Honoré de Balzac
Die Kleinbürger
Honoré de Balzac

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»Gehören Sie etwa auch zu diesen Narren, die in der Polizei nur einen Haufen von Spionen und Angebern sehen, und denen niemals der Gedanke gekommen ist, daß in dieser Uniform auch kluge Politiker, Diplomaten ersten Ranges, Richelieus stecken können? Aber Merkur, mein Herr, Merkur, der geistvollste der heidnischen Götter, war er nicht die Inkarnation der Polizei? Es ist richtig, er war auch der Gott der Diebe. Wir sind also mehr wert als er, denn wir versteigen uns nicht so weit.«

»Dennoch«, warf la Peyrade ein, »ist Vautrin, der berüchtigte Chef der Sicherheitspolizei . . .«

»Gewiß!« entgegnete Corentin, seine Promenade wieder aufnehmend, »in den Untiefen gibt es immer Schlamm, und trotzdem, täuschen Sie sich nicht darüber, ist Vautrin ein genialer Mensch, den nur seine Leidenschaften, ebenso wie Ihren Onkel, auf Abwege geführt haben. Aber blicken Sie doch höher hinauf (denn es handelt sich eben in der Hauptsache darum, auf welche Stufe man sich selber stellen will): Ist der Polizeipräfekt, der ehrenhafte, beliebte, geachtete Minister, etwa ein Spion? Und ich, mein Herr, ich bin der geheime Polizeipräfekt der Diplomatie und der hohen Politik, und da besinnen Sie sich, ob Sie sich auf den Thron setzen sollen, von dem der alternde Karl V. herabzusteigen gedenkt? Klein erscheinen und Ungeheures vollbringen, in einem behaglich eingerichteten Keller, wie diesem hier, leben und draußen befehlen; eine unsichtbare Armee zur Verfügung haben, die immer bereit, immer pflichttreu, immer gehorsam ist; die Kehrseite einer jeden Sache kennen, niemals über einen Faden stolpern, weil man sie selbst alle in der Hand hat; durch alle Schlüssellöcher sehen, in alle Geheimnisse eindringen, alle Herzen und alle Gewissen durchstöbern: das, mein Herr, flößt Ihnen Furcht ein! Aber Sie scheuen sich nicht, sich in dem dunklen, schlammigen Sumpf des Hauses Thuillier herumzuwälzen; Sie, ein Rassepferd, lassen sich vor einen Mietwagen spannen und arbeiten für die Wahl und die Zeitung dieses reich gewordenen Bourgeois!«

»Man tut eben, was man kann«, antwortete la Peyrade.

»Bemerkenswerter Weise«, fuhr Corentin in seinem Gedankengange fort, »hat die Sprache, gerechter und anerkennender als die öffentliche Meinung, uns an die richtige Stelle gesetzt, denn sie hat das Wort ›Polizei‹ zu einem Synonym von Zivilisation, also dem Gegensatz zur Wildheit, gemacht, indem sie dafür den Ausdruck ›état policé‹ geschaffen hat. Wir kümmern uns auch, das versichere ich Ihnen, sehr wenig um Vorurteile, die uns beschimpfen; niemand kennt die Menschen besser als wir, und wer sie kennt, der verachtet ihre Verachtung ebensosehr wie ihre Achtung.«

»In dem Gedankengang, den Sie mit solcher Wärme entwickeln, liegt sicherlich viel Wahres«, sagte la Peyrade schließlich.

»Viel Wahres!« antwortete Corentin und setzte sich wieder; »sagen Sie ruhig, es ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, aber es ist noch nicht die ganze Wahrheit. Im übrigen, mein lieber Herr, genug davon für heute. Mein Nachfolger zu werden und Ihre Kusine mit einer Mitgift, die nicht weniger als fünfhunderttausend Franken betragen wird, zu heiraten, das ist mein Angebot. Ich erwarte von Ihnen jetzt keine Antwort; ich würde auch kein Vertrauen zu einem Entschluß haben, der nicht ernsthaft überlegt ist. Ich bin morgen den ganzen Vormittag zu Hause; hoffentlich werden Sie sich meiner Überzeugung anschließen!« Dann verabschiedete er seinen Besucher mit kühlem kurzem Gruß:

»Ich sage Ihnen nicht Adieu, sondern auf Wiedersehn, Herr de la Peyrade!«

Dabei näherte sich Corentin einem Tischchen, auf dem alles für die Bereitung eines Glases Zuckerwasser, das er sich wohl verdient hatte, zurecht stand, und ohne weiter auf den Provenzalen, der sich etwas bedrückt entfernte, zu achten, schien er ausschließlich mit dieser prosaischen Tätigkeit beschäftigt zu sein.

War es noch nötig, daß am Tage nach der Begegnung mit Corentin ein Besuch der Frau Lambert, die eine sehr drängende und unbequeme Gläubigerin geworden war, auf den Entschluß la Peyrades drückte? Zogen ihn nicht, wie ihm am Tage vorher der Versucher erklärt hatte, sein Charakter, sein Geist, sein Ehrgeiz, die Torheiten seiner Vergangenheit unwiderstehlich zu der eigenartigen Lösung hin, die sich ihm so plötzlich geboten hatte?

Und das Verhängnis, wenn man so sagen darf, wollte ihn auch noch mit seidenen Schnüren erdrosseln. Man schrieb den 31. Oktober, die Gerichtsferien gingen zu Ende; am 2. November sollten die Sitzungen wieder beginnen, und für diesen Tag empfing der Advokat, gerade als ihn Frau Lambert verließ, auch noch die Vorladung zum Erscheinen vor dem Vorstand seiner Kammer.

Zu Frau Lambert, die energisch auf Rückzahlung drängte, weil sie angeblich das Haus des Herrn Picot verlassen und nächstens in ihre Heimat ziehen wollte, hatte er gesagt:

»Kommen Sie übermorgen um dieselbe Zeit wieder, dann wird Ihr Geld bereitliegen.«

Auf die Aufforderung, sich vor den Vorstandsmitgliedern zu verantworten, erwiderte er, daß er dem Vorstande nicht das Recht zuerkenne, Rechenschaft von ihm über seine Privatangelegenheiten zu verlangen. Das war eine nichtssagende Antwort. Unvermeidlich mußte danach seine Streichung aus der Advokatenrolle beim Obergericht erfolgen; aber sie erweckte den Anschein eines würdevollen Protestes, durch den seine Eigenliebe nicht verletzt wurde.

Endlich schrieb er ein paar Zeilen an Thuillier, in denen er ihm mitteilte, daß er infolge seines Besuchs bei du Portail sich gezwungen sehe, einem andern Heiratsprojekt näher zu treten. Er gebe also Thuillier sein Wort zurück und hielte sich auch an das seinige nicht mehr gebunden. Alles das war kühl und ohne Bedauern über seinen Heiratsverzicht gesagt. In einer Nachschrift fügte er noch hinzu: »Über meine Stellung bei der Zeitung werden wir noch sprechen«, womit er andeutete, daß er sie eventuell aufgeben würde.

Er behielt eine Abschrift dieses Briefes zurück, und als er eine Stunde später in Corentins Arbeitszimmer nach dem Ergebnis seiner Erwägungen gefragt wurde, gab er statt einer Antwort dem großen Polizeimann den Eheverzicht, den er eben niedergeschrieben hatte, zu lesen.

»Schön,« sagte Corentin; »aber Ihre Stellung bei der Zeitung werden Sie vielleicht noch einige Zeit beibehalten müssen; die Kandidatur dieses Dummkopfs stört die Pläne der Regierung, und wir werden noch davon zu sprechen haben, wie wir den Absichten des Herrn Munizipalrats ein Bein stellen; als allmächtiger Chefredakteur werden Sie vielleicht Gelegenheit haben, ihm irgendeinen hübschen Streich zu spielen, und ich glaube nicht, daß sich Ihr Gewissen gegen eine solche Mission erheblich sträuben wird.«

»Gewiß nicht!« sagte la Peyrade; »die Erinnerung an die Demütigungen, die ich so lange habe ertragen müssen, wird mich sogar ein besonderes Vergnügen daran finden lassen, dieser kleinbürgerlichen Sippe eins zu versetzen.«

»Seien Sie vorsichtig!« sagte Corentin, »Sie sind noch jung und müssen sich vor solchen galligen Regungen hüten. In unserm strengen Beruf dürfen wir nichts lieben und nichts hassen. Die Menschen sind für uns, je nach ihrer Qualität, hölzerne oder elfenbeinerne Figuren, mit denen wir unsere Schachpartien spielen. Wir müssen sein wie das Schwert, das niederfällt auf das, was man ihm zum Zerhauen vorlegt, das aber allein dafür zu sorgen hat, daß es geschliffen ist, und gegen niemand gutgesinnt oder übelwollend ist. Jetzt aber wollen wir von Ihrer Kusine sprechen, der Sie, wie ich annehme, begierig sind, vorgestellt zu werden.«

La Peyrade brauchte keinen Eifer zu heucheln, denn er verlangte in der Tat sehr danach.

»Lydia de la Peyrade«, sagte Corentin, »ist fast dreißig Jahr alt; aber ihre Jungfräulichkeit, die sie im Verein mit ihrer leichten Geisteskrankheit von allen Leidenschaften, allen Gedanken, allen Eindrücken, die den Menschen verbrauchen, fernhielt, hat sie gewissermaßen in ewiger Jugend erhalten. Sie würden Sie kaum für zwanzigjährig halten; sie ist blond und schlank; ihr außerordentlich feingeschnittenes Gesicht ist vor allem durch den Ausdruck himmlischer Güte auffallend. Infolge der schrecklichen Katastrophe, bei der ihr Vater zugrunde ging, ihres Verstandes beraubt, hat sich eine fixe Idee ihrer bemächtigt: sie hat beständig im Arm oder neben sich ein Wäschebündel, das sie wiegt und dem sie alle Sorgfalt wie einem kranken Kinde angedeihen läßt; ausgenommen Bruneau, meinen Kammerdiener, und mich, die sie kennt, hält sie jeden andern Mann für einen Arzt, den sie konsultiert und wie ein Orakel anhört. Eine Krisis, die vor kurzer Zeit bei ihr ausbrach, hat Horace Bianchon, diesen Fürsten der Wissenschaft, davon überzeugt, daß sie ihre Vernunft wiedergewinnen würde, wenn an Stelle dieser lange dauernden Komödie der Mütterlichkeit die Wirklichkeit treten könnte. Wäre das nicht ein erstrebenswerter Versuch, dieses Gemüt, dessen Tag nur leicht verschleiert ist, wieder dem vollen Licht zuzuführen? Und meinen Sie nicht auch, daß das Band der Verwandtschaft, das Sie mit ihr verbindet, Sie ganz besonders berufen erscheinen läßt, diesen Heilungsversuch zu unternehmen, noch dazu, da für Bianchon und noch zwei andere hervorragende Ärzte, die mit ihm über den Zustand der Kranken beraten haben, kein Zweifel an einem glücklichen Erfolge besteht? Jetzt will ich Sie zu Lydia bringen; denken Sie daran, daß Sie Ihre Rolle als Arzt gut spielen; denn die einzige Möglichkeit, sie ihre gewöhnliche Sanftmut aufgeben zu lassen, besteht darin, daß man nicht auf ihren ewigen Wunsch noch einer Konsultation eingeht.«

Nachdem sie mehrere Zimmer durchschritten hatten, wollte la Peyrade und sein Führer gerade dasjenige betreten, in dem sich Lydia gewöhnlich aufhielt, wenn sie nicht mehr Raum brauchte, um ihr vorgebliches Kind im Umhergehen einzuwiegen, als sie plötzlich von einigen meisterhaft auf einem Klavier von herrlichstem Ton angeschlagenen Akkorden aufgehalten wurden.

»Wer ist das?« fragte la Peyrade.

»Lydia,« antwortete Corentin mit einem geradezu väterlichen Stolz; »sie ist eine bewunderungswürdige Musikerin, und wenn sie auch nicht mehr, wie zu der Zeit, da ihr Geist noch nicht getrübt war, entzückende Melodien niederschreibt, so zaubert sie doch mit ihren Fingern solche hervor, die mir oft ans Herz greifen . . . An das Herz Corentins,« fügte der kleine Alte lächelnd hinzu, »und das bedeutet wohl ein ganz besonderes Lob für die Virtuosin! Aber setzen wir uns und hören wir zu; wenn wir hineingingen, würde das Konzert sofort zu Ende sein und die Konsultation beginnen.«

La Peyrade war überrascht, als er eine Improvisation vernahm, bei der die so seltene vollkommene Übereinstimmung zwischen der Inspiration und der kunstvollen Ausführung sein eindrucksfähiges Empfinden ebenso tief wie unerwartet erregte.

Corentin hatte seine Freude an dieser Überraschung, die der Provenzale durch wiederholte Ausrufe des Entzückens zu erkennen gab, und sagte, als ob er seine Ware rühmen wollte:

»Was? Das nennt man spielen; Liszt kann ihr nicht das Wasser reichen!«

Auf ein sehr schnelles Scherzo ließ die Spielerin jetzt die ersten Töne eines Adagios folgen.

»Oh,« sagte Corentin, der das Thema erkannte, »jetzt wird sie singen.«

»Sie singt auch?« fragte la Peyrade?

»Wie die Pasta und die Malibran; hören Sie nur!«

In der Tat erklang jetzt nach einigen Takten eines Vorspiels in Arpeggien eine sonore Stimme, deren Ton den Provenzalen bis ins tiefste Innere zu bewegen schien.

»Wie die Musik auf Sie wirkt!« sagte Corentin. »Ihr seid beide füreinander bestimmt.«

Mit einer Handbewegung erlegte la Peyrade ihm Schweigen auf, und als die Töne immer stärker erklangen, ließ ihn seine Erregung in den Ruf ausbrechen, der Corentin seinerseits in lebhaftes Erstaunen zu versetzen schien:

»Oh, mein Gott! Das ist ja dasselbe Lied und dieselbe Stimme!«

»Sollten Sie etwa Lydia schon irgendwo begegnet sein?« fragte der große Polizeimann.

»Ich weiß es nicht . . . ich denke, nein,« erwiderte la Peyrade mit stockender Stimme, »oder jedenfalls vor sehr langer Zeit . . . Aber dieses Lied . . ., diese Stimme . . .; mir scheint . . .«

»Gehen wir hinein«, sagte Corentin.

Und indem er rasch die Tür öffnete, zog er den Provenzalen mit sich.

Lydia, die mit dem Rücken zur Tür saß und durch die Klänge des Klaviers verhindert wurde, zu hören, was hinter ihr vorging, merkte nichts davon.

»Sehen Sie sie an!« sagte Corentin. »Können Sie sich an sie erinnern?«

La Peyrade machte einige Schritte vorwärts, aber kaum hatte er auch nur das Profil der Geisteskranken erblickt, als er, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, laut ausrief:

»Sie ist es!«

»Still!« erwiderte Corentin.

Aber Lydia hatte sich, als Theodosius den Ruf ausstieß, umgewandt, und indem sie ihre Aufmerksamkeit nur auf Corentin richtete, sagte sie:

»Das ist häßlich und schlecht von Ihnen, daß Sie mich so stören! Sie wissen, ich will nicht, daß man mir zuhört. Ach so, nein, nein!« fuhr sie beim Anblick von la Peyrades schwarzem Rock fort, »Sie bringen mir den Doktor; das ist sehr nett von Ihnen, ich wollte Sie schon bitten, ihn holen zu lassen; die Kleine schreit schon den ganzen Morgen; ich kann noch so viel singen, um sie einzuschläfern, es nützt alles nichts.«

Und sie holte eiligst aus einem Winkel, wo sie aus zwei umgekippten Stühlen und den Kissen des Sofas eine Art Wiege hergestellt hatte, das, was sie ihr Kind nannte.

Lydia ging jetzt auf la Peyrade zu, während sie mit der einen Hand ihr kostbares Bündel hielt und, da sie nur Augen für die törichte Schöpfung ihres kranken Gehirns hatte, mit der andern beschäftigt war, das Mützchen ihrer »geliebten Kleinen« zurecht zu schieben. Aber als sie sich Theodosius näherte, wich dieser zitternd, blaß und mit starrem Blick voll Schrecken vor ihr zurück und hielt erst an, als ihn ein Stuhl, der hinter ihm stand, das Gleichgewicht verlieren ließ, so daß er auf den Sitz hinsank.

Ein Mann von der Klugheit Corentins, der außerdem bis ins kleinste die schreckliche Tragödie, bei der Lydia den Verstand verloren hatte, kannte, hatte bereits alles erraten und begriffen; aber es entsprach seinen Absichten, in diese furchtbaren Düsternisse durch den Augenschein volle Klarheit dringen zu lassen.

»Sehen Sie nur, Doktor,« sagte inzwischen Lydia, während sie die Windeln abwickelte und die Nadeln, mit denen sie befestigt waren, in den Mund nahm, »wie sie zusehends abmagert!«

La Peyrade vermochte nicht zu antworten; das Gesicht in sein Taschentuch vergraben, ließ er ein keuchendes Stöhnen vernehmen, das ihm nicht erlaubte, auch nur ein Wort zu sprechen.

Da wurde sie von einer fieberhaften Ungeduld, einer Begleiterscheinung ihres Geisteszustands, ergriffen, und rief:

»Aber sehen Sie sie doch an, Doktor!« Dabei faßte sie Theodosius so heftig am Arm, daß er genötigt war, ihr sein Gesicht zu zeigen . . . »Oh, mein Gott«, stieß sie hervor, als sie den Provenzalen ansah.

Und das Wäschebündel, das sie in den Armen gehalten hatte, fallen lassend, wich sie eiligst zurück. Ihr Blick wurde verstört, mit ihren weißen Händen faßte sie sich an die Stirn und ins Haar, daß es in Unordnung geriet, und schien in ihrem eingeschlummerten und widerstrebenden Gedächtnis angestrengt nach einer Erinnerung zu suchen. Dann näherte sie sich, wie ein scheues Pferd, das den Gegenstand, der es erschreckt hat, beschnuppert, langsam wieder und beugte sich halb vor, um das Gesicht des Provenzalen, das er gesenkt hielt und abzuwenden versuchte, genauer zu betrachten, und verweilte in bedrückendem Schweigen mehrere Sekunden bei dieser Prüfung. Plötzlich stieß sie einen furchtbaren Schrei aus, flüchtete in die Arme Corentins und preßte sich mit eiserner Gewalt an ihn:

»Retten Sie mich! Retten Sie mich!« rief sie aus, »das ist er! Der Bösewicht, der Elende! Das ist er, der alles getan hat . . .«

Und mit ausgestrecktem Finger schien sie den jammervollen Gegenstand ihres Schreckens auf seinem Platze festzubannen.

Nach diesem Ausbruch stammelte sie noch einige zusammenhangslose Worte, dann verschleierten sich ihre Augen; Corentin fühlte, wie alle ihre Muskeln, mit denen sie ihn wie mit einem Schraubstock an sich gepreßt hatte, nachgaben, und in seinen Armen hielt er die besinnungslos gewordene Lydia, ohne daß der fassungslose la Peyrade auch nur daran gedacht hätte, sich ihm zu nähern und ihm zu helfen, sie zu stützen und auf das Sofa zu legen.

»Sie dürfen hier nicht bleiben«, sagte Corentin zu ihm. »Gehen Sie in mein Arbeitszimmer; ich komme gleich nach.«

Und einige Minuten später, nachdem er die Kranke der Sorge Kates und Bruneaus überlassen und Perrache eiligst nach dem Doktor Bianchon geschickt hatte, fand sich Corentin bei la Peyrade ein.

»Sie sehen, mein Herr,« sagte er feierlich, »daß ich, wenn ich mit einem gewissermaßen leidenschaftlichen Bemühen dem Gedanken an diese Heirat nachgegangen bin, den Absichten Gottes nachzukommen suchte.«

»Mein Herr,« sagte la Peyrade zerknirscht, »ich muß in der Tat gestehen . . .«

»Das ist unnötig,« unterbrach ihn Corentin, »Sie brauchen mir nichts zu erklären, aber ich habe Ihnen vieles mitzuteilen. Der alte Peyrade, Ihr Onkel, hatte sich in der Hoffnung, für seine angebetete Tochter eine Mitgift zu gewinnen – was Sie, wenn Sie auf meinen Rat hören wollen, niemals tun sollten – in gefährliche Machenschaften von Privatgeschäften eingelassen. Hierbei traf er auf jenen Vautrin, von dem Sie gestern sprachen, der damals, wie es inzwischen geschehen ist, noch nicht von der Polizei in Anspruch genommen war. Ihr Onkel war bei aller seiner Gewandtheit doch nicht stark genug, einen Kampf gegen diesen Mann bestehen zu können, dem ja auch jedes Mittel recht war: Mord, Gift, Vergewaltigung. Um die Tatkraft Ihres Onkels lahmzulegen, wurde Lydia, wenn auch nicht entführt, so doch aus ihrer Wohnung in ein anscheinend anständiges Haus gelockt, wo sie zehn Tage lang eingeschlossen blieb, ohne sich allzusehr über ihre Gefangenschaft und die Abwesenheit ihres Vaters zu beunruhigen: man hatte sie zu überzeugen vermocht, daß alles auf seinen Befehl geschehe; und deshalb, mein Herr, sang sie auch, wie Sie sich erinnern werden!«

»Oh«, stöhnte la Peyrade und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Das unglückliche Mädchen,« fuhr Corentin fort, »sollte, wenn ihr Vater nicht binnen zehn Tagen das geforderte Lösegeld bezahlt hätte, eine entsetzliche Behandlung zu gewärtigen haben. Ein Narkotikum und ein junger Mann sollten dieselbe Rolle spielen, wie der Henker bei der Tochter Sejans . . .«

»Gnade, mein Herr, Gnade!« rief la Peyrade.

»Ich habe es Ihnen gestern ja gesagt,« begann Corentin wieder, »daß Sie vielleicht noch andere Dinge auf Ihrem Gewissen haben dürften als das Haus Thuilliers; aber Sie waren damals ja noch so jung! Ohne jede Erfahrung brachten Sie aus Ihrem Heimatlande die Brutalität und die Glut des südländischen Blutes mit, die Sie sich auf jede sich bietende Gelegenheit stürzen ließen; außerdem hatte man von Ihrer Verwandtschaft mit dem Opfer erfahren, und für diese Verbrecherkünstler, die das Verderben einer zweiten Clarissa Harlowe planten, hatte Ihr Dazwischentreten einen zu großen Reiz, als daß selbst ein gewandterer und erfahrener Mann als Sie sich hätte rühmen können, den Vorlockungen, die man Ihnen bot, widerstanden zu haben. Glücklicherweise hat die Vorsehung es zugelassen, daß es in dieser furchtbaren Angelegenheit nichts gibt, was nicht wieder gutzumachen wäre; dasselbe Gift kann, je nach seiner Anwendung, den Tod und die Heilung bringen.«

»Aber mein Herr,« sagte la Peyrade, »werde ich für ›sie‹ nicht ein Gegenstand des Schreckens bleiben, und wird mir so das Wiedergutmachen, von dem Sie sprachen, nicht unmöglich gemacht werden?«

»Der Arzt ist da«, meldete Kate, die die Tür geöffnet hatte.

»Wie geht es Fräulein Lydia«, fragte la Peyrade voll Interesse.

»Sie ist ganz ruhig«, antwortete Kate; »eben wollte ich sie bewegen, zu Bett zu gehen, was sie nicht tun wollte, weil sie, wie sie sagte, nicht krank sei, und brachte ihr Wäschebündel, da hat sie mich ganz erstaunt angesehen und zu mir gesagt: ›Was soll ich denn damit machen, meine gute Kate? Wenn du willst, daß ich mit der Puppe spielen soll, dann bring mir wenigstens etwas Besseres als das hier.‹«

»Sie sehen,« sagte Corentin und drückte dem Provenzalen die Hand, »Sie sind die Lanze Achills gewesen.«

Und er entfernte sich mit Kate, um Bianchon zu begrüßen.

Allein geblieben, gab sich Theodosius eine Zeitlang Gedanken hin, die man sich vorstellen kann, als sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete und Bruneau, der Kammerdiener, Cérizet hereinführte.

Als er la Peyrade erblickte, rief der Gerichtssekretär aus:

»Ei, ei! Ich dachte es mir ja, daß du schließlich doch du Portail aufsuchen würdest . . . Na, und die Heirat? Wird es was damit?«

»Aber ich muß mich doch zuerst nach der Ihrigen erkundigen«, antwortete der Provenzale.

»Was? Hat man dir davon erzählt? Wahrhaftig ja, mein Lieber. Wenn man sich so lange auf dem stürmischen Meer herumgetrieben hat, will man schließlich mal ein Ende machen . . . Weißt du, wen ich heirate?«

»Jawohl, eine junge Künstlerin, Fräulein Olympia Cardinal, einen Schützling der Familie Minard, die ihr dreißigtausend Franken mitgibt.«

»Und die mit den dreißigtausend,« fuhr Cérizet fort, »die mir du Portail versprochen hat, wenn deine Heirat zustande kommt, und mit den früheren fünfundzwanzigtausend, die mir deine Heirat, die nicht zustande gekommen ist, eingebracht hat, ein ganz nettes kleines Kapital von fünfundachtzigtausend Franken ausmachen; dazu eine wahrhaft hübsche Frau, da müßte man ja ganz vom Himmel verlassen sein, wenn man damit nicht irgendwelche Geschäfte machen könnte. Aber ich habe vor allem über eins mit dir zu reden. Du Portail, der zu sehr beschäftigt ist, um mich empfangen zu können, weist mich hierher, damit wir uns darüber verständigen, wie wir die Wahl Thuilliers hintertreiben wollen. Hast du irgendeinen Plan in Aussicht?«

»Nein, ich muß sogar gestehen, daß ich in der Geistesverfassung, in die mich die Aussprache, die ich eben mit Herrn du Portail gehabt habe, versetzt hat, nicht sehr zum Plänemachen geeignet bin.«

»Die Sache liegt so:« fuhr Cérizet fort, »die Regierung hat einen andern Kandidaten in Bereitschaft, der noch nicht hervorgetreten ist, weil die ministeriellen Verhandlungen mit ihm auf Schwierigkeiten gestoßen sind. Inzwischen hat die Kandidatur Thuilliers Boden gewonnen; Minard, auf den man zur Ablenkung gerechnet hatte, hält sich törichterweise beiseite; die Beschlagnahme eurer Broschüre hat deinem stumpfsinnigen Schützling eine gewisse Popularität verliehen. Kurz, das Ministerium fürchtet, daß er durchkommt, und seine Wahl wäre ihm außerordentlich unangenehm. Solche aufgeblasene Dummköpfe wie Thuillier sind bei der Opposition scheußlich unbequem: sie sind wie ein Krug ohne Henkel, man weiß nicht, wo man sie anpacken soll.«

»Herr Cérizet,« sagte la Peyrade, der allmählich einen gönnerhaften Ton angenommen hatte und außerdem gern wissen wollte, wie weit der andere von Corentin ins Vertrauen gezogen war, »ich sehe, daß Sie mit den geheimen Absichten der Regierung sehr vertraut sind: sollten Sie den Weg zu einer gewissen Kasse in der Rue de Grenelle gefunden haben?«

»Nein. Alles, was ich Ihnen da erzähle,« entgegnete Cérizet, »denn das ›Du‹ scheint zwischen uns ja endgültig abgeschafft zu sein, weiß ich von du Portail.«

»Ach so,« sagte la Peyrade leise; »wie verhält es sich eigentlich mit diesem du Portail, du hast ja schon eine ganze Zeit Beziehungen zu ihm? Ein so kluger Mensch wie du muß doch über eine Person, die, unter uns gesagt, einen ziemlich geheimnisvollen Anstrich hat, Bescheid wissen.«

»Lieber Freund,« erwiderte Cérizet, »du Portail ist ein ziemlich gerissener Mann. Der alte Schlaukopf scheint bei der Domänenverwaltung angestellt gewesen zu sein, wo er eine Direktorstelle in einem der seit dem Sturz des Kaiserreichs nicht mehr existierenden Departements innegehabt haben muß, etwa im Departement la Dyle, oder la Doire, oder Sambre-et-Meuse, oder Deux-Nèthes.«

»Ja . . .«, sagte la Peyrade.

»Hierbei«, fuhr Cérizet fort, »scheint er sein Schäfchen ins Trockene gebracht zu haben und hat sich, da er eine natürliche Tochter besitzt, in ziemlich geschickter Weise den Ruf eines Philanthropen verschafft, indem er sie für die Tochter eines seiner Freunde, namens Peyrade, ausgab, die er zu sich genommen habe. Dann hat ihn dein Name de la Peyrade auf den Gedanken gebracht, um die Wahrscheinlichkeit dieser Version zu erhöhen, sie mit dir zu verheiraten, da er ja schließlich doch einen Mann für sie finden mußte.«

»Das mag so sein. Aber wie erklärst du dir seine intimen Beziehungen zur Regierung und das Interesse, das er an den Wahlen nimmt?«

»Das ist doch ganz natürlich,« antwortete Cérizet. »Du Portail ist auf Geld versessen und mischt sich gern überall ein; er leistet Rastignac, dem großen Wahlmacher, der, wie ich glaube, auch sein Landsmann ist, als Amateur Dienste; und dieser versorgt ihn dafür mit Nachrichten, die er beim Börsenspiel benutzt.«

»Hat er dir das alles anvertraut?« fragte la Peyrade.

»Wofür hältst du mich?« entgegnete Cérizet; »dem alten Biedermann gegenüber, von dem ich schon die Zusage der dreißigtausend Franken verlangt habe, spiele ich den Einfältigen und mache mich klein, aber ich habe Bruneau, den alten Kammerdiener, ausgehorcht. Du kannst dich mit dem Hause verbinden, du Portail ist ein mächtig reicher Mann, er wird dich zum Unterpräfekten ernennen lassen, und du begreifst, daß von da zu einer Präfektur, bei dem Vermögen, das du haben wirst, nur ein Schritt ist.«

»Ich danke dir für deine Auskünfte,« sagte la Peyrade; »ich weiß jetzt wenigstens, woran ich mich zu halten habe; aber wie hast du ihn denn kennen gelernt?«

»Oh, das ist eine ganze Geschichte; er ist durch meine Vermittlung wieder in den Besitz einer großen Menge Diamanten gelangt, die ihm entwendet worden waren.«

Jetzt erschien Corentin wieder.

»Alles geht vortrefflich«, sagte er zu la Peyrade. »Sie ist anscheinend auf dem besten Wege, ihren Verstand wieder zu erlangen. Bianchon, den ich von allem in Kenntnis zu setzen für nötig hielt, wünscht sich mit Ihnen zu besprechen. – Unsere kleine Prüfung der Angelegenheit Thuillier wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, mein lieber Herr Cérizet, auf heute abend verschieben.«

»Na, hier ist er also endlich!« sagte Cérizet und schlug la Peyrade auf die Schulter.

»Jawohl,« sagte Corentin; »Sie wissen, was ich Ihnen versprochen habe, Sie können darauf rechnen.«

Cérizet entfernte sich sehr vergnügt.

*


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