Ernst Barlach
Fragmente aus früherer Zeit
Ernst Barlach

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Die Stunden

Wir reiten, wir reiten,
Wir haben nicht Rast,
Wir reiten auf schnaubenden Stunden!
Wir leben und leiden.
Zum Ziel! Am Ziel
Erst sind wir des Laufes entbunden
Der rasenden Stunden
Im wilden Gewühl.
Wir lebensvertrauten Genossen,
Wir reiten zusammen zur Todesrast
Auf nimmer ermüdenden Rossen.

Wenn ich zuzeiten rückwärts schaue mit Erinnerungsblicken über die Fernen des schon verflossenen, schon verlebten Lebens hinweg, dann erscheinen mir die Zeiten in ihrer verschiedenen Gangart, die Stunden, die mich auf ihrem Rücken über die Landschaft meines Lebens getragen haben, wohl wie gesattelte oder ungesattelte Gäule, zahme oder wilde Weitspringer, wie feuerblütige Traber, und früh erscheine ich mir selbst im Schüttelsattel dieser bockigen Stundengäule heimisch und der Reise gewohnt auf dem Rücken der rasenden, rassigen Renner.

Krampfhaft hielt ich mich angeklammert, denn jung und kleinbeinig, wie ich war, hätten sie mich leicht vom Sattel gesprengt, diese stürmenden Stunden – oder es hatte mich wohl jemand mit einem Bein am Riemenzeuge festgebunden, daß ich ungefallen wie ein Toller durch die Jugendjahre und über die Länder kam, die man noch ohne Vernunft im Auge durchmißt!

Durch die Schulwüste, wo der Märchenwald aufhört und die Dickichte sterben und verdorren; da dürsteten die Augen nach dem Grün und entsetzten sich vor der Schwärze ringsum und kehrten ihre Blicke zurück im Heimwehfieber.

Aber die Stunden ließen sich nicht zügeln, sprangen unbesonnen drauflos und rochen nicht und beäugten nicht lange den Boden, den ihre Hufe schlugen. Heißa, da ging es durch Tintenseen, daß mir das schwarze Blut um die Ohren flog; und auf der langen Landstraße wurde getrabt, da konnte ich mich heiser schreien nach einem Blatt, daß es mir kühlen Schatten auf die Stirne legte, und ich schwitzte aus allen Mut, und der Bücherstaub kroch mir in die Kehle und verrostete meine Stimme.

Da hießen die Wegwärter Klassenlehrer und kamen mit Knitteln, wenn man über den Seitengraben setzte, um grünes Feld zu suchen zur Weide für die verdrossenen Stunden und blanke Seen, um sich von Tinte rein zu baden und frische Quellen durch die verstäubten Kehlen rieseln zu lassen. Sie schlugen mich mit harten Worten an die Ohren, wenn ich nicht regelrecht im Sattel saß und wenn die Stunden der grüne Übermut stach, den sie gefressen, wenn sie tobten wie zur Füllenzeit und blind waren für Zäune und Warnungstafeln.

Aber meine Stunden waren wie Raubtiere und am wachsten, wenn es Abend wurde und die Klassenlehrer in den Schenken saßen oder in den Wärterhäuschen schnarchten. Dann setzten wir uns ganz leise zur Seite ins Dunkel hinein und stöberten nächtlicherweile nach allem, was sein Wesen hatte fern vom Schwarzen, Geregelten und feierlich Erlaubten, und ich griff, was habenswert war, und durchstrich Nebelheide und Unkenmoor, wo die alten Tanten von faulenden Weiden ihre Schauermärchen erzählten mit röchelnden Stimmen.

Und das gefiel mir immer besser, und endlich versäumte ich die Schulgegend und mied ganz die Achtuhrgrenze, wo die schwarze Kleckserei beginnt und wo die Wegwärter schwitzen und werken. Und meine Stunden verloren mehr und mehr die Witterung rückwärts und scheuten und bockten vor der Gegend, wo die unverdauliche Mathematik wuchs und wo längs der Schulstraße die Regeln wuchsen und übel rochen. Denn ich suchte nach Freiheit und Schönheit und was sonst alles auf der Schulstraße verboten war, und ging waldeinwärts, kletterte auf die Gebirge, spürte und jagte. Groß genug war ich geworden, um meine Stunden kräftig an den Zügeln zu zerren, sie in meinen Willen zu zwängen, und nach meinem Sinne zu leiten. Das waren Ritte bei dunkler Nacht, die jagten nach Freiheit und Schönheit! Und die Stunden flogen und ließen ihre Viere durcheinanderspielen, als hätten sie tausend.

Was weiß ich noch, was das alles war, woran sie stießen und worüber sie stolperten, das man nicht sah auf der weiten, dunklen Strecke? Denn ich wandte mein Auge nicht ab, wo ein heller Schein am Himmel stand, da fand ich doch sicher Glück und Licht und Freiheit, alles und alles! Meine Stunden taten wie ich, und wo sie ihre Blicke eingeschlagen hatten, darauf schwammen sie los mit rudernden Füßen durch freie Luft, danach galoppierten sie mit Hufschlägen und Funkensprüngen auf steiniger Erde, das suchten sie mit den Nüstern im dunklen Wald, und dem drangen sie nach, und dafür traten sie nieder, brachen durch und zerrissen Dickicht und Gestrüpp.

Es leuchtet wohl hier und da einmal am Himmel und ist doch nicht immer das Morgenrot, wenn das Dunkel sich hellt, und oft standen die Stunden, hatten keuchende Flanken, waren mager und abgehetzt und konnten nicht weiter.

Aber wonach ich auf der Jagd war, daran war ich wohl vorbeigeritten, denn gefunden hatte ichs nicht. Da konnte ich noch lange suchen und meine Stunden auf dem langen Wege zu Schanden galoppieren!

Wäret ihr doch auf der Schulstraße geblieben, einmal war sie doch zu Ende, und dann läuft sie weiter und heißt Beamtenlaufbahn. Da ists ganz ähnlich wie auf der Schulstraße; Staub gibts und Tinte und Familiensorgen obendrein, aber daran haben wir uns gewöhnt – so sprachen die alten Kameraden, wenn ich zuweilen an ihnen vorbeiritt, querüber die Beamtenbahn weg, auf dem müden Klepper, überwacht und verdrießlich – wäret ihr doch auf der Schulstraße geblieben!

Ich sah, sie befanden sich auch nicht wohl, trotz ihrer hübschen Posten, und hatten manchmal schon Glatzen, trübe Augen und Brillen; und Spinneweb in den Gemütern.

Das wollte mir schlecht gefallen, denn meine Augen waren noch ganz jung, und Haare hatte ich mehr, als ich wollte; aber die Höhle im Innern war voll Grün gewachsen – das wucherte, blühte und wurzelte ineinander zum Verwundern. Und die Lust an Schönheit und der Drang nach Freiheit war unter Gefahren nur tiefer gewurzelt und zäher und stärker geworden.

Darum lachte ich die wohlbestallten Kameraden aus, wenn sie kamen und ihr Elend priesen. Noch ganz anders wollte ich jagen! Es war sicher schade, die guten Vollblutstunden mit Zaumzeug und Riemenwerk zu Mähren zu verderben, und so warf ich Sattel und Schnallen und Zügel auf den Boden und freute mich, wie die forschen Tiere ihre Nüstern vollsogen, den Hals reckten und die Augen hoben, wie sie in der Ferne suchten mit Schnuppern und Blicken, wonach es wert sei zu rennen. – Jetzt ging es kreuz und quer, wohin die Stunden wollten und so schnell oder so langsam sie lustig waren zu laufen oder vorwärts zu grasen auf blumigen Wiesen. Wenn es dann gar zu langsam ging, dann stieg ich ab und fing mir einen andern schnellfüßigen Stundenläufer, einen, der in der Fremde geboren war und vor Sehnsucht ins Weite nicht mehr fressen wollte auf fremder Weide und dem der wütende, scharfe Hunger die Rippen spornte.

Solche Gäule waren gute Gelegenheit.

Kennt ihr die Streckenrenner mit den eisernen Bäuchen? Das märchenhafte, riesige Reitvieh mit den Sechsräderbeinen und der Lunge voll Wasser und Dampf? Es heult und keucht und schnauft und sprüht feurige Wut, aber ich bin schrecksicher und sattelfest, und es läuft seinen Weg und glitscht auf blanken Wegschienen über die Länder und läuft ohne Aufenthalt in Röhrenhöhlen gerade durch die Gebirge durch. Aber wo diese rennen, da finde ich nichts, denn ihre Witterung ist nicht nach Freiheit und Schönheit oder etwas, was ebenso wert ist zu haben.

Deshalb steige ich wieder ab.

Manchmal reite ich Gäule, daß es Gott erbarm! – Lasttiere, gewohnt zu ziehen, elend und vermagert und immer gierig nach einer Handvoll Hafer. Auf ihnen scheine ich nicht etwa ein Idealjäger zu sein und habe es schon mehr als einmal selbst vergessen, daß ich einer bin, wenn es auf abgerackerten Stunden im Kote trödelig vorwärtsgeht oder Regen und Schnee ringsum fällt und verdeckt und versteckt, wo etwa Schönes sitzen könnte, verborgen in Felsenhöhlen oder in dichtem Gestrüpp.

Das sind elende Fahrten. Aber nur getrost. Ich habe schon manchen Gaul, der mirs nicht zutraute, an der Mähne gepackt und mir seinen Rücken bequem gemacht, ungeritten wie er war!

So ein zügelloser Springherum setzt unbedacht über Gründe, davor ein zahmer Traber bockt, an die er nicht heran und über die er nicht hinüber will – er nimmt am späten Abend neuen Anlauf zu fernen, zackigen Horizonten, wenn der andere müde ist, grasen möchte und schlafen.

Und wenn der Sturm kommt, dahergesegelt auf seinen Siebenmeilenflügeln, und Gesellschaft sucht, dann kehrt er ihm nicht den Rücken zu und klemmt den Schweif zwischen die Beine und wendet nicht den Kopf ab von den Streichelhieben der Sturmflügel; dann wiehert er laut und läßt sich strählen und kosen von dem Gewaltigen im Wolkengebiet, hebt sich hoch und galoppiert mit ihm um die Wette längs auf der Wolkenbahn. Dann packe ich zu und tue eilige Griffe und bin hellhörig und scharfsichtig – was nur auf Blicknähe in den Bereich kommt, wird mit scharfen Augen niedergemäht und eingeerntet.

Aber wenn der Sturm in die Ferne geflogen ist und die Hagelwolken sich leer geschleudert haben, dann schnaufen die wilden Stunden und ziehen langsam ihre müden Hufe, schnuppern sich über die Grate und durch die Gründe hinab ins warme behagliche Gelände und tun lange Züge aus frischen Quellen und grasen und lagern im Dämmergrün der Waldwiesen.

Und ich suche die lebendigen Lieder, die in den Vogelnestern schlummern, und rausche leises Geschwätz mit dem uralten Onkel Wald und denke nicht an die fernen Horizonte und wo die steinerne Gebirgstreppe mit Granitstufen zum Himmel führt.

Dann ist wohl Zeit zu träumen, und ich schelte nicht, wenn die Augen mir vorflunkern von Elfentänzen und Nebelreigen, wenn sie dumm staunen und weit aufgerissen sind wie Kinderaugen und ganz vergessen, daß sie scharf sehen und gewohnt [sind], durch und durch zu dringen selbst das Wahrscheinlichste – müde wie sie sind, glauben sie sich im Märchenlande wie damals und sind voll Staunen und Fürchten wie früher.

Dann ists wohl gut, die weichen Dämmerschleier um die Schultern zu ziehen und mit Tausalbe die Haut zu pflegen, rissig von Wind, Kälte, Regen und Sonnenbrand; wohlbehaglich in der Nacht weichen Armen zu liegen und den langsamen Atemzügen der schlafenden Stunden zu lauschen.

Denn bevor die Sonne aufgeht, wiehert die Morgenstunde und hat neue Springesehnen an den Beinen und spannt die Nüstern witternd in die Ferne. Dann ist Zeit, wieder aufzusteigen, allem lieben Nachtleben den Rücken zu kehren und unter den Sonnenstrahlen auf den Schönheitsfang zu reiten.

Oder nach etwas anderem zu jagen, auch habenswert und beglückend, auf den wilden, schnellen Stunden durch die Einöde zu reiten und mit dem Sturm auf der Wolkenstraße um die Wette.


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