Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Während diese erfolgte, begab sich Cérizet eines Morgens zu du Portail; mit diesem in keine Verbindung zu treten, war la Peyrade mehr als je entschlossen.
»Nun«, sagte der kleine Alte zu dem Armenbankier, »weiß man schon, was für einen Eindruck die Anzeige bei dem Vorsitzenden der Advokatenkammer auf unsern Mann gemacht hat? Ist die Angelegenheit im Justizpalast schon ein wenig durchgesickert?«
»Pah!« sagte Cérizet, den die anscheinend ziemlich häufigen Besuche bei dem Manne in der Rue Honoré-Chevalier diesem gegenüber auf den Fuß einer gewissen Vertraulichkeit gesetzt hatten; »als ob es sich darum handelte! Der Aal will uns wieder entschlüpfen; weder Zuckerbrot noch Peitsche wirken bei diesem Teufelskerl: wenn er mit dem Vorsitzenden schlecht steht, so steht er dafür bei ›seinen‹ Thuilliers in besserem Geruch als je. ›Die Nützlichkeit bringt Entfernte zueinander‹, sagt Figaro. Thuillier bedarf seiner für seine Kandidatur im Bezirk Saint-Jacques, man hat sich wieder umarmt und alles ist erledigt.«
»Und gewiß«, sagte du Portail, ohne sich sehr darüber aufzuregen, »ist die Heirat nun auf einen ziemlich nahen Zeitpunkt festgesetzt worden?«
»Erstens das,« sagte Cérizet; »dann aber kommt noch eine andere Geschichte hinzu: dieser verrückte Kerl hat Thuillier überredet, eine Zeitung anzukaufen; sie werden einige vierzigtausend Franken in die Sache hineinstecken. Der andere, da er einmal in die Sache verstrickt ist, wird sein Geld retten wollen: ich sehe sie daher für unabsehbare Zeit einer an den andern gebunden.«
»Was ist das für eine Zeitung?« fragte du Portail nebenbei.
»Ein Winkelblättchen, das ›Echo de la Bièvre‹,« sagte Cérizet verächtlich, »eine Zeitung, die ein alter Journalist, der schon in zerrissenen Stiefeln ging, im Mouffetardviertel von den Gerbern hat gründen lassen, deren Industrie, wie Sie wissen, diesen Bezirk beherrscht. In politischer und literarischer Beziehung ist das kein Geschäft, aber in bezug auf die Thuilliers ist es ein Meisterstreich.«
»O ja, für die Wahl in einem Bezirk ist es kein schlecht gewähltes Hilfsmittel!« bemerkte der Rentier. »La Peyrade besitzt Talent, Rührigkeit und bedeutende geistige Hilfsquellen, er kann aus diesem Echo etwas machen. – Unter welcher Flagge wird der edle Thuillier denn kandidieren?«
»Dieser Thuillier,« erwiderte der Bankier der Markthallen, »das ist eine Qualle, der hat gar keine politische Meinung. Bis zur Veröffentlichung seiner Broschüre war er, wie alle Bourgeois, ein fanatischer Konservativer; aber seit der Beschlagnahme mußte er zur Opposition übergehen; seine erste Etappe wird das linke Zentrum gewesen sein; wenn aber der Wind bei der Wahl von einer anderen Seite wehen sollte, wird er ganz zur äußersten Linken abschwenken: für diese Leute ist das persönliche Interesse der einzige Maßstab für ihre Überzeugungen.«
»Verdammt!« sagte du Portail, »diese Kombination unseres Advokaten kann sich zu einer politischen Gefahr auswachsen, wenn ich sie unter dem Gesichtspunkte meiner Anschauungen betrachte, die streng konservativ und streng regierungsfreundlich sind.«
Dann, nach einiger Überlegung, fuhr er fort:
»Sie waren doch früher mal Journalist, mein ›tapferer‹ Cérizet?«
»Jawohl,« erwiderte der Wucherer; »ich habe sogar mit la Peyrade eine Abendzeitung geleitet. Ein nettes Handwerk, das wir da betrieben haben und für das wir auch schön belohnt worden sind!«
»Nun,« sagte du Portail, »warum sollten Sie nicht noch mal mit la Peyrade als Journalist tätig sein?«
Cérizet sah du Portail erstaunt an.
»Wahr und wahrhaftig!« sagte er beinahe gleichzeitig, »sind Sie denn der Teufel selber, mein Herr Rentier, daß Ihnen gar nichts verborgen bleiben kann?«
»Ja,« sagte du Portail, »ich weiß ziemlich viel . . . Aber was ist denn nun Bestimmtes zwischen Ihnen und la Peyrade abgemacht worden?«
»Da er meine Erfahrung in diesem Handwerk kannte und nicht wußte, wen er sonst nehmen sollte, kam er gestern zu mir und hat mir die Stellung als verantwortlicher Redakteur angeboten.«
»Das wußte ich nicht,« sagte der Rentier, »aber es war zu erwarten. Und haben Sie angenommen?«
»Sehr bedingungsweise. Ich habe mir eine kurze Bedenkzeit erbeten. Ich wollte erst wissen, wie Sie über das Angebot denken.«
»Nun, ich denke, daß, wenn man ein Unheil nicht verhindern kann, man sehen muß, wie man sich damit abfindet; ich will lieber, daß Sie an der Sache beteiligt sind, als daß Sie draußen bleiben.«
»Sehr schön! Aber es besteht eine Schwierigkeit in bezug auf mein Hineinkommen; la Peyrade weiß, daß ich Schulden habe, und er will die dreiunddreißigtausend Franken Kaution, die ich auf meinen Namen stellen muß, nicht hergeben. Ich habe sie nicht; und wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht aufs Spiel setzen und sie dem Zugriff meiner Gläubiger aussetzen wollen.«
»Sie müssen doch immerhin«, sagte du Portail, »von den fünfundzwanzigtausend Franken noch etwas haben, die la Peyrade Ihnen vor wenig über zwei Monaten gezahlt hat?«
»Es sind mir davon noch zweitausendzweihundert Franken und fünfzig Centimes übriggeblieben,« erwiderte Cérizet; »ich habe gestern abgerechnet; das übrige ist für die Bezahlung der drängendsten Schulden draufgegangen.«
»Wenn Sie bezahlt haben, dann schulden Sie doch nichts mehr.«
»Ja, was ich bezahlt habe; aber was ich nicht bezahlt habe, das bin ich noch schuldig.«
»Wie? Ihre Passiva betrugen mehr als fünfundzwanzigtausend Franken?« fragte du Portail ungläubig.
»Gerät man um eine geringere Summe in Konkurs?« antwortete Cérizet wie ein Mann, der ein Axiom aufstellt.
»Ich sehe also, daß man Ihnen die Summe vorstrecken muß,« sagte du Portail gut gelaunt; »aber die Frage ist, ob Ihre Beteiligung an der Sache einen Verlust der Zinsen von dreiunddreißigtausenddreihundertdreiunddreißig Franken und dreiunddreißig Centimes wert ist.«
»Nun,« sagte Cérizet, »wenn ich einmal bei Thuillier Fuß gefaßt habe, dann würde es mir nicht schwer fallen, la Peyrade mit ihm in ein schlechtes Verhältnis zu bringen. Bei der Redaktion einer Zeitung gibt es tausend unvermeidliche Häkeleien, und wenn ich dann immer die Partei des Dummen gegen den Klugen nehme, würde ich die Eigenliebe des einen anstacheln und die des andern so verletzen können, daß ihnen das Zusammenleben bald unmöglich werden dürfte. Sie sprachen ferner von der politischen Gefahr: Sie müssen wissen, daß ein verantwortlicher Redakteur, wenn er die erforderliche Intelligenz besitzt, um kein bloßer Strohmann zu sein, der Sache unbemerkt den Stempel, den man wünscht, aufdrücken kann.«
»Es ist etwas Wahres an dem, was Sie sagen,« antwortete du Portail; »aber am meisten liegt mir daran, daß la Peyrade eine Schlappe erleidet.«
»Außerdem,« sagte Cérizet, »um ihn bei den Thuilliers zu vernichten, dazu glaube ich noch ein anderes kleines verfängliches Mittel zu kennen.«
»Dann sagen Sie es doch!« rief du Portail ungeduldig; »Sie drehen sich wie die Katze um den heißen Brei, als ob ich ein Mann wäre, bei dem es Zweck hat, Ausflüchte zu machen.«
»Sie werden sich erinnern,« entgegnete Cérizet, der klein beigab, »wie damals Dutocq und ich sehr erstaunt waren, daß la Peyrade ganz ungeniert plötzlich die fünfundzwanzigtausend Franken bezahlen konnte.«
»Sollten Sie«, bemerkte der Rentier lebhaft, »entdeckt haben, woher diese im Besitze des Herrn Advokaten unwahrscheinliche Summe herrührte? Und hat ihre Herkunft etwas Verdächtiges?«
»Hören Sie!« sagte Cérizet.
Und er erzählte mit allen Einzelheiten von der Angelegenheit der Frau Lambert, mußte aber hinzufügen, daß er, als er die Frau in der Gerichtsschreiberei des Friedensgerichts an dem Tage ihrer Begegnung mit la Peyrade beiseite genommen hatte, kein Geständnis von ihr hatte herausbekommen können, obgleich die edle Dame durch ihre Haltung jeden Verdacht, den Dutocq und er selbst gegen sie hegten, zu rechtfertigen schien.
»Frau Lambert, Rue du Val-de-Grâce Nr. 9, bei dem Herrn Picot, Professor der Mathematik«, sagte du Portail und machte sich eine Notiz. »Schön, mein lieber Herr Cérizet,« fügte er hinzu, »besuchen Sie mich morgen wieder.«
»Aber denken Sie daran,« sagte der Wucherer, »daß ich morgen im Laufe des Tages la Peyrade Bescheid geben muß. Er drängte sehr mit dem Abschluß.«
»Schön! Sie werden zusagen und für die Hinterlegung der Kaution einen Aufschub von vierundzwanzig Stunden verlangen, und wenn wir nach den eingezogenen Erkundigungen kein Interesse an der Sache haben sollten, dann werden Sie eben ihr Wort nicht halten; man kommt deshalb noch nicht vor die Geschworenen.«
Abgesehen von dem gewissermaßen faszinierenden Einfluß, den er auf seinen Agenten ausübte, ließ du Portail nie eine Gelegenheit vorübergehen, ohne auf den etwas trüben Ursprung ihrer Beziehungen anzuspielen.
Als Cérizet am nächsten Tage bei dem Rentier erschien, sagte du Portail zu ihm:
»Sie haben richtig vermutet: die Frau Lambert, genötigt, das Vorhandensein ihres Geldes geheimzuhalten, und im übrigen voll Verlangen, die unterschlagene Summe zu gutem Zins anzulegen, wird auf den Gedanken gekommen sein, la Peyrade deshalb aufzusuchen; seine äußere Scheinheiligkeit empfahl ihn ihrem Vertrauen, sie wird ihm den Betrag sicher ohne Quittung ausgehändigt haben. Mit was für Geld ist Dutocq bezahlt worden?«
»Mit neunzehn Tausendfranken- und zwölf Fünfhundertfrankenscheinen.«
»Es stimmt genau,« fuhr du Portail fort, »es bleibt uns kein Zweifel mehr. Was für einen Gebrauch gedenken Sie nun Thuillier gegenüber von dieser Aufklärung zu machen?«
»Ich gedenke ihm klar zu machen, daß la Peyrade, dem er sein Patenkind geben will, bis über die Ohren in Schulden steckt; daß er sich heimlich und zu Wucherzinsen Geld geliehen hat; daß er, um die Schulden loszuwerden, die Zeitung bis auf die Knochen aufessen wird; daß seine Situation als verschuldeter Mann in jedem Augenblick bekannt werden und den Wahlkandidaten, der sich unter seinen Schutz gestellt hat, in die denkbar schlimmste Lage bringen kann.«
»Das ist alles nicht übel,« sagte du Portail, »aber man kann von dieser Entdeckung noch einen viel überzeugenderen und durchschlagenderen Gebrauch machen.«
»Reden Sie, mein Herr und Meister,« sagte Cérizet, »ich höre.«
»Ist Thuillier nicht noch im unklaren darüber,« sagte du Portail, »wie er sich die Beschlagnahme seiner berühmten Broschüre erklären soll?«
»In der Tat,« antwortete der Wucherer; »gerade gestern hat la Peyrade mit mir davon gesprochen, um mir zu beweisen, wie weit die Einfältigkeit Thuilliers geht, den er auf die albernste Vorspiegelung hat hineinfallen lassen. Der ehrenwerte Bourgeois ist überzeugt, daß die Beschlagnahme von Olivier Vinet, dem Gehilfen des Generalstaatsanwalts, veranlaßt worden ist. Dieser junge Beamte hat sich nämlich einmal um Fräulein Colleville beworben, und der brave Thuillier glaubt, die strengen Maßnahmen der Staatsanwaltschaft rührten daher, daß sich eins ihrer Mitglieder für den Refus, den es erhalten hat, rächen wollte.«
»Vortrefflich!« sagte du Portail; »morgen wird Thuillier als Vorbereitung für eine andere Lesart, die Sie vorbringen sollen, von Herrn Vinet einen sehr energischen und sehr scharfen Protest gegen die Beschuldigung des Amtsmißbrauchs erhalten, den er in so törichter Weise für glaubhaft gehalten hat.«
»Ja?« bemerkte Cérizet neugierig.
»Es muß also eine andere Erklärung gesucht werden,« fuhr du Portail fort, »und Sie werden Thuillier die Versicherung geben, daß er das Opfer einer abscheulichen Machenschaft der Polizei geworden ist. Sie wissen doch, daß die Polizei zu nichts anderem als zu solchen Machenschaften da ist.«
»Natürlich,« sagte der Wucherer; »zwanzigmal habe ich eine solche Erklärung mit meinem Namen versehen, als ich bei republikanischen Zeitungen tätig war, und als . . .«
»Sie noch der ›tapfere‹ Cérizet waren«, unterbrach ihn du Portail. »Jetzt liegt also folgende Machenschaft der Polizei vor: die Regierung war sehr ärgerlich darüber, daß Thuillier ohne ihre Mitwirkung in den Generalrat des Seinedepartements gewählt wurde; sie trug es einem unabhängigen, patriotischen Bürger nach, daß er sich bei seiner Kandidatur so ungeniert ohne sie beholfen hatte; sie wußte außerdem, daß der große Mitbürger eine Broschüre über die stets kitzliche Frage der Finanzen vorbereite, auf welchem Gebiet dieser gefährliche Gegner eine umfassende Erfahrung besaß. Was tat nun die durch und durch verdorbene Regierung? Sie gewann einen Mann, der, wie sie erfahren hatte, Thuilliers Berater war, und für eine Summe von fünfundzwanzigtausend Franken, was für die Polizei eine Bagatelle bedeutet, hat dieser perfide Ratgeber, ohne daß man etwas merkte, sich verpflichtet, in die Broschüre einige Sätze einzuflechten, die ihren Verfasser direkt vor die Geschworenen bringen konnten. Wird diese Erklärung nun noch irgendeinen Zweifel bei Thuillier übrig lassen, wenn er gleichzeitig erfährt, daß la Peyrade, der seines Wissens nicht einen lebendigen Heller besaß, Dutocq genau diesen selben Betrag von fünfundzwanzigtausend Franken bar auf den Tisch bezahlt hat?«
»Teufel nochmal!«, bemerkte Cérizet, »das ist nicht schlecht ausgedacht. Leute von der Art Thuilliers glauben alles, was man ihnen über die Polizei vorerzählt.«
»Sie werden dann sehen,« fuhr du Portail fort, »ob Thuillier noch Lust haben wird, einen solchen Mitarbeiter neben sich zu dulden, und ob er weiter den Wunsch haben wird, ihm sein Patenkind zur Frau zu geben.«
»Sie sind ein sehr kluger Herr,« stimmte Cérizet von neuem bei; »aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich wegen der Rolle, die ich dabei spielen soll, Bedenken habe. La Peyrade hat mir den Redakteurposten bei der Zeitung angeboten, und ich soll nun daran arbeiten, ihn zu verdrängen . . .«
»Und die Hausmiete, um die er Sie trotz seiner feierlichen Versprechungen gebracht hat, haben Sie das schon vergessen?« antwortete der Rentier. »Und wollen wir im übrigen nicht das Glück dieses Starrkopfs, der sich hartnäckig gegen die wohlwollendsten Absichten sträubt?«
»In der Tat,« sagte Cérizet, »das erstrebte Ziel wird mich schließlich rechtfertigen, ich werde also den Weg, den Sie so fein ausgedacht haben, entschlossen verfolgen. Aber mir fällt eins ein: ich kann nicht schon in den ersten Tagen Thuillier diese Eröffnung machen; sie muß mit langer Hand vorbereitet werden, und die Hinterlegung der Kaution ist fast unmittelbar schon jetzt erforderlich.«
»Hören Sie mal, Herr Cérizet,« sagte du Portail in befehlendem Ton, »wenn die Ehe zwischen la Peyrade und meinem Mündel zustande kommt, habe ich die Absicht, mich für Ihre Dienste erkenntlich zu zeigen, und eine Summe von dreißigtausend Franken soll für Sie ein Ansporn sein. Also auf der einen Seite dreißigtausend, auf der andern fünfundzwanzigtausend Franken, das sind volle fünfundfünfzigtausend Franken, die Ihnen die Kombinationen, Ihren Freund la Peyrade zu verheiraten, einbringen würden. Aber ebenso wie in den Jahrmarktsbuden beabsichtigte ich erst beim Weggehen zu bezahlen. Wenn Sie die Kaution aus eigenen Mitteln stellen, so bin ich nicht beunruhigt darüber, daß Sie nicht einen Weg finden sollten, sie vor den Krallen Ihrer Gläubiger zu retten. Wenn aber im Gegenteil mein Geld dabei in Frage käme, so würden Sie wohl nicht den gleichen Eifer und die gleiche Schlauheit entwickeln, um es vor der Gefahr zu behüten. Sehen Sie also zu, wie Sie sich bezüglich der dreiunddreißigtausend Franken arrangieren; haben Sie Erfolg, so ist das eine Kapitalsanlage zu hundert Prozent. Das ist mein letztes Wort und ich wünsche keine Einwendungen dagegen zu hören.«
Cérizet hatte auch keine Zeit mehr, solche zu machen, denn in diesem Augenblick wurde die Tür zu du Portails Arbeitszimmer, in dem sich diese Szene abspielte, plötzlich geöffnet, und eine schlanke blonde Dame mit einem Gesicht von engelhafter Sanftmut trat eilig herein.
Auf ihren Armen, über die schöne weiße Wäschestücke ausgebreitet waren, ruhte die Form eines Wickelkindes.
»Da!« sagte sie: »diese böse Kate behauptet, es sei nicht der Doktor; ich wußte doch, daß ich ihn hereinkommen sah! Hören Sie, Herr Doktor,« wandte sie sich an Cérizet, »ich bin mit dem Befinden der Kleinen nicht zufrieden, gar nicht; sie ist so blaß und so stark abgemagert. Ich glaube, es sind die Zähnchen.«
Du Portail machte Cérizet ein Zeichen, daß er die Rolle, die ihm so plötzlich aufgedrängt war, und die ihn an die erinnerte, die er eine Zeitlang in der berühmten Affäre Cardinal zu spielen beabsichtigt hatte, übernehmen solle.
»Natürlich sind es die Zähne,« antwortete er daher, »dabei leiden die Kinder immer ein wenig; aber, verehrte gnädige Frau, es zeigt sich kein Symptom, das Sie beunruhigen dürfte.«
»Meinen Sie, Herr Doktor?« bemerkte die Irre (der Leser wird in ihr schon Lydia, du Portails Mündel, erkannt haben); »aber sehen Sie doch seine elenden kleinen Ärmchen an, wie dünn sie geworden sind.«
Und die Nadeln aus den Windeln herausziehend zeigte sie Cérizet ein Paket Flicken, das für die arme Irrsinnige ein schönes weißes und rosiges Kind darstellte.
»Aber nein, aber nein,« sagte Cérizet, »es ist ein bißchen abgemagert, aber das Fleisch ist fest und das Aussehen vorzüglich.«
»Mein armes Süßes!« sagte Lydia und küßte ihr Traumgebilde leidenschaftlich; »ich finde es wirklich seit heute morgen besser. Was soll ich ihm geben, lieber Doktor? Milchbrei mag es nicht und fette Bouillon auch nicht.«
»Dann geben Sie ihm etwas Brotsuppe. Liebt es Süßigkeiten?«
»Oh,« sagte die Irre, und ihr Gesicht verklärte sich, »leidenschaftlich; würde etwas Schokolade ihm gut sein?«
»Sicher,« sagte Cérizet, »aber keine mit Vanille, die erhitzt.«
»Also das, was man Gesundheitsschokolade nennt,« sagte Lydia, wie eine Familienmutter, die auf den Arzt wie auf einen Gott hört, der sie beruhigt. »Lieber Onkel,« wandte sie sich an du Portail, »klingeln Sie doch nach Bruneau, daß er mir gleich ein paar Pfund von Marquis holt.«
»Bruneau ist eben weggegangen,« erwiderte der Rentier; »aber es eilt ja nicht, er wird es im Laufe des Tages besorgen.«
»Sehen Sie, es schläft schon ein,« sagte Cérizet, der der Szene gern ein Ende gemacht hätte, die ihm trotz seiner harten Haut ein bißchen peinlich war.
»Richtig,« sagte die Irre, stand auf und brachte die Windeln in Ordnung, »ich werde es schlafen legen. Adieu, lieber Doktor, es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie auch manchmal, ohne daß wir Sie holen lassen, herkommen; wenn Sie wüßten, wie unglücklich so eine arme Mutter ist, und wie man sie mit ein paar Worten aufrichten kann! . . . Ach, jetzt schreit es wieder . . .«
»Es ist ganz einfach übermüdet,« sagte Cérizet; »in der Wiege wird ihm schon wohler werden.«
»Ich werde ihm die Sonate von Beethoven vorspielen, die mein Väterchen so sehr liebte; es ist wunderbar, wie das beruhigt. Adieu, Doktor,« sagte sie nochmals, auf der Schwelle stehen bleibend, »adieu, mein guter Doktor!«
Und sie warf ihm eine Kußhand zu.
Cérizet war ganz erschüttert.
»Sie sehen,« sagte du Portail, »was das für ein Engel ist; niemals eine häßliche Bemerkung, niemals ein böses Wort. Manchmal ist sie traurig, aber immer nur infolge mütterlicher Sorgen; das hat den Ärzten die Überzeugung beigebracht, daß, wenn die Wirklichkeit an Stelle ihrer dauernden Halluzination tritt, sie wieder zu Verstand kommen würde. Nun wissen Sie jedenfalls, was dieser törichte la Peyrade zurückweist, noch dazu mit einer großartigen Mitgift! Aber er muß dazu gebracht werden, oder ich will nicht mehr du Portail heißen. Hören Sie,« fuhr er fort, als jetzt Klavierakkorde erklangen, »was sie für ein Talent besitzt! Es gibt hunderttausend Frauen mit gesunden Sinnen, die an diese Irre nicht heranreichen und die auch nur scheinbar vernünftiger sind.«
Als die Beethovensche Sonate beendet war, die mit so seelenvoller Meisterschaft gespielt wurde, daß sie den Gerichtssekretär mit Bewunderung erfüllte, sagte er:
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, mein Herr, la Peyrade verschmäht einen Engel, einen Schatz, eine Perle, und wenn ich an seiner Stelle wäre . . . Aber wir werden ihn schon gefügig machen. Von jetzt ab will ich Ihnen nicht nur mit Eifer, sondern mit Leidenschaft, mit Fanatismus dienen.«
Als Cérizet diesen Treuschwur geleistet hatte, vernahm er außerhalb des Zimmers, in dem ihn du Portail empfangen hatte, eine weibliche Stimme, die nicht die Lydias war.
»Ist der verehrte Herr Kommandeur in seinem Arbeitszimmer?« fragte diese Stimme mit leichtem fremdländischem Akzent.
»Ja, gnädige Frau; aber nehmen Sie gefälligst im Salon Platz, der Herr ist nicht allein, ich werde ihn benachrichtigen.«
Das war die Stimme Kates, der alten holländischen Gouvernante.
»Bitte, gehen Sie hier durch,« sagte du Portail schnell.
Und er öffnete ihm eine Nebentür, die durch einen dunklen Korridor direkt zur Treppe führte.
Der Artikel, mit dem eine neue Zeitungsredaktion zum erstenmal zu dem Publikum in Beziehungen tritt, »ihr Glaubensbekenntnis«, wie man sich fachmännisch ausdrückt, ist immer eine mühselige, schwere Entbindung. In diesem besondern Falle war es gleichzeitig erforderlich, die Kandidatur Thuillier, wenn auch noch nicht aufzustellen, so doch wenigstens vorzubereiten. Über den Text dieses Manifestes, nachdem es la Peyrade redigiert hatte, wurde daher sehr lange diskutiert. Die Debatte fand in Cérizets Gegenwart statt, der auf du Portails Rat die Redakteurstelle angenommen hatte; die Kaution hatte er aber jedenfalls noch nicht gestellt, indem er sich den Aufschub zunutze machte, den die Behörde bei einem Besitzwechsel üblicherweise für die Erfüllung dieser Vorschrift gewährt.
In geschickter Weise von dem Oberschurken geschürt, der von Anfang an Thuillier zu schmeicheln verstand, wurde diese Diskussion mehrmals stürmisch und scharf; aber da nach dem Gesellschaftsvertrage la Peyrade in allen Redaktionsangelegenheiten das letzte Wort gelassen war, so ordnete er schließlich an, daß der Artikel, so wie er ihn geschrieben hatte, in die Druckerei ging.
Thuillier war genötigt, sich dem, was er einen Mißbrauch der Macht nannte, zu fügen, und als er sich am nächsten Tage mit Cérizet allein sah und sich beeilte, in den Busen des getreuen Redakteurs seinen bitteren Schmerz auszuschütten, bot sich diesem eine günstige, von selbst gegebene Gelegenheit dar, ihm die verleumderischen Eröffnungen, die er mit dem Manne aus der Rue Honoré-Chevalier ausgeheckt hatte, zu machen.
Die Einflüsterung wurde mit einer Kunst und in einer Form vollzogen, daß auch ein viel gescheuterer Mensch als Thuillier getäuscht worden wäre. Cérizet tat sehr besorgt um die Geheimhaltung dessen, was ihm nur sein hingebender Eifer und eine gewisse Sympathie für den »hervorragenden Geist und Charakter«, der ihm »von Anfang an bei Thuillier imponiert hätte,« entlockt habe. Dieser beruhigte den Verräter und versprach ihm, daß er in keiner Weise in die Auseinandersetzung, die sein Geständnis herbeiführen könnte, hineingezogen werden würde. Es würde so aussehen, als ob Thuillier von anderer Seite informiert worden wäre, und nötigen Falls würde er den Verdacht auf Dutocq lenken. Cérizet ließ den Pfeil in der Wunde stecken und entfernte sich, um einige erforderliche Dispositionen bezüglich der definitiven Regelung der Kautionsangelegenheit zu treffen.
Die Szene hatte sich im Bureau der Zeitung abgespielt. Seit ihrem Ankauf erschien Thuillier hier stets zwei Stunden früher als nötig war, verbrachte den ganzen Tag daselbst und ermüdete alle Leute mit seinem geschäftigen Nichtstun; Abends kam er wieder hin und hätte beinahe dort geschlafen; und in den kurzen Augenblicken, wo er sich bei den Seinigen sehen ließ, beklagte er sich über die Menge seiner mannigfachen Beschäftigungen und jammerte so, daß man fürchten mußte, er würde unter der Last erliegen und schließlich seine Gesundheit aufs Spiel setzen.
Gemartert von der fürchterlichen Enthüllung, vermochte Thuillier nicht, noch länger dazubleiben; er fühlte das Bedürfnis, sein Herz auszuschütten und sich über die Haltung auszusprechen, die ihm durch eine so teuflische Aufklärung vorgeschrieben wurde. Er ließ sich also einen Wagen holen und eine Viertelstunde später hatte er alles seiner Egeria, das heißt Brigitte, seiner vielgeliebten Schwester, anvertraut.
Brigitte hatte sich sehr energisch gegen alle Maßnahmen ausgesprochen, die Thuillier in diesen letzten Tagen getroffen hatte. Auf keinen Fall, selbst nicht im Interesse der Wahl, wollte sie, daß man mit la Peyrade wieder anknüpfe. Sie fühlte sich ihm gegenüber im Unrecht: Grund genug, ihm böse zu sein. Dazu kam, falls dieser Intrigant, wie sie ihn nannte, Céleste heiraten würde, die Besorgnis, daß ihre Autorität dabei leiden könnte, und diese Angst verlieh ihr eine Art zweiten Gesichts, das sie die dunklen Charakterseiten des Provenzalen erkennen und sie schließlich erklären ließ, daß sie in keinem Fall und um keinen Preis gemeinsame Wirtschaft mit ihm führen würde.
Von dem Ehrgeiz, gewählt zu werden, verzehrt, hatte sich Thuillier nicht um sie gekümmert; er hoffte, seine Schwester später von ihrem Vorurteil zurückzubringen. Als dann aber die Frage der Zeitung aufs Tapet gebracht wurde, war er bei Brigitte auf einen so lebhaften Widerstand gestoßen, daß sie sich ihm gegenüber sogar zu der bitteren Bemerkung hinreißen ließ:
»Ruiniere dich nur, mein Lieber, du bist ja der Herr; wer dem Teufel den kleinen Finger hinreicht, dem nimmt er die ganze Hand.«
Trotzdem, als Brigitte nach erfolgtem Ankauf wegen mehrerer Einzelheiten bei der Einrichtung um Rat gefragt wurde und sah, daß sie ihr leidenschaftliches Interesse für alles Hauswirtschaftliche betätigen konnte; als sie über zwei Plätze bei den Falzerinnen verfügen konnte; als sie Coffinet, ihren Portier in der Rue-Saint-Dominique zum Bureaudiener machen und ihn wegen dieser Doppelstellung sein Portiersgehalt um zweihundert Franken kürzen konnte; als sie beauftragt wurde, Shirting für die Vorhänge des Redaktionszimmers, Lampen, Kohlenschaufeln und Feuerzangen einzukaufen, und die Weisung erhalten hatte, von Zeit zu Zeit sich von der Reinigung der Tintenfässer, dem Ausfegen der Bureaus und den übrigen, Ordnung und Sauberkeit betreffenden Einzelheiten zu überzeugen – da hatte sich ihre üble Laune erheblich gebessert, und als sie jetzt das Bekenntnis ihres Bruders anhörte, nahm sie es nicht mit Vorwürfen auf, sondern stimmte eine Art Triumphgesang an, mit dem sie die vermutliche Steigerung ihres Einflusses begrüßte.
»Um so besser!« rief sie aus, »nun weiß man doch endlich, daß er ein Spion ist! Ich habe diesen Heuchler immer im Verdacht gehabt! Schmeiß ihn doch ohne weitere Auseinandersetzung hinaus. Wir brauchen ihn nicht für die Zeitung. Dieser Cérizet, der, wie du sagst, ein so tüchtiger Mensch ist, wird uns schon einen andern Redakteur besorgen. Übrigens hat Frau von Godollo, als sie abreiste, versprochen, mir zu schreiben; wenn wir erst in Korrespondenz stehen, wird sie uns ohne Mühe einen empfehlen können! Unsere arme Céleste; der wäre gerade der Richtige für sie!«
»Wie du schon wieder losgehst!« erwiderte Thuillier. »La Peyrade, meine Liebe, ist doch zunächst nur beschuldigt, man muß ihn doch auch erst hören; und dann bindet uns ja ein Vertrag.«
»Ach so, sehr schön!« sagte Brigitte. »Ich sehe schon, wie es kommen wird; du wirst dich wieder einwickeln lassen; einen Vertrag mit einem Spitzel . . . als ob ein Vertrag mit solchen Leuten gelten kann!«
»Ruhig, ruhig, meine gute Brigitte,« entgegnete Thuillier, »wir dürfen uns hier zu keinem Gewaltstreich hinreißen lassen. Ich bin fest entschlossen, falls La Peyrade sich nicht rechtfertigen kann, und zwar klar, bündig und überzeugend, mit ihm zu brechen, und ich werde dir beweisen, daß ich keine feige Memme bin; aber Cérizet selbst ist ja nicht ganz sicher, es sind ja vorläufig bloße Schlußfolgerungen, und ich kam nur, um dich zu fragen, ob ich eine Auseinandersetzung mit ihm herbeiführen soll oder nicht.«
»Darüber kann es keinen Zweifel geben,« sagte Brigitte, »du mußt eine haben und zwar eine gründliche, oder ich verleugne dich als meinen Bruder.«
»Das genügt mir,« sagte Thuillier, der sich mit feierlichem Schritt entfernte, »und du wirst sehen, ob wir in der Lage sind, uns zu verständigen.«
Die Einrichtung des »Echos de la Bièvre« in der Rue Saint-Dominique d'Enfer war vorläufig noch sehr mangelhaft, da sie sehr überstürzt erfolgen mußte; das alte Lokal in der Rue des Noyers in einem überaus elenden Hause hatte sich sofort als unbewohnbar erwiesen, und bei der Aufnahme des Mobiliars, das in dem Kaufvertrage angeführt war, hatte Thuillier eine große Enttäuschung erlebt.
Das Inventarium des Mobiliars ergab folgendes:
Was aber dem Etablissement seinen Stempel aufdrückte und das berühmte Wort Léon de Loras: »die Schuster tragen meistens zerrissene Stiefel« Lügen strafte, das war in einem Schrank des Redaktionsbureaus ein riesiger Vorrat von Lohkuchen größten Kalibers, trockene, feste, widerstandsfähige Lohkuchen, mit einem Wort Ware erster Güte, die bewiesen, daß die Aktionäre die Gründer des Unternehmens gewesen waren.
Nach der ersten Viertelstunde der Enttäuschung über dieses Inventar hatte Thuillier sich überzeugt, daß es vervollständigt werden müsse und sich in einem Kabriolet nach der Rue Chapon begeben.
Am nächsten Tage war der eine Raum der neuen Behausung, an dessen Tür ein Maler die vorschriftsmäßige Aufschrift: »Bureau und Kasse« hatte anbringen müssen, mit einem Verschlage, der in Armeshöhe ein Messinggitter hatte, abgeteilt worden; an beiden Seiten des Schalters, an dem das Geld der Abonnenten angenommen werden sollte, hingen an Stangen Gardinen aus grünem Perkal, die Brigitte besorgt hatte.
In dem Redaktionszimmer, das gleichfalls eine Aufschrift, aber in kleineren Buchstaben, hatte: »Eintritt verboten«, befand sich ein Dutzend Stühle aus Vogelkirschenholz, ein Stehpult und ein länglicher Tisch, noch ohne die grüne Decke, die Fräulein Thuillier bei einem Gelegenheitskauf anzuschaffen übernommen hatte, ein Regal und eine an der Wand hängende Uhr, die wie eine Dorfuhr schlug; endlich vervollständigten noch zwei alte, von Samson, »dem Geographen Seiner Majestät«, gestochene Wandkarten die vorläufig vollkommen genügende Einrichtung.
Schließlich hatte, gerade als Thuillier von seiner Besprechung mit Brigitte zurückkehrte und in das Redaktionszimmer trat, das Lokal seine letzte Weihe erhalten: ein Druckerlehrling brachte ein Ries Briefpapier, das am Kopfe Namen und Adresse des »Echos« trug. Solange nicht ein gedruckter Briefkopf vorhanden ist, kann man von der Existenz einer Zeitung noch nicht sprechen. Der Briefkopf bedeutet gewissermaßen die Taufe für sie: deshalb sind alle Gründer von Journalen bemüht, mit dieser symbolischen Handlung zu beginnen; sie sind immer in Angst, daß ihre Schöpfung sterben könne, ohne die Nottaufe empfangen zu haben.