Hugo Ball
Hermann Hesse
Hugo Ball

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Auch in mehr privaten Dingen unterscheidet sich Hesse von seinem Nachbarn gar sehr. Auch da ist er tiefer, stiller, zäher. Seine Ehe könnte ihm eine Freundschaft nicht kürzen. Darin ist Finckh anders. Er wird sich als ein geborener »Kindermensch« ganz in seine Familie einbuddeln und mehr und mehr den Freund als entbehrlich empfinden. Die Freundschaft aber gehört zu den Grundzügen von Hesses Wesen; zu seinem Kern, zu seinen Lebensbedingungen. Darin besonders ist er Romantiker und noch aus jener Garde, zu der Jean Paul, Grillparzer, Mörike und andere zählen. Darin ist er am wenigsten modern. Die Freundschaft spielt in allen seinen Romanen die größte Rolle. »Leibgeber« ist auch für Hesse der Freund. Von der Ich-Spiegelung im »Lauscher« angefangen bis zu der dreifachen Spaltung Hesse-Sinclair-Demian oder der gar vierfachen Hesse-Klingsor-Thu Fu-Litaipe, ist der Dichter an die ritterliche Kumpanei, den festlichen Enthusiasmus der Ideale, ist er an die männliche, heroische, erzieherische Freundesliebe so sehr gebunden, daß er dazu neigt, die hohen Seelenbünde bis zum »Stummen« und zum »Bruder Tod« zu fingieren, wenn sie das Leben ihm versagt.

Vollends verschieden ist die Stellung zur Gattin. Finckh ist ein prächtiger Familienvater, ein immergrüner Weihnachtsmann und St. Nikolaus. So zeigt ihn die Festgabe zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Hesse dagegen fühlt sich alt in der Jugend und jung im Alter. Er wird immer Außenseiter und Gast sein, auch zu Hause bei sich. Er ist wenig geeignet für Momentaufnahmen im Kreise der Kindertrompeten und in der Hecke bei sanft anlehnender Gattin. Er hat seine Launen und Marotten, seine Kopfschmerzen, sein geistiges Fieber, und die Familie kommt ihm dann in die Quere, wird ihm lästig. Die Steuerzettel und Katasterämter, das tägliche Plätschern der Gespräche verstimmen ihn; ja machen ihn krank. Er beneidet die Glückskinder, die die häusliche Art von Lebensnähe und Wirklichkeit ertragen, ja sich darin wohlig und warm fühlen können; ihm selbst gelingt dies nicht. Er hat am despotischen Vaterregime vergangener Zeiten gelitten und ist darum der Mutter ritterlich verbunden. Das Bild des Freundes, der ähnlich gelitten hat, rückt bei ihm vor das Bild der Frau und Gesponsin; in der Ehe wird er mit ihr um die Seele seiner Kinder kämpfen.

»Roßhalde«, Hesses Eheroman, ist dessen ein Beweis. Die Spannung zwischen Frau und Mann ist ein unüberbrückbarer Zwiespalt zwischen Sein und Werden, zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Harmonie und Dissonanz. Hesse beobachtet nicht weniger scharf als Strindberg das Theater der Eifersüchte und der Verfolgung, der Haßgefühle und ausgespielten Trümpfe; aber er teilt nur die Resultate, die Jahressumme der lautlosen Kämpfe mit. Und dann fällt (in »Iris«) ein gewichtiges Wort mit in die Waagschale: der Zauber der Frau, ihre Verbundenheit mit dem Muttertum als Urbild und ewigem Symbol. Der Mann, mit dem das Leben immer von vorne und neu beginnt, hat diesem Zauber nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen; er bleibt immer eigensinniges, wehrloses Kind. Der Mutterzauber ist eine Macht gleich der Musik, die auf gestuftem Wissen der Generationen beruht, und ist eine Daseinsfülle, die den Mann im Walde seiner eigenen Erinnerungen und Kinderträume verschlingt und erdrosselt.

Nur der Freund vermag da zu helfen, zu lösen. Mit Vorsicht und Scheu wird er eingeweiht; aber nachdem es geschehen ist, hat er Macht, und der Zauber ist zur Hälfte bereits gebrochen. Der Freund steht der hellen, der Lichtseele und aller Seelensehnsucht nahe. Er ist der Geliebte fast; denn die Seele des Romantikers ist selbst eine Frau; sie ist besessen vom Bilde der Mutter, von allen Anfängen. Sie ist selbst die Mutter. In einer Romantiker-, einer Künstlerehe kämpfen stets zwei Mütter um das Kind. Darum kann Hesse in Gelegenheitsnotizen schreiben: »In Gaienhofen bekam ich meine drei Söhne«, statt: »In Gaienhofen wurden meine drei Söhne geboren.« Der Einfluß des Freundes, der das Geheimnis kennt, geht selbst über die Bindung durch Wort und Versprechen; denn Wort und Versprechen sind einer Zauberin, einer Armida gegeben. Und dies ist das böse Dilemma: soweit die Gattin im Traumbild der Mutter aufgeht, bringt sie Verschuldung und Qual; soweit sie aber von diesem Traumbilde verschieden ist, gehört sie einer fremden, feindlichen Welt an; ist sie von außen dazugekommen. Dann hat sie ihre eigene, in sich geschlossene, unzugängliche Welt. Dann ist sie nicht in den Anfängen, mit denen der Romantiker täglich kämpft; ist nicht ein Stück von ihm und ein Teil seines innigen Wesens.

Aus ähnlichem Grund sind die Jünglinge in Hesses früheren Büchern meist unglückliche Liebhaber (so besonders in »Knulp«, wo das ganze Vagantenleben aus einer mißglückten Jugendliebe hergeleitet wird). Diese Jünglinge haben kein Glück mit den Frauen. Sie sind hagestolz und versunken, sie sind narzißtisch an tauchende Schwäne und kühlende Sterne verloren. Sie stellen die Frau auf das Piedestal von Heiligen und unnahbaren Göttinnen; auf die entrückte Höhe der eigenen Mutter. »Ich ging mit Frauen um wie mit Freunden«, heißt es in »Gertrud«, und »Gertrud« ist gerade derjenige Roman, der das Schwanken des Künstlers zwischen Gral und Begehren, zwischen himmlischer und irdischer Liebe darstellt. Diese Jünglinge wollen von ihren Freundinnen getröstet, geleitet, betreut, genommen sein, und empfinden das verliebte Wesen doch als Absurdität und Irrtum. Sie haben Hemmungen und versagen, die Liebe gelingt ihnen nicht. Sie verlangen zu wenig und erwarten zu viel; ja sie empfinden alle Skrupel und bösen Sensationen eines Vergehens, einer Verlockung zu Dieberei und Verbrechen. Es ist nicht nur ländliche Verlegenheit. Es ist eine Glut, die ihnen die Sprache verschlägt, und ein Mitklingen von widerstrebenden dunklen Erinnerungen.

Man sieht: das Leben am Bodensee, in seiner bewußten Kulturferne, hat doch Format. Es entspricht einer damals beginnenden allgemeineren Neigung, der Großstadt und der Zivilisation zu entgehen. Man möchte, in der Südsee, in den Wäldern Kanadas oder in Lappland, die robuste Gesundheit des Primitiven und möchte, in all der Kulturwirrnis, die unverwirrbaren Urbilder wiederfinden. In dieser Bodensee-Zeit entsteht ein kleines Prosastück »Der Brunnen im Maulbronner Kreuzgang«, und es ist eine tiefe Erinnerung: »Lied meiner Jugend! Kein Ton der Welt sprach so zu mir wie du, und dich hatte ich vergessen können!« Und man lauscht, und der Liedbrunnen rauscht gar vielfältig in Hesses Büchern. Viele Brüder und Urbilder hat er gehabt; er ist oft und gut belauscht worden. So nur ist es möglich, daß das »kleine Abtsbrünnlein« im »Knulp«, das »noch immer geheimnisvoll wie vor all den verflossenen Jahren im Erdgeschoß eines uralten Hauses entsprang und in der seltsam klaren Dämmerung seiner Quellstube zwischen den Steinplatten rauschte« –, daß dieses Abtsbrünnlein zu einem Bilde des mystischen Lebens selber wird.

Und es entsteht jene vielgedruckte Probe Hessescher Prosa, die kleine Erzählung »Der Wolf«, als ein frühestes Auftauchen des Steppenwolf-Motivs. Drei Wölfe im französischen Jura haben sich aus ihrer Einsamkeit aufgemacht und fallen, vom Hunger getrieben, in die Ställe der Bauern von St. Imer. Zwei werden erschlagen, der dritte entkommt verwundet über den Schnee auf den Berg Chasseral, wo eben der rote Mond aufgeht. Der Flüchtling wird von den Bauern, die seiner Blutspur folgen, umstellt und ebenfalls erschlagen. Vorher aber sitzt er, abgetrieben und traurig, auf der Höhe des verschneiten Berges, in Not und Einsamkeit, fühlt den Tod herankommen und sieht so den roten Mond aufgehen. Des Dichters Sympathie ist bei dem schönen, gehetzten Tier, wie sie später im »Kurgast« bei den beiden Mardern ist, die mit so leichten und behenden Sprüngen zwischen all dem Krankengetue ihren Käfig durchmessen. Die Brutalität der Verfolger spiegelt sich im Weh der erliegenden Kreatur. »Keiner«, sagt der Dichter von den Menschen, »sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch den roten Mond.«

Jene Zurückgezogenheit von Gaienhofen, jener Verzicht auf die »modernen Ideen«, auf Philanthropie und soziale Fragen, auf Marx und Bakunin und Großstadtelend und Kokottenwesen –: all dies begünstigt eine Versunkenheit in die Natur; ein Praktizieren und Ausbauen der »Camenzind«-Parole. Ein Ideen-Studium, wenn auch kein intellektuelles, ist schließlich auch das abgesonderte Sicheinträumen in diejenigen Bilder, die eine geistige Tragkraft haben. Ein Ideen-Studium ist auch das Sublimieren einiger weniger Urphänomene nach Goethescher Art. Die Sprachbilder werden immer mehr isoliert, immer mehr von Ballast gereinigt, bis sie von selbst zu atmen und auszuströmen beginnen. So müht sich der Dichter Han Fook in Hesses »Märchen« mit dem Umriß der Erscheinung; so dreht und wendet, durchleuchtet und glüht er die Bilder aus, bis schließlich der Spiegel lebendiger, echter ist als die Wirklichkeit. Und so vergißt man es nicht mehr, wenn Hesse in einer Reiseskizze vom Gotthard (im »Bilderbuch« unter »Verschiedenes«) die ganze Erzählung so vorbereitet und aufbaut, daß das einsame Flügelspiel eines kreisenden Steinadlers zum unerhört stummen, fernen und majestätischen Schauspiel der Dichterseele selbst wird. Wort, Dichter und Gegenstand werden identisch und erlangen so jenes Gewicht und jene Fülle wieder, die das entwertete heutige Leben nicht mehr besitzt.

Hesse bringt für solche Naturbeobachtung, für solche ideographische Kunst von Haus aus eine besondere Schule und Eignung mit. Er ist schon in frühester Kindheit, und mit welch unerbittlicher Strenge, gewöhnt worden, jede kleinste Verrichtung, jedes aufsteigende Gefühl und auch die alltäglichste Wahrnehmung ununterbrochen auf einen jenseitigen Sinn, auf den Endzweck menschlichen Bemühens, auf eine letzte zarte Verantwortung, auf das »Gericht des Lammes« hin, wenn ich so sagen darf, zu bewachen, zu kontrollieren. So bestimmen die Farbspiele und Formglieder von Faltern und Blumen seine Wortwahl, seine Syntax. Es duftet von Früchten, auf die hundertzwanzig Mal an wohlgezählten Tagen die Sonne fiel. Es flutet ein Wein, der grün im Geäste hing manche geängstigte Mondnacht. Es ist da ein Wissen, das unterdrückt wird, und doch fällt es ein. Gottfried Keller soll bestritten haben, daß die Poesie aus der Religion hervorging. Ich möchte aber sehen, wo die Dichter bleiben, wenn die Sakramente fallen.

Will man das Gaienhofener Leben auf einen Nenner bringen, so könnte man sagen: was die alemannischen Freunde dort suchen, das ist ein gleichwohl sehr christlich gefärbtes Heidentum; eine Konkordanz von Natur und Frömmigkeit; eine Oberhoheit der weit geöffneten wachsamen Augen über die Bilder ringsum. Von diesem »Kult der Sinne« ist nur das Frauenbild ausgenommen, und darin sind die romantischen Schwaben sehr anders geartet als etwa die Anakreontiker und die Leute der Rokokozeit; bei denen war es gerade umgekehrt. Das Bild der Frau wird nicht mit derselben Energie, mit derselben nüchternen Strenge erfahren wie etwa eine Pflanze, ein Tier. Auch die eigene Person nicht; die Abneigung gegen Menschen betrifft auch das eigene Selbst. Man läßt zwar die Kinder nicht taufen, die Ehe nicht segnen; das menschliche Urbild gilt vom natürlichen nicht als verschieden. Aber man ist in Dingen, die das kreatürliche Leben der Frau betreffen, weit entfernt von der Realistik etwa des Mittelalters. In diesem Punkte ist man nicht homerisch; nicht heidnisch. In diesem Punkte ist man Illusionist und gleicht man ein wenig dem Manne im Mond, der seine Reinheit versichert.

Man lese Finckhs »Rosendoktor«, wo der Liebhaber treuherzig vor der eigenen Zimmertür schläft, während die Geliebte, die ihn aufgesucht hat, sein Bett hütet (für Goethe und gar für Cervantes und Boccaccio ein Schwank; für Stendhal eine Erklärung der darauffolgenden Entfremdung und Hysterie; für Strindberg ein metaphysisches Grauen, für Wedekind eine Grimasse). Doch man vergleiche auch Hesse (»Schön ist die Jugend«, »Cyklon«), wo ein hereinbrechender Hagelsturm und heftige Leidenschaft zugleich einem Jungen das Mädchen in die Arme treiben. Sie preßt sich liebkosend an ihn, während die Umwelt tobt; der Sturm macht sie kühn. Der Dichter will zeigen, wie dieser doppelte Orkan die bisherige Landschaft zertrümmert und die ersten Knabenjahre mit all den vertrauten äußeren Bildern begräbt. Der Jüngling, halb schon in den Sturz gerissen, findet sich mit folgenden Worten: »Mein Blut war stiller geworden, und ich litt Qualen der Scham darüber, diese da zu meinen Füßen knien zu sehen, welcher ich nicht gewillt war, meine Jugend und meinen Stolz hinzugeben.« Man kann sagen: das ist der Gipfel der Zartheit; es genügt der Versuch der Verführung, um die Knabenjahre versinken zu lassen. Man könnte indessen auch sagen, daß Hesse kaum ein zweites Mal einen so wackligen Satz geschrieben und daß bei Grillparzer solche Art der Verhaltenheit zu jener Perversion führt, die ihn in seinen Tagebüchern das Verhältnis zu seiner »ewigen Braut« bewußt als Quälerei genießen läßt.

Das Heidentum der beiden Dichter ist kein vollkommenes, und das ist schön und lieb. Aber von Harmonie im eigentlichen Sinne kann man dabei nicht sprechen. Jene »bürgerliche Epoche« in Hesses Leben war vielleicht die von der Harmonie entfernteste. In jedem geborenen Epiker steckt ein gut Teil vom Schauspieler und Sophisten. Das war bei Hesses damaligen Mustern, bei Goethe und Keller, so, die beide eine heftige Neigung zur Bühne empfanden. Das war bei Mörike nicht anders, und selbst ein so verwöhnter Geist wie Herman Bang hat dem Theater seinen Tribut gebracht; sogar dem Vorstadt- und Wandertheater. Auch bei Hesse ist die mimische Veranlagung durchaus vorhanden, wenn auch sehr zurückgedrängt, sehr unter Zwang gehalten. Um nicht mißverstanden zu werden: ich meine jene Fähigkeit und Begabung, die Dinge und die Erlebnisse von mehreren Seiten zu sehen, und meine jenen Reichtum einer Verwandlungskraft, die immer neue Gestaltungen und Inkarnationen eingeht und ihren Inhalt wieder an sich zieht, um andere Verkörperungen aufzustellen. Hesse dichtet im »Lauscher«:

Das ist mein Leid, daß ich in allzuvielen
Bemalten Masken allzugut zu spielen
Und mich und andre allzugut
Zu täuschen lernte. Keine leise Regung
Zuckt in mir auf und keines Lieds Bewegung,
In der nicht Spiel und Absicht ruht.

Solche Begabung, meine ich, ist der Harmonie nicht günstig.

Dazu aber kommt noch etwas anderes. Der Dichter, abgezogen und aufgezehrt von der Suche nach Ideogrammen und Zeichen, scheint zeitweise das ihn leitende Thema verloren zu haben. Heute ergibt sich der Sinn seines Gaienhofener Aufenthaltes; damals aber war er Hesse kaum ersichtlich. Harmonisch könnte man sein, wenn man die eigenen Konflikte zu Gesicht und in Distanz bekäme; wenn man lebendigen Anteil hätte an den Konflikten der andern. Aber weder die einen noch die andern treten greifbar hervor. Alle Welt lebt ein Mimikry, eine Anpassung, ein Provisorium. Die wilhelminische Ära und der moderne Mechanismus haben dem Leben eine Zwangsjacke und einen Panzer angelegt. Den Brunnen der schönen Lau verschließt ein solider Deckel aus Zement. Bevor jener Panzer zerstört und dieser Deckel gehoben ist; bevor die verschnürte Gestalt des Menschen sich wieder zu regen vermag –: was sollte einer von sich selber zu Gesicht bekommen, da er sich nicht vergleichen kann?

»Aus lauter innerer Not« tritt Hesse 1911 eine Reise nach Indien an. Es ist merkwürdig genug: er selbst scheint im unklaren, weshalb er reist. Die Exotik lockt ihn nicht. Der Bodensee gibt ihm alles, wessen er an Natur bedarf. Die Szenerien und die Kulte dort in Sumatra, Hinterindien und Ceylon enttäuschen ihn, da er sie sieht. Das europäische Maß ist ihm so tief eingesenkt, daß es durch die bizarren Architekturen nicht verrückt werden kann. In Kandy fällt ihm vor einem buddhistischen Felsentempel unwillkürlich Assisi ein, »wo in der großen, leerstehenden Oberkirche Giottos Franzlegenden die Wände bedecken«. Er sieht einen riesigen liegenden Buddha, und sogleich ist auch die kleine gotische Kapelle eines elsässischen Dorfes da, wo im halben Lichte ein riesengroßer, geschnitzter Christus schwebt, »am Kreuz mit roten, grimmigen Wunden und mit blutiger Stirn«. In einem »Singapur-Traum« lächelt das goldene Bildnis Buddhas des Vollendeten, und wieder lächelt es, und »es war das reife, schmerzliche Lächeln des Heilands«. Es klingt wie in der pädagogischen Provinz der Goetheschen Wanderjahre, wo der Dichter den Mann am Kreuze ebenfalls sehr wohl kennt, aber ihn nur hinter Schleiern, nur als Geheimkult, nur als Idol für Eingeweihte will gelten lassen.

Warum also trat Hesse diese Reise an? Vielleicht, um die Heimat seiner Mutter zu sehen. Vielleicht, um die indischen Träume seines Vaterhauses zu widerlegen. Vielleicht, um die letzte quälende Bindung an Vater und Mutter zu lösen; denn all deren Gedanken und Träume gingen ja um das Wunderland. Vielleicht auch empfindet der Dichter ein indisches Traumleiden als Ursache der Dissonanzen in seiner Ehe. Vielleicht hofft er, einer Zerrissenheit ledig zu werden und geheilt vom Alpdruck seiner Beängstigungen zurückzukehren.

Manche Einzelheit seines Buches »Aus Indien« deutet darauf hin, daß er müde reist und enttäuscht zurückkommt. Indien hat ihn nicht befreit. Die Tropen haben seinen Gesichtskreis erweitert, seine Fassungskraft gestählt. Er hat versunkene Kindheitsbilder aufgefrischt und einen Einblick gewonnen, der ihn die europäischen Händel in größerem Abstand erblicken läßt. Die Reise aber hat ihn nicht befreit; ihn persönlich nicht weitergebracht. Im »Singapur-Traum« hält sich eine bittere Ironie an den schwäbischen Theologen schadlos, die sie von Kulis gewalkt und geprellt werden läßt. In der Novelle »Robert Aghion« zeigt er die unschuldige Seele eines Missionskandidaten, der mit dem Schmetterlingsnetz in Bombay ankommt, durch die indischen Wirklichkeiten aber bald bekehrt, das heißt seinem frommen Berufe völlig entfremdet wird. Der schwärmerische Indienkult aus dem Elternhaus ist dem Dichter zerstoben. Er hat den Zauber des Vaters und auch der Mutter geprüft und an sich gebracht. Nur freier ist er nicht geworden. Nur wird er jetzt doppelt die Enge und seine Verstrickung empfinden.


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