene Orte, wo das Land in den Tiefen und an den dunklen Stellen von leichtem Spinnweb übersponnen scheint und wo die Erinnerungen, die vielgestalteten, schon ineinanderschmelzen. Denn lange Zeit hat sich zwischen ihnen und dem Auge im Raume gehäuft, und die Erinnerungen schlafen und merken nicht, wie die Ruhe ihr Wesen treibt rundherum und sie langsam einspinnt in graues Gewebe und die nackte Deutlichkeit verschleiert mit sanftem Vergessen.

Über den blauen Streifen, ganz hinten am Horizont, springt auch der beste Erinnerungsblick nicht hinweg: denn wo er aufhört, da fängt gleich der Himmel an. Aber bis dahin, mitten ins Erinnerungsland hinein, zu springen, das ist zu Zeiten seine liebste Erholung; wo die herrlichen Kleinkindererinnerungen blühen, dahin kennt er gut den Weg, weit, wie er auch ist. Da sammelt er große, duftende Sträuße, die allerfrischesten und allerbuntesten Blüten durcheinander, und schleppt sie heim über lange Menschenjahre, schnell, ehe sie welken können und die Köpfe hängen lassen und ihren Schmelz auf Nimmerwiedersehen verschenken an Rechts und Links.

Hinten im Märchenlande, da bin ich ja als Kleinster gewurzelt! Für den Blick von heute ist das ein winziges Ländchen, wie Grenzland, wo der Himmel draufstößt und wo die Vergangenheit, selbst die urälteste, ein Ende nimmt. Denn der Fernblick ist ja gewohnt, voraus zu fliegen durch Räume ohne Grenzen und im Zukunftsland auf Entdeckungen auszuziehen. Sein Wohnhaus ist die gegenwärtige Woche mit den sieben großen, lustigen Zimmern, und wo es am wildesten hergeht, da ist das Heute, wo er seine Feinde trifft und seine Freunde, da kämpft er und raubt er sich müde vom Morgen bis zum Abend, da hat er Raum oder schafft sich welchen für seine Ellenbogen! Dagegen ist das Märchenländchen nur ein kleiner Garten, ein lauschiger Winkel und abgelegen; gut, uns da allerlei Erinnerungsduftiges von den alten, mit Wundergrün überrankten Beeten zusammenzulesen und ein Stündchen ganz allein herumzuwandeln. Aber für den Spannweittreter von damals wars doch ein weites Gebiet! Ein ungeheuerlich großes, das größte und mächtigste in der Welt; denn daß es Grenzpfähle geben könne und Wegweiser, die ihre Arme spreizen und mit lauter Stimme ausrufen: hier geht es rechts nach dem Märchenlande, und: Achtung, Vorsicht, links kommt man in die Schulwüste! – das lernte ich erst nachher und wußte dann auch bald, daß alle Gegend eher ein Ende hat, als man wünscht, wo es einem gefällt und wohlergeht.

Und meine dummen, runden Gucklöcher waren voll Farbe, voll frischester Kinderseelenfarbe; da waren das Himmelblau und das Sonnengold, Abendrot und Nordlicht selbst hineingetropft, und schönere Farbtöpfe lassen sich gewiß nicht finden. Damit malte ich alles an, frisch und unbedenklich drauf los, alles, alles, und wie es auch wurde, alles fand ich wunderschön.

Was es aber gab, zu tuschen und aus den Gucklöchern voll Himmelsfarbe anzuschauen, das waren uralte Wälder voll Zauber und Spuk. Da flatterten viel tausend Vogellieder durchs dichte Grüngewächs, und wenn man schon Verbindungen hatte im Märchenlande, dann lernte man bald und ohne Mühe die Kunst, sie zu verstehen, und brauchte bloß sein Ohr recht zu spitzen, und die lieblichsten und lustigsten Lieder flogen herein, fertig übersetzt ins Zauberdeutsch; aber wer neugierig war, mußte nur ein ernst unschuldiges Gesicht machen und sein Ohr an die Zweige hängen, dann konnte er hören, wie die kleinen Federweibchen sich die allerabenteuerlichsten Geheimnisse von den Federmännchen erzählten; auf Treu und Glauben jedesmal und in aller Verschwiegenheit; und wer flink war und verstand, sein Ohr im rechten Augenblick nach dem Wind zu hängen, der konnte aufpassen, wie dieselben Vogelgeheimnisse von Baum zu Baum weiter vertraut wurden, bis der ganze Wald sie kannte, jeder Baum verschieden.

Da gab es Sonnenschein auf Blattgrün, so dick und schwer, daß es Eindruck machte fürs ganze Leben; die Eichenstämme kriegten ungeheure Borkenrisse und Höhlenlöcher, breit wie Kirchentüren. Es mußte ja lustig und glänzend hergehen im Zauberwalde, und was man sah und hörte, das mußte auch so groß, so bunt und so gewaltig sein, daß mans nie wieder vergaß.

Aber bei Nacht gab es da Schauder und Graus; Stockfinsternis lag dick und schwer, und das Gruseln schlich lautlos umher, stand hinter den Leuten und war verschwunden, wenn sie sich umdrehten; das war die Stunde, wo der Irrwisch sein Leuchtfeuer auftat überm grundlosen Morast und mit den Lidern blinzelte und winkte und nickte und blinkte; wo der Menschenfresser wie ein Klotz festlag auf seinem Lager und das Schnarchen wüst herausfuhr aus weiten Nasenlöchern. Und wenn dann sein Magen knurrte, erst ganz leise und dann immer lauter und schließlich bellte wie ein Bullenbeißer und den Menschenfresser in den Bauch biß und sein Fressen verlangte, dann fuhr er auf, ein Turm von Fleisch und baumdicken Knochen, und sein roter Bart flammte am Himmel wie eine Feuersbrunst. Und er watete durch den Wald wie durchs Ährenfeld und funkelte mit den Mühlräderaugen und leuchtete damit durchs Dunkel nach verirrten Kindern. Aber nirgends gab es bessere Polizei als im Märchenlande, dahinten, in dem blauen, vernebelten Grenzgebiete, auf dem der Himmel steht; denn alle bösen Riesen kamen sicher auf schreckliche Weise ums Leben, und alle bösen Zwerge auch. Und das war nur recht und gehörte sich so, denn ich wußte ja, ich war im Grunde ein guter Junge und lief keine Gefahr, daß sich die Märchengerechtigkeit einmal versah und mich zusammen mit den Bösen aufgriff und unerlösbar verwünschte.

Helme trugen sie nicht, die so auf Ordnung sahen, und Säbel hatten sie nicht an der Seite; ja, wenn es keine Not gab, dann hielten sie sich unsichtbar und standen nirgends im Wege. Aber wenn da eines Menschenfressers Glotzauge aus dem Märchendickicht mir zu Häupten mich erschreckte und wenn der Gräßliche seinen Rachen auftat, groß wie ein Scheunentor, wenn es Drachenwitterung gab oder selbst wenn ich nur am Kreuzwege stand bei dunkler Nacht und wußte nicht, wo aus und ein, dann erschien flugs eine holde Fee mit langen blonden Haaren und blauen Augen und hatte Mitleid mit mir und meinem Unglück; oder eine ehrliche Haut von Kobold, und beim Zauberwesen alt und grau geworden, war bei der Hand, eh ichs mich versah – die halfen mit Zauber und Wunder schnelle, wenn ich schrie.

Wenn aber gar keine Fee oder kein Kobold zur Stelle war, dann griff ich in meiner Angst nach Mutters Schürze, denn Mutter war mit im Märchenlande und hielt mich an einer Hand; und mit der anderen zeigte sie mir, was es da gab zu bestaunen. Ja, es war gut sein, wo die liebe Tante Fee und der Onkel Kobold nach Gefallen regierten und zaubern konnten wies Butterbrotschmieren und ganz nach meinem Geschmack. Da war man gut behütet, denn das Märchenland ist das bestregierte Land, in dem ich jemals gelebt, und niemand kam darin um, als wers reichlich verdiente. Furcht brauchte man zwar nicht mehr zu haben, als eben nötig war, das Gruseln zu lernen und zu wissen, wie behaglich es ist, wenn einem die Gänsehaut wie kalt Wasser über den Rücken läuft. Mutters Schürze war ja nie weit, wagen konnte man alles, gegen alles anprahlen und alles tief verachten, was anders war, als wie es die Feen wollten.

Immer hatte ich meine beiden runden Tuschnäpfe voll Himmelsfarbe bei mir, und mit den Gluttönen der Kinderanschauung malte ich den Zorn noch brandroter und alles Lustige grün, alles Schweflige gelb und alles Blitzblau noch eine dicke Lage grüner, gelber und blitzblauer, als es schon war; und wenn jede der so recht zünftigen Märchengewalten ihre eigene Grimmigkeit und Abenteuerlichkeit besaß und ein Steinhartes sich am benachbarten Eckigen im Räume stieß, daß es knirschte, und wenn sie sich so recht gegenseitig ins Elend tobten – dann saß ich wie in einem sicheren Zauberturm mitten zwischen den entfesselten Gewalten und fühlte mich unschuldig an allem Unglück und unverantwortlich, wenn es Schaden gab, Scherben und Trümmer.

Aber manchmal kam ich doch in Gegenden, wo ich nicht daran dachte, mit meinen Knallfarben nachzuhelfen, und wo ich nicht wünschen konnte, alles möchte sich noch mehr vergröbern. Da sprießten die Felsen stracks gen Himmel, und die Gründe stießen steil hinab und sahen aus, als hätte einer mit einem Spaten versucht, die Erde entzweizuspalten. Da gab es steinerne Ebenen, und aus ihnen wuchsen steinerne Städte empor, mit steinernen Mauern umgürtet, mit spitzen Türmen bewehrt. Und die Städte gebaren eiserne Schlangen aus ihren Bäuchen, die wälzten sich los aufeinander, glänzten im Sonnenschein, rollten und verschlangen sich ineinander und zerquetschten und zerbrachen sich die Rippen im Leibe, daß das rote Blut hervorrieselte und hoch spritzte; und die eisernen Schlangen wälzten sich übereinander und ließen verstäubte Schuppen und zuckende, blutige Fetzen unter sich.

Und dann kam die steinfressende Feuerflamme und stürzte sich über die heerwurmgebärenden Mütter und machte alles gut und glatt – der Qualm, der da aufstieg, war dick und stickig, ich bekam Husten davon, und Tränen liefen mir aus den Augen.

Aber diese Gegenden, wo ich meine Farben sparen konnte, lagen abseits von den bekannten Pfaden im Märchenwalde; der Weg dahin ging durch die Luft, und da durften wir nur sonntags wandern, oder wenn Vater sonst einmal Zeit hatte. Dann mußte es aber schnell gehen, und er ließ uns jedem ein Paar Siebenmeilenstiefel anmessen und flog mit uns hoch über Länder und Meere, da sausten uns die Ohren, und da verging uns das Gesichte – aber bald konnten wir in Siebenmeilenstiefeln durch die Luft rennen wie in den Kinderschuhen auf den gewohntesten Kieswegen im Märchenlande. Vater wußte wohl selbst nicht recht, wohin er uns manchmal stiefeln ließ, und da ihm seine Brille beschlug in Nebel und Kälte und er immer in Eile war und große Schritte machte, durch die Wolken zu kommen, so verirrte er sich wohl, und wir hatten den Wegweiser an der Grenze des Märchenlandes lange hinter uns, machten aber immer noch Eilschritte und glaubten, wir hätten noch weiten Spielraum, uns zu tummeln.

Vater zeigte uns Riesen und Helden; die brüllten in ihrem riesenhaften und heldenmäßigen Jähzorn, daß ihre Schreie an Himmelsräume rasselten wie Steine in einer Blechtrommel. Da sah ich oft über meine Schultern rückwärts und hatte große Angst, denn unruhig und gewalttätig, wie es unter den Sagenhelden zuging, war es höchste Zeit, daß liebliches Feenhaar und Märchengüte einem armen Helden in seiner grausigen Not erschien, die Bösewichter zuschanden zauberte und die Riesen ins Elend brachte; aber die hatten gar keine Angst vor der lieben Wohlfahrtspolizei im Märchenlande, wir waren ja hinter der Grenze, und da im Auslande hatte der Zauberspuk keine Schärfe, und kein Kobold wagte sich heran mit seinem Zauberring am Goldfinger.

Immer weiter ging es im Zauberschritt, und Vater kümmerte sich nicht darum, daß die Siebenmeilenstiefel für meine kleinen Beine gar rennwütig waren; mochten sie auch gut sitzen, so waren es doch immer Siebenmeilenstiefel, und eine geringere Sorte Zauberstiefel gab es nicht im Märchenlande zu kaufen – anderes Fußzeug sollten wir nicht tragen: mit den Glücksgaloschen wollte uns Vater nicht verwöhnen; und die Pantoffeln des kleinen Muck waren gar ungehörig für Jungensbeine.

Wenn nun die Zauberstiefel genug im Meerwasser geplanscht hatten und die Zaubersohlen zerschlissen waren auf der Wolkenbahn, wenn wir müde waren von viel tausend Siebenmeilenschritten und über und über bedeckt mit Sagenstaub, und wenn Vater uns genug schlimme Gesellen gezeigt hatte, und wie mancher Unflat von langbeinigem Schlagetot, mancher Weinsäufer und Prahlhans noch lange nicht der schlechteste war von denen, die da ihr Wesen trieben, dann kehrten wir heim ins Märchenland, in den lieben, dicken Zauberwald mit seinen vielen ungefährlichen Gefahren, in die grünen Zweige, wo die Vögel Familiendeutsch schwätzen – – heim zu all den andern Vorstellungen im Kinderparadies.

Denn das Märchenland ist doch besonders für die Kinder geschaffen, daß es ihnen gut darin gefällt, wie das Paradies für Adam und Eva; und sie sind darin die Herrscher. Da haben sies wohl gut und können zufrieden sein; denn alle großen Leute, alle guten und bösen Geister spielen mit ihnen bald Ernstmachen, bald Spaßtreiben, genau wie sie wollen – und gehören alle mit zur Dienerschaft und haben sich in allem nach dem Kindersinn und dem Kindergeschmack zu richten, müssen laufen und jedes Spielzeug aus dem Phantasieschrank holen, was so ein Minderjähriger verlangt, wenn es noch so kostbar ist, ganz neu und ungeleimt.

Aber einmal ist doch die Zeit da – dann macht Mutter ganz sacht die Hand von der Schürze los, und Vater kommt und zieht uns die Siebenmeilenstiefel aus und zeigt uns die lange staubige Schulstraße und hat einen etwas starren Blick und sagt: Immer munter zugestapft, ihr kommt sonst nicht vorwärts, und das müßt ihr nun einmal!

Er zielt mit seinem Zeigefinger weit hinaus und zeigt uns weite Strecken, die müssen wir durchwandern, und die eine liegt geradeaus immer ferner vom Märchenlande als die andre.

Und die guten, alten, vermorschten Wegweiser zielen auch ins Weite und rufen mit zitterigen Stimmen: Achtung – Vorsicht – Schulwüste! Und denken bei sich, warum man denn auch die Kinder jedes Jahr so haufenweis hinausschickt ins Elend? Wozu das auch wohl gut sein könne?

Die guten alten Tanten, sie meinens so gut, wie sie können! Wieder hinein aber dürfen sie keinen lassen, das ist streng verboten. So werden die Kinder aus ihrem Paradiese vertrieben.


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