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Die Politiker, nicht die Dichter, vertraten jetzt die Menschlichkeit, und es schien, als solle das für geraume Zeit so bleiben. Soweit sie aber menschlich sympathisch waren, gehörten diese Politiker der äußersten Linken an, waren sie Kommunisten und Anarchisten, waren sie Barrikadenmänner und als solche verfemt, verfolgt, gehetzt, und man zog ihnen das Fell über die Ohren, wenn man sie erwischte. Sie hielten es mit der Masse und suchten zu ihr einen letzten Rest von Romantik zu flüchten. Verglich man sich mit ihnen – und ein lernbegieriger Schüler tat das –, so war man doch anders. Man stammte aus dem Kleinbürgertum, nicht aus dem Proletariat. Man hatte gegen den kategorischen Imperativ auch mancherlei einzuwenden und nicht damit zurückgehalten. Aber dann war der Erfolg bei dieser Welt gekommen; man hatte sich nobilitiert. Und man hatte, im »Knulp«, den Antibürger energisch wiederbetont; aber es war doch ein Antibürgertum, das Manieren hatte, das die sauberen, wohlgepflegten Stätten liebend umstrich –: man hatte sich nicht völlig zu lösen vermocht. Wer hatte einen auch in der Schule die Klassenkämpfe gelehrt? War die höhere Schule nicht selbst ein Klassen-, ein Bürgerinstitut? Es war doch ein guter Instinkt gewesen, sich ihr zu entziehen.
Und die Philosophie, die Tradition, die auf den höheren Schulen gelehrt wurde: wie stand es damit? Wenn man die eintreffenden Haßbriefe der Studenten las, dann stand da: »Ihre Kunst ist ein neurasthenisch-wollüstiges Wühlen in Schönheit, ist lockende Sirene über dampfenden deutschen Gräbern«; dann trompetete aus diesen Briefen »schmetternde Inbrunst«. Dann hatten die Kant, Fichte und Hegel eine vertrackte Ähnlichkeit mit den Scharnhorst, Blücher und Gneisenau. Vom »Ofterdingen« und vom »Kater Murr«, von den »Nachtwachen des Bonaventura« und von »Walt und Vult«, und wie die auchdeutschen Dichtungen alle hießen, war kaum die Rede. Man konnte es den aufgeregten Briefschreibern nicht einmal übelnehmen; sie hatten es nicht anders gelernt.
Wollte man aufrichtig sein, so mußte man gestehen, daß man selber die Politik stets von der leichten Seite genommen hatte. Hesse hatte zwar 1905 mit Ludwig Thoma und Conrad Haußmann eine freisinnige Zeitschrift redigiert, die gegen das persönliche Regime Wilhelms II. gerichtet war. Aber ein »März« ist noch lange kein Frühling. Und was besagte das höchstpersönliche Regime eines Soldatennarren, was besagte es gegen die Handels- und Finanzkonsortien, die ihre Maschinen ausprobierten und dazu aus Tausenden von Fabriken und Büros das wohldressierte Menschenmaterial bezogen? Die sentimentale, weltfremde Erziehung, die man als Bürgersohn genossen, und auch die humanistische Bildung –: waren sie nicht allerhöchste Staatsabsicht, und trat nicht jetzt ihr Sinn und Zweck hervor? Daß diese Art von Zivilisation und Schule tödlich und ein Schwindel sei, das stand schon in »Camenzind« und »Unterm Rad«. Aber Dichtungen sind keine Handgranaten; sie wirken langsamer oder gar nicht. Bücher galten wohl schon damals nur als Zeitvertreib, weil kein Mensch mehr sich selber ernst nahm. War man nicht ein armer Aff und Hanswurst gewesen, an einen festen Grund in all dem Treiben zu glauben?
Verglich man die eigenen früheren Werke jetzt mit der Wirklichkeit: hatte man, in einer tieferen Region, mit dem »Camenzind« nicht den Muskelkult mehr gefördert als die stille, franziskanische Gebärde? Hatte man im »Diesseits« nicht mit großer Affiche und für solche, die nur die Titel lesen, der Ländergier und dem Genußleben Vorschub geleistet? War die Indienreise nicht als ein entfernter Beitrag zur Vorkriegs-Spionage aufzufassen? Stand in »Roßhalde« nicht, daß die Not das Gebot bricht? Trug »Gertrud« nicht dazu bei, den allgemeinen Rausch und Taumel zu fördern? Nur den kleinen »Lauscher«, nur ihn konnte man nicht mißverstehen. Da war eine Künstlichkeit, die geradezu abstieß; da war eine dunkle, unsympathische Qualwelt, die jedermann auf sich zurückverwies. Ein Glück war es jetzt zu nennen, daß Schmerzen und Qual und sonst nichts, eine ausweglose Angst und ein unentrinnbares Leid zum »Demian« geführt hatten. Nur noch den Schmerzen darf man vertrauen; nur noch der Krankheit vielleicht.
In »Sinclairs Notizbuch« (bei Rascher in Zürich) findet sich ein Teil der nach dem »Demian« geschriebenen Aufsätze. »Der Europäer« (Frühling 1918) ist eines der schönsten und eigenartigsten Stücke dieser Sammlung; es enthält den Extrakt aus Hesses Indienreise und zeigt den Schnittpunkt, in dem sich der »Siddhartha« mit der damaligen Emigrantenpolitik berührt. »Wir Religiöse«, so spricht jetzt Hesse. Das Wir ist neu und, wenn man den »Lauscher« vergleicht, auch das Religiöse; denn damals im »Lauscher« empfindet sich Hesse im Gegensatze zum Religiosus ja ganz als Ästhet. »Das Reich Gottes ist inwendig in euch«, so mahnt ein anderer dieser Sinclair-Aufsätze. Es ist also nicht mehr in der Natur, das Reich Gottes? Es könnte auch dort noch sein. Nachrichten aus Deutschland besagen, daß die Republik bevorsteht. Wenn man sich besinnen wollte, wenn man ernstlich davon durchdrungen wäre, daß »das Äußere nicht nur Gegenstand unserer Wahrnehmung, sondern zugleich Schöpfung unserer Seele ist«; daß »mit der Verwandlung des Äußeren in das Innere, der Welt in das Ich« das Tagen beginnt (es ist, wie man sieht, die expressionistische Formel), dann könnte noch immer ein Wunder geschehen.
»Zarathustras Wiederkehr«, geschrieben Dezember 1918, erschien erst anonym 1919 im Verlag Staempfli zu Bern, dann ein Jahr später auch bei Fischer. Dieser Zarathustra redivivus, der abermals einen Schnittpunkt mit dem »Siddhartha« darstellt, ist Hesses Revolutionsvermächtnis; ein Bekenntnis zur inneren Civitas dei. »Ihr sollet verlernen, andere zu sein, gar nichts zu sein, fremde Stimmen nachzuahmen und fremde Gesichter für die euren zu halten«, so klingt es wie später vor Gowinda. »Liebe Freunde, wäre es nicht gut, ihr besännet euch? Wäre es nicht gut, ihr würdet, wenigstens diesmal, eure Schmerzen mit mehr Ehrfurcht behandeln, mit mehr Neugierde, mit mehr Männlichkeit, mit weniger Kleinkinderangst und Kleinkindergeschrei? Könnte es nicht sein, daß die bitteren Schmerzen Stimmen des Schicksals sind und daß sie süß werden, wenn ihr die Stimme verstehst? Könnte es nicht so sein?«
Es ist die Stimme dessen von Sils-Maria, und es ist bereits auch die Stimme des Siddhartha, die hier spricht. Schon ist seine Lehre von der Illusion der Gegensätze da, und der ganze Tonfall der Einsiedelei und der Skepsis gegen das Tun und die Tat, die aus der Umgebung von Fabrikschornsteinen kommen. »Wohl ihm, der zu leiden weiß! Wohl ihm, der den Zauberstein im Herzen trägt! Zu ihm kommt Schicksal, von ihm kommt Tat!« Es ist der amor fati Nietzsches; die Liebe zum Unabänderlichen ist es, die Zarathustra-Siddhartha predigen. Das Büchlein ist ein Beweis für hohe Freundschaften unter Toten und immer Lebendigen und ist eine schöne Erinnerung an die Geburtszeit der Republik. In keinem neuen deutschen Geschichtsbuch sollte es unerwähnt bleiben. Es ist die rühmlichste politische Dichterleistung jener Jahre.
1919 erschien dann auch der »Demian«, und gleich verdarb man dem Dichter die Freude an seinem Pseudonym. Er hatte das Pseudonym Emil Sinclair gewählt, weil er der Meinung war, man dürfe sich, mit dem Beginn einer so einschneidenden Wandlung, auch einen neuen Namen geben. Den Fontanepreis, der dem Anfänger Emil Sinclair zugefallen war, Hesse gab ihn zurück. Man hatte aber nur sein kleineres Geheimnis aufgedeckt; dem größeren forschte man nicht nach. Ja, es gab Journalisten, die Emil und Upton Sinclair verwechselten. Niemand verfiel auf den Gedanken, zu fragen, wer denn nun eigentlich Emil Sinclair sei und warum Hesse gerade diesen Namen gewählt habe. Wer die Lebensgeschichte des Dichters Hölderlin kennt, dem kann nicht verborgen sein, wer Sinclair ist. Um die Mühe des Nachschlagens zu ersparen: Sinclair ist der innigste Freund und Gönner Hölderlins, und das war Hesse in der Entstehungszeit seines Buches mehr als je, und so nennt er statt seines eigenen Namens als Autor Emil Sinclair.
Ja, und da hierbei von Hesses tieferem Alemannentum die Rede ist, so muß auch von Gottfried Keller noch einmal die Rede sein. Am 10. Juli 1919 feierte man Kellers 100. Geburtstag. Hesse mag in jenen Tagen oftmals jenes Kellerwort erwogen haben, das etwas erinnyenhaft lautet: »Wehe einem jeden, der nicht sein Schicksal an dasjenige der öffentlichen Gemeinschaft bindet!« Wo gab es sie aber noch, diese öffentliche Gemeinschaft? Die kleine ehrbare Kantonspolitik und die holdselige Einordnung der Menschen in solche Gemeinschaft –: mögen sie damals noch möglich gewesen sein; 1919 aber, wen überkam nicht ein irres Gelächter, wenn er das Wort Gemeinschaft hörte? »Mittlerweile«, so schreibt Hesse in einem Gedenkblatt, das er ›Seldwyla im Abendrot‹ betitelt, »mittlerweile ist der europäische Geist zu einem Bankerott gelangt, den wir verschieden beurteilen, nicht aber wegleugnen können.« Es sei oft bitter traurig zu sehen, daß Deutschland seit dreißig Jahren keinen Schriftsteller mehr hatte, dem ein allgemeines Vertrauen, eine echte Liebe weiter Kreise gelte. »Keller war der letzte.« Und nun galt es also, Abschied von ihm zu nehmen. »Unsere Zeit ist eine andere, unser Schicksal ein anderes. Den Glanz der Vollkommenheit über seinen Werken sehen wir jetzt wie ein Abendrot über einem Tage, der nicht mehr der unsere ist. Schicksal hat sich inzwischen vollzogen, im verbrannten Europa ist Seldwyla zur freundlichen Kuriosität geworden.«
Dieser kleine Nachruf in der Vossischen Zeitung ist ein sehr schmerzlicher Abschied für Hesse. Aber es gab noch schmerzlichere. Abschiede genug gab es damals. Gegen das Ende des Krieges löst eine schwere Gemütskrankheit der Gattin des Dichters die letzten Bindungen an Familie und Gesellschaft, auch an die früheste Heimat, an Basel. »Oft schien Hiob mir mein Bruder zu sein«, liest man in »Sinclairs Notizbuch«. Und im »Lebenslaufe« bekennt der Dichter: »Mit dem Ende des Krieges fiel auch die Vollendung meiner Wandlung und die Höhe der Prüfungsleiden zusammen. Diese Leiden hatten mit dem Kriege und dem Weltschicksal nichts mehr zu tun. Ich fand allen Krieg und alle Mordlust der Welt, all ihren Leichtsinn, all ihre rohe Genußsucht, all ihre Feigheit in mir selber wieder, hatte erst die Achtung vor mir selbst, dann die Verachtung meiner selbst zu verlieren, hatte nichts anderes zu tun als den Blick ins Chaos zu Ende zu tun, mit der oft aufglühenden, oft erlöschenden Hoffnung, jenseits des Chaos wieder Natur, wieder Unschuld zu finden.«
Alles scheint sich verschworen zu haben, um den Spielmenschen im Künstler, das ewige Kind, zu verderben. Wo soll, unter stürzenden Trümmern, das Gemüt noch Freude finden, und es ist, nach Fontanes Wort, doch die erste Bedingung, daß der Dichter, wenn er schaffen wolle, fröhlich sei. Wo soll das Harmlose noch zu finden sein, wenn die eigenen Triebe verdächtig geworden, wenn die Gedanken im Wirbel gehen? Was sind jetzt noch die Arien aus Don Giovanni und aus der Zauberflöte? Sind sie nicht ebenfalls Schöntuerei und lächerliches Gestelze? Was bleibt von all den Gesamtausgaben der Dichter; was bleibt von dem Bücherstoß, der erschreckend sein Wachstum nicht einstellt? Was ist noch wahr? Was kann man noch lesen? Was hält im Weltgerichte noch stand?
Es ist jene Zeit, in der die Dichter sich ihre eigenen früheren Lieder vorsingen und das zierliche Bändchen sachte auf den Boden sinken lassen.
Voll von Freunden war mir die Welt, Als mein Leben noch licht war; Nun, da der Nebel fällt, Ist keiner mehr sichtbar. |
Oder das andere:
Ich bin in diesen Mauern Der einzige fremde Mann zur Stund, Es trinkt mein Herz mit Trauern Den Kelch der Sehnsucht bis zum Grund. |
Wer das große Sterben überstanden hat, der beginnt sich der Jugend zu erinnern und wirbt um sie. Und wieder hat man eigentlich alles schon gesagt, und es wäre töricht, es nochmals und nochmals zu sagen. Und der Dichter möchte ein Fenster seiner Stube öffnen, möchte sich auf eine Altane, auf ein Dach stellen; nur rufen möchte er:
Ich grüße euch, die ihr wachet! Euch, die ihr liegt in Not und Leid, Euch, die ihr lärmet und lachet Und die ihr alle meine Brüder seid! |
Es will kein rechtes Echo geben; die Luft scheint keinen Schall mehr zu tragen. Es ist, als sei alle Welt gestorben und zur grauen Mumie verwandelt. Man hat an dem Rufer, an dem sehnsüchtigen armen Teufel, der auf der Straße irrt und ein heimlicher König ist, man hat an ihm, und darauf muß man bestehen, allerlei auszusetzen. Man hat zu beanstanden, daß er kein Führer ist; so ein Führer mit der Trompete und dem großen Mundwerk; so etwas wie ein Possart und Ehrhardt in einem. Und er ist auch kein Erlöser, bitte sehr, und einen Erlöser brauchen wir, der unsere Kräfte entbindet. Und überhaupt, dieser Hermann Hesse kann gar nicht mehr harmonisch dichten, wie früher einmal; so etwas Feines, Sinniges, das man ungestört wieder aus der Hand legen kann.
Und Hesse antwortet darauf in seinem »Lebenslauf« (so sehr ist er verbunden, daß er noch immer antwortet: auf jeden Brief eines fernen Schullehrers, auf jeden Glückwunsch eines verkümmerten Mädchens, auf jeden Anhieb eines öden Studenten): »Die Freunde hatten recht, wenn sie mir vorwarfen, meine Schriften hätten Schönheit und Harmonie verloren. Solche Worte machten mich nur lachen – was ist Schönheit oder Harmonie für den, der zum Tod verurteilt ist, der zwischen einstürzenden Mauern um sein Leben rennt?« Von den drei Aufsätzen, die Hesse damals schreibt und die in der Broschüre »Blick ins Chaos« zuerst im Seldwyla-Verlag in Bern erschienen, ist der erste bezeichnend genug »Die Brüder Karamasow oder der Untergang Europas«.
Das katholische Asien dringt in Hesses bisher nach Ursprung und Blickfeld noch immer sehr protestantisch orientierte Welt ein. Der Untergang Europas war 1919 eine Parole, die sich, von offizieller Seite gefördert, auf den russischen Bolschewismus stützte und das politische Ziel hatte, bei den Friedensverhandlungen und nachfolgenden franco-amerikanischen Debatten die völlige Auflösung der deutschen Militärmacht zu verhindern. In diese Konjunktur geriet auch Spenglers Werk »Der Untergang des Abendlandes«; nur hatte Spengler damals erst versprochen, im zweiten Bande auch Rußland in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Ich will sagen: die Parole vom Untergang des Abendlandes ist sehr deutsch betont; in Frankreich beispielsweise glaubte man damals durchaus nicht an solchen Untergang, in England wohl schon gar nicht, und auch diese kleinen Provinzen gehören zu Europa und zum Abendland.
Aber dies abgerechnet, war es bei Hesse doch anders gemeint als bei Spengler. Hesse sieht den Untergang mehr von innen kommen, aus der Seelentiefe, und das Wort Untergang ist, gemäß seiner Lehre von der Illusion der Gegensätze, bald auch für ihn identisch mit Auferstehung. Was Hesse bei Dostojewski wahrnimmt, ist der Gegensatz zu den Renaissance- und Reformationsidealen. Diese Welt ist dem Untergang überantwortet; und da sie bisher des Dichters tiefste Wurzeln enthielt, scheint ihm innen wie außen alles verloren. Auch bei Dostojewski sind die Gegensätze aufgehoben; seine Psychologie vermag den Verbrecher so gut wie den Heiligen zu begründen. Sie berührt, in einem kaum verhohlenen Anarchismus, den Muttergrund der Dinge, die Welt des ewigen Wahns; jene proteische Welt, in der sich jederzeit alles in alles verwandeln kann.
Es ist der indische Einschlag in Dostojewskis Denken, den Hesse erfühlt und der im »Siddhartha«-Schluß – auch hier ist wieder ein Schnittpunkt – Gestalt gewinnt. Es ist die demiurgische Welt, die zuerst im »Demian« hervortrat und die für Hesse die Aufhebung der Moral, die Befreiung von Gesetz, Staat, Schule, besonders von der Enge der väterlichen Erziehung bedeutet. Die Nachtseite des Lebens soll in die Humanität einbezogen werden. Das bedingt eine andere Einstellung zu den Verdrängungen, als da sind vierter und fünfter Stand, Proleten, Handwerksburschen, Déracinés, Entgleiste, Ausgestoßene; aber auch zu Verbrechen, Korruption, Mord, Diebstahl und Laster. Der humane Kern dieser nach Hesse typisch europäischen Verdrängungen soll gehoben, anerkannt und aufgenommen werden in das neue Weltbild. Das ist die Wiedergeburt und ist die Wurzel einer neuen Kultur, einer neuen Ordnung, einer neuen Moral.
Es ist ein Thema, das sich nicht in zehn, nicht in hundert Debatten erschöpfen läßt. Wichtig scheint mir dabei, daß Hesse mit diesem Aufsatz auch die letzte Schranke seiner protestantisch-deutschen Welt durchbricht. Und bedeutsam scheint mir, daß es Folgerungen aus der Psychoanalyse und dem »Demian« sind, wenn er sich, etwa Nietzsche und dessen zarathustrischer Lichtwelt gegenüber sehr gegensätzlich, mütterlich determiniert zeigt. Die Welt des Unbewußten und die Rückkehr dahin, die Welt des Dostojewskischen »Idioten« wird befürwortet. Und so die Welt auch des Apostels Paulus, den Nietzsche so töricht denunziert hat; jenes Apostels, der die idiotai, die Wiedergeborenen, die »Kindlein«, gegen den alexandrinischen Wissenswust in Bewegung setzt.
Auch dies sei betont, daß Hesse also im »Siddhartha« eine Art Synthese zwischen dem Manne aus Naumburg und dem aus Moskau zu bewirken versucht; daß er beide von Grund aus erlebt hat und ihre Einsichten in die Sprache des indischen Priestersohnes verweht. Es gibt keine Stände, keine Nationen mehr; es soll auch keinen Gegensatz zwischen Europa und Asien mehr geben. In Hesses Buch »Aus Indien« trat dieser Versuch einer Verbrückung zum erstenmal auf. Im Tessin wird Hesse sich mit seinen fortgesetzten religiösen, indischen und chinesischen Studien immer tiefer in dieses Ziel versenken. Sein Werk hat alle europäischen Kasten in sich aufgenommen. Er kennt Mitteleuropa; seine früheren Bücher waren eindringliche Studien auf diesem Gebiet. Nun bleibt nur die eigene Person, das eigene nackte Leben, und in der Übergangszeit die Verantwortung nur vor dem eigenen Traum: vor dem lächelnden, wunden Bild des Menschen; vor einer Vereinigung von Buddha und Christus.
Daß man zart war, daß man sich hat wandeln können und es noch immer kann; daß man nicht erstarrt war, sondern elastisch: dies allein hatte standgehalten. Daß man noch immer am Leben war; daß einem dies Leben doch ab und zu noch eine flüchtige Begegnung und Freude brachte; daß einem noch das eigene Lied und Leid gefallen konnte –: dies war ein Trost und enthielt eine Aufforderung zu neuer Neugier, zu neuem Weiterdringen. Und daß man noch immer den Ruf in sich fühlte und eine neue Sehnsucht empfand; daß man noch immer auf Wanderung und unterwegs war; daß die endgültige Heimat noch nicht gefunden, noch nicht sichtbar und Bild geworden war; daß man sich das Gefühl bewahrt hatte, noch nicht angekommen, noch nicht endgültig gelandet zu sein –: dies war ein weiteres Stimulans und eine Hoffnung.
Schon während des Krieges hatte Hesse ab und zu, wie alle, die damals in der Schweiz als in einem großen Sanatorium lebten, den sonnigen Park dieses Landes, den Tessin, aufgesucht. Hier gefiel es dem Dichter; hierher war der Krieg nur als fernes Echo gedrungen. Das Ländchen war wundervoll leer von Ausländern, die alle geflüchtet waren. Die Hotellerie stand leer; es gab noch nicht so verdammt viele Autos wie sieben Jahre später zur Steppenwolf-Zeit. Hier, am Südabhang des Gotthard, gab es auch klimatisch eine Art Ausgleich zwischen Island und Indien: ein wenig mehr Sonne als anderswo, eine Schale leichten Nostrano, un po' di pane e formaggio. Die Vegetation subtropisch: es wuchsen da Schlangen- und Perückenbäume, Korkeichen und andere Seltsamkeiten. Es gab Berge, die wie Zuckerhüte aussahen; Weingärten, Eidechsen und blaue Seen.
Hier würde sich leben lassen. Hier könnte man sich wiederfinden und die Fieberkurve des im Norden Erlebten auf ihr Maß zurückführen. Hier würde man sich geborgen fühlen. Und Hesse, der 1919 nach Friedensschluß seiner belletristischen Verpflichtungen überhoben ist, entschließt sich, Woltereck sein »Vivos voco« in Bern allein weiterrufen zu lassen und sich im grünen Tessin ein Sonnenbad von unbegrenzter Dauer zu gönnen.