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Jedermann hat von den Schwierigkeiten des Odeons reden hören, dieses verhängnisvollen Theaters, das alle seine Direktoren zugrunde gerichtet hat. Mit Recht oder mit Unrecht blieb aber das Viertel, in dem diese theatralische Unmöglichkeit gelegen ist, davon überzeugt, daß es ein großes Interesse an ihrem Gedeihen habe, und mehr als einmal haben der Bürgermeister und die Spitzen des Bezirks mit einem Mute, der ihnen zur Ehre gereicht, die verzweifeltsten Versuche gemacht, den Kadaver künstlich am Leben zu erhalten.
Einfluß auf das Theater zu gewinnen, ist zu allen Zeiten eines der Ziele kleinbürgerlichen Ehrgeizes gewesen. Und immer fühlten sich alle die, die nacheinander dem Odeon hilfreich beigesprungen waren, reichlich belohnt, wenn ihnen scheinbar eine Mitwirkung bei der Leitung des Unternehmens zugestanden wurde.
Es geschah nun bei einer solchen Gelegenheit, daß Minard, als Bürgermeister des elften Bezirks, zum Vorsitzenden des Lesekomitees gewählt worden war mit der Befugnis, zu Beisitzern sich eine Anzahl von Notabeln aus dem Quartier Latin selbst auszusuchen.
Wir werden bald sehen, wie weit la Peyrade in Wirklichkeit mit seiner Jagd auf Célestes Mitgift gekommen war. Für jetzt mag es genügen, zu sagen, daß seine Bewerbung, deren Entscheidung heranrückte, unvermeidlich ruchbar geworden war; und da bei dieser Sachlage sowohl die Kandidatur des Advokaten Minard, als auch die des Professors Phellion erledigt zu sein schienen, so hatte sich das Vorurteil, dem der alte Minard gegen den alten Phellion Ausdruck gegeben hatte, in ein herzliches Einvernehmen verwandelt; nichts knüpft ein so festes Band vertraulicher Beziehungen wie eine gemeinsam erlittene Niederlage.
Ohne den bösen Blick väterlicher Rivalität gesehen, würde Phellion für Minard ein Römer von unerschütterlicher Rechtschaffenheit gewesen sein, ein Mann, dessen kleine Abhandlungen von der Universität angenommen waren, also eine Persönlichkeit von erprobtem gesundem Menschenverstände. Als es sich nun für den Bürgermeister darum handelte, das Personal des dramatischen Zollamts, dessen Leiter er sein sollte, zusammenzustellen, hatte er sofort an Phellion gedacht; was aber den großen Bürger anlangt, so hatte er an dem Tage, da ihm ein Platz in diesem erhabenen Tribunal angeboten wurde, das Gefühl, als ob sich eine goldene Krone auf sein Haupt senke.
Man begreift, daß ein Mann von dem feierlichen Wesen Phellions nicht leichtfertig und nicht ohne eingehende Prüfung eine so hohe heilige Mission, die sich ihm bot, angenommen hatte. Er sagte sich, daß er damit ein Amt, und zwar ein Priesteramt, auszuüben habe.
»Über Menschen zu Gericht sitzen,« hatte er zu Minard, der sich über sein langes Bedenken wunderte, gesagt, »das ist schon eine furchtbare Aufgabe; aber über den Geist – wer kann sich einem solchen Amt gewachsen fühlen?«
Auch dieses Mal wieder hatte die Familie, diese Klippe für alle verständigen Entschlüsse, versucht, einen Angriff auf seine Überzeugung zu machen, und die Aussicht auf freie Logen- und andere Plätze, über die das künftige Komiteemitglied zugunsten der Seinigen zu verfügen haben würde, hatte in seiner Umgebung eine so stürmische Gärung hervorgerufen, daß die Freiheit seiner Entscheidung eine kurze Zeit bedroht erschien. Aber glücklicherweise konnte Brutus sich in demselben Sinne entscheiden, zu dem ihn ein förmlicher Aufruhr des gesamten phellionischen Tribus drängte; auf die Gründe Barniols, seines Schwiegersohnes, hin und auch nach seiner eignen Einsicht war er davon überzeugt, daß er, da er immer für moralisch unangreifbare Werke stimmen und mit wohlüberlegter Absicht jedem Stücke den Weg versperren würde, in das eine Familienmutter ihre Tochter nicht mitnehmen könnte, berufen war, der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit den größten Dienst zu leisten.
Phellion war also, um seine Ausdrucksweise anzuwenden, Mitglied des »Areopags« geworden, dem Minard präsidierte. Und er hatte, um weiter in seiner Sprache zu reden, »sein Haus verlassen«, um seine ebenso »interessanten wie delikaten« Amtspflichten zu erfüllen, als die Unterhaltung, die wir hier wiedergeben, stattfand; da sie für das Verständnis der späteren Ereignisse dieser Geschichte nötig ist und außerdem das Gefühl des Neides, eines der hervorstechendsten Züge des Bourgeoischarakters, deutlich ins Licht setzt, so muß diese Unterredung unvermeidlich hier ihre Stelle finden.
Die Sitzung des Komitees war sehr stürmisch gewesen.
Anläßlich einer Tragödie mit dem Titel: »Der Tod des Herkules« waren sich die klassischen und die romantischen Ansichten, die der Herr Bürgermeister absichtlich gleichmäßig in dem Komitee verteilt hatte, beinahe in die Haare geraten.
Zweimal hatte sich Phellion zum Worte gemeldet, und man war erstaunt darüber, welche Unzahl von Metaphern die Rede eines Bataillonskommandeurs der Nationalgarde enthalten kann, wenn seine literarischen Überzeugungen angegriffen werden.
Nach der Abstimmung, bei der die Partei, deren beredtes Organ Phellion gewesen war, gesiegt hatte, sagte er, als er mit Minard die Treppe des Theaters hinabging:
»Wir haben heute tüchtige Arbeit geleistet! Dieser ›Tod des Herkules‹ erinnert mich an den ›Tod des Hektor‹ von dem seligen Luce de Lancival; das Werk, das wir angenommen haben, enthält erhabene Verse.«
»Ja,« sagte Minard, »die Verse sind geschmackvoll; es enthält auch schöne Sentenzen, und ich muß Ihnen gestehen, daß ich diese Literatur doch etwas höher stelle, als die Anagramme des edlen Colleville.«
»Oh,« sagte Phellion. »Collevilles Anagramme sind einfache Wortspiele, die mit den ernsten Tönen Melpomenes nichts gemein haben.«
»Nun,« fuhr Minard fort, »ich kann Ihnen versichern, daß er diesen Albernheiten einen außerordentlichen Wert beimißt, wie sich der Herr Musikus auch auf eine Anzahl anderer Dinge viel einbildet. Übrigens haben seit ihrer Übersiedelung in das Madeleineviertel nach meiner Ansicht nicht nur der gestrenge Herr Coleville, sondern auch seine Frau, seine Tochter, die Thuilliers und die ganze Sippschaft ein schwer zu rechtfertigendes hochfahrendes Benehmen angenommen.«
»Was wollen Sie?« sagte Phellion, »man muß einen sehr gefestigten Charakter besitzen, um den betäubenden Duft der Opulenz zu ertragen; unsere Freunde sind durch den Ankauf des Grundstücks, das sie sich zu bewohnen entschlossen haben, sehr reich geworden, man muß ihnen eine gewisse Trunkenheit in der ersten Zeit zugute halten; übrigens war das Diner, das sie uns gestern zur Einweihungsfeier gegeben haben, ebenso gewählt wie schmackhaft.«
»Auch ich«, sagte Minard, »schmeichle mir, einige hervorragende Diners gegeben zu haben, an denen sehr hochgestellte Mitglieder der Regierung nicht verschmähten teilzunehmen, aber ich habe mich deshalb doch nicht maßlos aufgeblasen, und ich bin immer derselbe, so wie man mich gekannt hat, geblieben.«
»Sie, Herr Bürgermeister, sind bereits seit langer Zeit an das vornehme Leben, das Sie Ihren hohen kaufmännischen Fähigkeiten zu verdanken haben, gewöhnt; aber unsere Freunde, die, im Gegensatz dazu, erst seit gestern Passagiere des lachenden Glücksschiffs sind, haben noch nicht, wie man sagt, die Seebeine.«
Und um dieses Gespräch, bei dem, wie Phellion fand, der Herr Bürgermeister sehr beißend wurde, abzubrechen, schickte er sich an, von ihm Abschied zu nehmen. Sie hatten nicht denselben Weg nach ihren beiderseitigen Wohnungen.
»Gehen Sie nicht durch den Luxembourggarten?« fragte Minard, der sich nicht abschütteln lassen wollte.
»Jawohl, aber ich halte mich dort nicht auf. Ich habe mit meiner Frau verabredet, daß sie mich mit den kleinen Barniols am Ende der großen Allee erwarten soll.«
»Nun,« sagte Minard, »dann werde ich auch das Vergnügen haben, Frau Phellion zu begrüßen und gleichzeitig ein wenig Luft zu schnappen; es ist ja sehr hübsch, so schöne Sachen zu hören, aber die Arbeit, die wir heute geleistet haben, macht Einem den Kopf warm.«
Minard hatte wohl gemerkt, daß Phellion nicht gern auf seine etwas spitzen Bemerkungen über die neue Behausung der Thuilliers antworten wollte. Er machte also keinen weiteren Versuch, auf diese Sache wieder zurückzukommen; aber sobald er mit Frau Phellion ins Gespräch kam, bei der er sicher war, daß seine Bosheiten eher ein Echo finden würden, sagte er:
»Nun, meine schöne Frau, was denken Sie über das gestrige Diner?«
»Es war sehr schön,« antwortete Frau Phellion, »und von der Geflügelsuppe an habe ich gemerkt, daß irgendein großer Traiteur wie Chevet an die Stelle der schlechten Köchin getreten war. Aber es war keine fröhliche Stimmung und nicht die Gemütlichkeit wie bei unseren kleinen Gesellschaften im Quartier Latin. Und haben Sie nicht auch bemerkt, daß weder Frau noch Fräulein Thuillier mehr Herrinnen in ihrem Hause zu sein scheinen? Ich habe schließlich geglaubt bei Frau . . . wie heißt sie doch? – zu sein; ich habe mir ihren Namen nicht merken können.«
»Torna, Gräfin von Godollo«, sagte Phellion dazwischen. »Der Name ist aber doch äußerst wohllautend.«
»Mag er wohllautend sein, soviel du willst, mein Lieber, aber für mich klingt das überhaupt nicht wie ein Name.«
»Es ist ein magyarischer, oder vulgär gesprochen, ein ungarischer Name. Wenn man über unseren Namen streiten wollte, so könnte man sagen, daß er wie aus dem Griechischen entlehnt klingt.«
»Möglich, aber wir, wir haben den Vorzug, daß man uns kennt, nicht allein in unserm Viertel, sondern in der ganzen Lehrerwelt, wo wir uns eine ehrenvolle Stellung errungen haben; aber diese ungarische Gräfin, die jetzt im Hause Thuillier den Ton angibt, wo stammt sie denn her? Wie war es ihr, zumal mit ihren Manieren einer großen Dame – denn das kann man ihr nicht absprechen, sie hat ein sehr vornehmes Auftreten, diese Frau –, wie war es ihr möglich, Brigitte in sich verliebt zu machen, die, unter uns gesagt, ihre Herkunft doch nicht verleugnen kann und schon von weitem nach der Portierstochter riecht, daß einem übel werden kann? Nach meiner Meinung ist diese so hingebungsvolle Freundin eine Intrigantin; sie hat gemerkt, daß hier etwas zu machen ist, und spart sich einen kleinen Ausbeutungsfeldzug für später auf.«
»Ach so,« sagte Minard, »Sie wissen also noch nicht, aus welchem Anlaß diese nahen Beziehungen zwischen der Frau Gräfin von Godollo und den Thuilliers entstanden sind?«
»Sie ist eine ihrer Mieterinnen, die das Zwischengeschoß unter ihnen bewohnt.«
»Gewiß, aber es kommt noch ein besonderer Umstand hinzu. Zélie, meine Frau, weiß es von Josephine, die damals gern bei uns in Dienst getreten wäre; es wurde nichts daraus, weil unsere Franziska, die heiraten und von uns weggehen wollte, sich schließlich anders besonnen hat. Erfahren Sie also, schöne Frau, daß die Auswanderung der Thuilliers einzig und allein der Frau von Godollo zuzuschreiben ist, die ihnen das Mobiliar geliefert hat.«
»Wie, eine Möbelhändlerin?« rief Phellion, »diese vornehme Dame, von der man sagen möchte: ›Incessu patuit dea‹, was wir ziemlich unvollkommen ins Französische mit ›ein Anstand wie eine Königin‹ übersetzen.«
»Erlauben Sie,« sagte Minard, »ich behaupte nicht, daß die Frau Gräfin von Godollo direkt eine Möbelhändlerin ist; aber in der Zeit, wo Fräulein Thuillier sich auf la Peyrades Rat entschloß, ihr Haus bei der Madeleine selbst zu verwalten, gelang es diesem kleinen Herrn, der auf sie durchaus nicht den Einfluß ausübt, wie er uns glauben machen möchte, – gelang es ihm nicht ohne Schwertstreich, sie dazu zu bestimmen, in ihrem Hause die kostbare Wohnung zu beziehen, in der wir gestern empfangen wurden. Fräulein Brigitte wandte dagegen ein, daß sie ihre Gewohnheiten würde ändern müssen, und daß ihre Freunde in einem so entfernten Viertel nicht mehr zu ihnen kommen würden . . .«
»Sicherlich,« unterbrach ihn Frau Phellion, »müßten Einem, wenn man sich alle Sonntage zu der Ausgabe für einen Wagen entschließen soll, andere Genüsse in Aussicht stehen, als die, die uns in ihrem Salon geboten werden . . . Wenn man bedenkt, daß, abgesehen von der kleinen Tanzerei anläßlich der Wahl zum Generalrat, man überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen ist, das Klavier zu öffnen!«
»Es wäre uns sicherlich sehr angenehm gewesen,« erwiderte Minard, »wenn von einem so bemerkenswerten Talent wie dem Ihrigen zuweilen Gebrauch gemacht werden würde, aber so etwas kommt der guten Brigitte gar nicht in den Sinn. Sie hätte dazu ja auch zwei Kerzen mehr anzünden müssen. Sie liebt nur die Musik der Hundertsousstücke. Als la Peyrade und Thuillier also drängten, daß sie die Wohnung in der Rue Saint-Dominique d'Enfer verlassen solle, machten ihr die Unkosten des Umzugs die meiste Sorge. Sie war mit Recht der Ansicht, daß unter den vergoldeten Plafonds das alte Gerümpel ihrer bisherigen Wohnung einen merkwürdigen Eindruck machen würde.«
»So hängt eins mit dem andern zusammen,« rief Phellion aus, »und so dringt der Luxus von den Spitzen der Gesellschaft bis in die unteren Klassen hinein und führt früher oder später den Ruin der Länder herbei.«
»Sie berühren da, mein lieber Kommandeur,« bemerkte Minard, »eine der schwierigsten Fragen der politischen Ökonomie; viele feine Köpfe sind im Gegenteil der Ansicht, daß der Luxus eine sehr wünschenswerte Sache ist, weil dadurch der Handel, der doch sicherlich der Grundpfeiler des staatlichen Lebens ist, blüht. Jedenfalls scheint dieser Gesichtspunkt, wenn auch nicht der Ihrige, so doch der der Frau von Godollo zu sein, denn sie soll entzückend eingerichtet sein, und um Fräulein Thuillier auf die gleiche Höhe der Eleganz zu bringen, machte sie ihr folgenden Vorschlag: ›Eine Freundin von mir‹, sagte sie, ›eine russische Prinzessin, für die einer der ersten Möbelfabrikanten von Paris eben ein herrliches Mobiliar hergestellt hat, ist plötzlich vom Zaren, einem Herrn, der nicht mit sich spaßen läßt, in ihr Land zurückbefohlen worden. Die arme Frau sieht sich gezwungen, alles, was sie besitzt, zu Geld zu machen, und ich bin sicher, daß sie dieses Mobiliar für kaum den vierten Teil des Preises, den es gekostet hat, jemandem, der es bar bezahlen wollte, ablassen würde; alles ist so gut wie neu, und eine Anzahl von Gegenständen ist überhaupt noch nicht benutzt worden.‹«
»Also ist all diese Pracht,« rief Frau Phellion, »die gestern abend vor uns zur Schau gestellt wurde, ein Ergebnis der Sparsamkeit und eines Gelegenheitskaufes?«
»Wie Sie sagen, verehrte Frau,« erwiderte Minard, »und was Fräulein Brigitte bestimmt hat, von diesem großartigen Glückszufall Gebrauch zu machen, das war nicht so sehr der Wunsch, ihr Mobiliar zu erneuern, als der Gedanke, hierbei ein ausgezeichnetes Geschäft machen zu können, denn in dieser alten Jungfer steckt immer etwas von der Madame la Ressource aus dem ›Geizigen‹.«
»Ich glaube, Sie irren sich, Herr Bürgermeister; Madame la Ressource ist eine Figur aus dem ›Turcaret‹, dem sehr unmoralischen Stück des seligen Le Sage.«
»Meinen Sie?« sagte Minard, »das wäre möglich; aber sicher ist jedenfalls, daß, wenn der Advokat sich bei Brigitte dadurch in Gunst gesetzt hat, daß er ihr das Haus verschaffte, die Fremde durch die Vermittelung des Möbelankaufs jetzt bei ihr die Position einnimmt, die uns aufgefallen ist; und haben Sie nun nichts von dem Kampfe bemerkt; der sich zwischen dem Mobilien- und dem Immobilien-Einfluß entsponnen hat?«
»Aber natürlich,« sagte Frau Phellion mit einem Aufleuchten der Augen, das ihr ungeteiltes Interesse an dieser Unterhaltung bewies, »wie mir schien, hat sich die hohe Dame erlaubt, dem Herrn Advokaten zu widersprechen, und zwar mit einer gewissen Schärfe.«
»Oh, es war recht deutlich,« bemerkte Minard, »und der Intrigant hat das wohl gemerkt. Diese feindselige Haltung schien ihm auch große Sorgen zu machen! Mit den Thuilliers hat er leichtes Spiel gehabt, die sind, unter uns gesagt, doch keine klugen Leute; aber hier hat er, wie er fühlt, eine scharfe Gegnerin gefunden und sucht unruhig nach einer verwundbaren Stelle bei ihr.«
»Weiß Gott,« sagte Frau Phellion, »das ist ihm recht! Seit einiger Zeit hat dieser Herr, der sich früher so bescheiden und unterwürfig benahm, jetzt Herrschermanieren in dem Hause angenommen, die unerträglich sind: er spielt sich schon ganz offen als Schwiegersohn auf; und bei der Wahlaffäre Thuilliers hat er uns, alles in allem, sämtlich an der Nase herumgeführt, damit wir ihm als Fußschemel für seine Heiratswünsche dienten.«
»Ja,« sagte Minard, »aber augenblicklich ist unser Mann, wie ich Ihnen versichern kann, stark im Preise gesunken. Zunächst wird er nicht alle Tage seinem ›Freundchen‹, wie er ihn nennt, ein Grundstück im Werte von einer Million für ein Butterbrot verschaffen können.«
»Haben sie denn das Haus so billig bekommen?« fragte Frau Phellion.
»Umsonst haben sie's bekommen, und zwar infolge einer unsauberen Intrige, von der mir der Anwalt Desroches neulich erzählte, und die, wenn sie zur Kenntnis der Advokatenkammer gelangte, den Herrn Advokaten stark kompromittieren würde. Dann stehen die Kammerwahlen bevor. Unserm guten Thuillier ist der Appetit beim Essen gekommen, aber er merkt schon, daß der Herr la Peyrade, wenn es sich darum handelt, ihm diesen Bissen zurecht zu schneiden, uns nicht wieder so leicht wird zum Narren halten können. Deshalb hat man sich der Frau von Godollo zugewendet, die hohe Beziehungen in der politischen Welt zu haben scheint. Übrigens macht sich, abgesehen von diesen, ja noch in der Ferne liegenden Ansprüchen, die Gräfin von Godollo Brigitte von Tag zu Tag unentbehrlicher; denn das muß man zugeben: ohne den Beistand der vornehmen Dame würde das arme Mädchen in ihrem prächtigen Salon sich wie ein Lumpen inmitten der Ausstattung einer Neuvermählten ausnehmen.«
»Oh, Herr Bürgermeister,« sagte Frau Phellion geziert, »Sie sind hart!«
»Nein, wahrhaftig,« fuhr Minard fort, »Hand aufs Herz, ist Brigitte, ist Frau Thuillier imstande, in ihrem Salon zu empfangen? Die Ungarin ist es, die die ganze Wohnung arrangiert hat; sie ist es, die ihnen den Diener besorgt hat, dessen gute Haltung und Gewandtheit Ihnen aufgefallen sein wird; sie ist es, die gestern das Menü zusammengestellt hat, und sie spielt auch die Vorsehung für diese Kolonie, die ohne ihr Eintreten das Gelächter des ganzen Viertels erregt haben würde. Was aber andererseits auffällt: diese Fremde, die nicht, wie Sie zuerst glaubten, ein Parasit in der Art des Provenzalen ist, und die selbst ein hübsches Vermögen zu besitzen scheint, zeigt sich nicht nur uneigennützig, sondern sogar freigebig. So sind die beiden Kleider Brigittes und der Frau Thuillier, die Ihnen allen aufgefallen sein werden, meine Damen, ein Geschenk, das sie ihnen gemacht hat, und nur weil sie selbst die Toilette unserer beiden Gastgeberinnen angeordnet hat, sind sie zu Ihrem Erstaunen gestern nicht in ihrer sonstigen Art aufgeputzt gewesen.«
»Aber,« sagte Frau Phellion, »was beabsichtigt sie denn mit dieser mütterlichen Hingebung und Vorsorge?«
»Meine Liebe,« sagte Phellion feierlich, »der Beweggrund für die Handlungen der Menschen ist, Gott sei Dank, nicht immer der Egoismus und der niedrige Eigennutz. Es gibt noch Gemüter, denen es Freude macht, das Gute um seiner selbst willen zu tun. Diese Dame hat in unsern Freunden vielleicht Leute gesehen, die im Begriffe standen, sich in eine Sphäre zu verirren, deren Höhe sie unterschätzt hatten, und indem sie ihren ersten Schritten durch den Ankauf des Mobiliars beigestanden hatte, wird sie später, so wie eine Amme an ihrem Säugling hängt, Gefallen daran gefunden haben, ihnen die Milch ihrer Winke und Ratschläge im Überfluß zu spenden.«
»Er tut immer so, als ob er keine Fliege töten könnte, Ihr guter Mann,« sagte Minard zu Frau Phellion, »und jetzt macht er, wie Sie sehen, die bissigsten Bemerkungen!«
»Ich und bissig?« sagte Phellion; »das entspräche weder meinen Absichten noch meinen Gewohnheiten.«
»Man kann es aber doch kaum deutlicher ausdrücken, daß die Thuilliers Schafsköpfe sind, und daß die Frau von Godollo sie aufpäppeln muß, wie kleine Kinder.«
»Ich kann eine solche, ihren Ruf antastende Qualifizierung unserer Freunde nicht zugeben«, sagte Phellion. »Ich habe nur sagen wollen, daß es ihnen vielleicht an Erfahrung fehle, und daß die vornehme Dame ihnen mit ihren Kenntnissen und ihrer Weltgewandtheit zur Seite stehe; aber ich protestiere gegen jede andere Interpretation, die über die hiermit gezogenen Grenzen hinausgeht.«
»Aber darin sind wir doch einig, mein lieber Kommandeur, daß der Gedanke, Céleste diesem la Peyrade zu geben, etwas anderes ist als ein Mangel an Lebensart? Das ist gleichzeitig eine unschickliche und eine unmoralische Sache; denn bei diesen galanten Beziehungen zwischen dem Advokaten und Frau Colleville . . .«
»Herr Bürgermeister,« unterbrach ihn Phellion mit verdoppelter Feierlichkeit, »der Gesetzgeber Solon wollte keine Strafe für den Vatermord festsetzen, weil er ein solches Verbrechen für undenkbar hielt. Ich glaube, ebenso verhält es sich mit der Verirrung, auf die Sie anzuspielen scheinen. Frau Colleville sollte Herrn de la Peyrade Entgegenkommen beweisen und gleichzeitig daran denken, ihm ihre Tochter zu geben – nein, mein Herr, nein, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Wenn sie vom Gerichtshof hierüber befragt wäre, würde Frau Colleville wie Marie-Antoinette antworten: ›Ich rufe alle Mütter zu Zeugen an!‹«
»Trotzdem wirst du mir gestatten, Dir zu sagen, mein Lieber, daß Frau Colleville eine außerordentlich leichtfertige Person ist, und daß sie davon genugsam hübsche Proben gegeben hat.«
»Machen wir diesem Gespräch ein Ende, meine Liebe,« sagte Phellion, »außerdem ruft uns unsere Essensstunde nach Hause, und ich finde, daß wir unsere Unterhaltung allmählich in den unsauberen Sumpf des Klatschens haben gleiten lassen.«
»Sie sind noch voller Illusionen, mein lieber Kommandeur,« sagte Minard und reichte Phellion die Hand, »aber es sind achtungswerte Illusionen, die ich respektiere und um die ich Sie beneide. – Verehrte Frau, ich habe die Ehre . . .« bemerkte der Bürgermeister und empfahl sich respektvoll von Frau Phellion.
Dann entfernten sie sich, jeder nach seiner Seite.
Die Informationen des Bürgermeisters des elften Bezirks waren ganz richtig. Im Salon Thuillier hob sich seit der Übersiedelung in das Madeleineviertel zwischen der geldgierigen Brigitte und der immer klagenden Frau Thuillier das Antlitz einer verführerischen graziösen Frau hervor, die diesem Salon den Charakter einer gänzlich unerwarteten Eleganz verlieh.