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Es ist für den Dichter Hesse charakteristisch, daß er jeden Schritt seines Lebens dokumentiert hat; ja daß sein literarisches und poetisches Werk nur aus den Schritten, Beobachtungen und Erfahrungen der eigenen Person schöpft. Man kann darin einen ungewöhnlich entwickelten Narzißmus erblicken, aber auch ein ebenso ungewöhnlich entwickeltes Bedürfnis, sich und der Umwelt Rechenschaft abzulegen. Man mag von Selbstbehauptung und Lyrismus sprechen oder die eigensinnige Gebundenheit dieses Dichters an die Bedürfnisse seines Ichs bemäkeln und es bedauerlich finden, daß er sich nicht lässiger den modernen Interessen aufschließt, den Ansprüchen des »Lebens, wie es nun einmal ist«. Man mag besorgen, daß er, mit seinem trotzigen Selbst beschäftigt, den Anschluß an die Schnellfahrt der zeitgenössischen Manieren verabsäumt; daß er über dem Drechseln eines Wortes und Satzes, über dem Versinken in ein Bild und einen Pinselstrich den mancherlei Pflichten, Aufgaben, Sorgen und Wünschen eines anstelligen Staatsbürgers nicht gerecht zu werden vermag. All diese Einwände und Beanstandungen mögen richtig sein –: es wird gleichwohl wenig nützen, sie vorzubringen. Es ist immer mit ihm so gewesen, und es wird wohl mit ihm auch so bleiben.
Besagtes Schöpfen des Dichters Hesse aus den alleinigen Umständen seiner Person ist es nun andererseits, was bei ihm ganz ungewöhnliche Erscheinungen zur Folge hat. Um nur einige davon zu nennen: man wird nicht leicht im Umkreise der heutigen Literatur einen Dichter finden, der über sich selbst und die Dinge, mit denen er zu tun hat, so genau Bescheid weiß. Ferner: man wird keinen anderen Dichter nachweisen können, bei dem die ihn beschäftigenden Bilder, die Wahl seiner Worte und Wege so wohlüberlegt, was sage ich, aus einer so langsamen Erwägung, aus einer solchen Fülle der eigenen Kenntnis und des »Stoffes« entspringen, wie ebenfalls bei ihm. Man lese aus den späteren Werken Hesses einen kleinen Passus und vergleiche ihn mit einem beliebigen Vorbild, um zu erstaunen über das spezifische Gewicht der Sprache. Es ist eine ausgetragene, reife Sprache; es steht ja jedes Wort genau an seinem Platze, unfehlbar hat es sich eingestellt. Jedes Ding, das er aussagt, ist in den Kern und ins Herz getroffen. Es ist eine sehr gediegene Prosa; sie ist ruhig und von hoher Vernunft, zierlich und doch ganz ungekünstelt. Sie ist so einfach, wie eine Wolke, wie ein Tierlein, wie ein Blatt am Baume einfach sind. Aber diese Sprache hat noch etwas mehr. Sie senkt sich ein; sie sinkt ganz hinunter durch die Algen und Schlinggewächse der Phantasie, bis auf den Grund; dort ruht sein Wort und glänzt, als sei ein Goldstück auf einen klaren Seegrund gefallen.
Dies alles ist bei diesem Dichter eine Folge seiner ausschließlichen Beschäftigung mit dem eigenen Wesen; den eigenen Trieben, Schritten, Sinnen und Impulsen. Wenn man einmal allen Aussagen des Dichters, nicht nur in seinen Büchern, sondern auch in den Hunderten von verstreuten Skizzen, Feuilletons und Besprechungen nachgehen würde – es fände sich, daß er sein ganzes reiches Leben vom ersten Traumwinkel und Beginn bis zur letzten Verrichtung beobachtet und in Distanz gebracht hat. Kaum eine wichtige Regung behielt er für sich. Ich weiß nicht, ob es in der ganzen Welt, Johann Wolfgang nicht ausgenommen, einen Dichter gibt, der so sehr sich selbst besaß und darum so sehr geöffnet, so wach sein konnte für jede leise Befremdung, Befreundung, Bestimmung und Befriedung, für jedes An- und Eindringen der Mit-Lebewesen. Besinnung und Besonnenheit sind schließlich Worte, deren Stamm die Sinne sind. Diese Sinne sind bei Hesse sehr frei, sehr rein, sehr blank und geschärft in der Selbst-Besinnung, und wo sich diese nach außen wendet, heißt sie Besonnenheit.
Diese Anlage aber verursacht nun andererseits dem Biographen eine große Schwierigkeit. Da dessen Gegenstand, der Dichter Hesse, alles bereits selbst gesagt oder aber mit genauer Absicht selbst verschwiegen hat; da er aus jeder Lebensepoche das Wesentliche nahezu an jedem Punkte in Form gebracht, so gerät der Biograph in Verlegenheit, was er sollte zu berichten haben, ohne Gefahr zu laufen, mit weit weniger Glück bereits Gestaltetes und Geprägtes zu wiederholen, das heißt, sein Buch auf Zitate zu beschränken. So verhält es sich besonders mit Hesses glücklichster Zeit, den Knabenjahren in Calw. Ich sehe ihn dort über den Marktplatz schlendern, und die lachenden Mägde am Brunnen spritzen einander mit Wasser. Ich sehe ihn auf der vermoosten Brücke sitzen bei der Nikolauskapelle oder draußen stehen am Wehr mit dem Angelgerät. Ich sehe ihn im Studierzimmer des Großvaters, der einen Schlafrock aus indischem Kamelhaar trägt; sehe ihn seinen älteren Brüdern, die in den Kirchenkonzerten singen, den Blasebalg treten oder der Mutter die Kerzen am Klavier anzünden und die Notenblätter umwenden. Er zimmert seinen Hasenstall und kommt die Falkengasse herunter. Er erledigt seine Raufereien und wird am Abend mit Hans im Garten sanft fallende Raketen abfeuern.
Aber all dies liest man in seinen Büchern viel besser, als ich es sagen könnte, und außerdem ist es seinen Lesern längst bekannt. Und was mir doch nie gelingen würde mitzuteilen, das ist dieser Knabenjahre eigentliche Atmosphäre, von der ich nicht weiß, ob sie mehr von der Spiegelung der Schwarzpappeln und Erlen in der Nagold herrührt oder vom koboldartigen Lärmen und den magischen Sprüchlein abendlicher Bubenspiele. Vielleicht ist es doch vor allem dies bunte Lärmen und Entschlafen, dieses Sicherhitzen und den Lockenkopf an die Mutter lehnen, und ist ein abendliches Wissen um Kraut und Tier und Wälder und Sterne, was die Knabenjahre zu jener eigenen, in sich geschlossenen Weit erhebt. Mir ist aus solchen Jahren erinnerlich, daß ich gar nicht glauben konnte, das Liebhaben sei ein Ding für so große und ernsthafte Menschen wie es die Erwachsenen nun einmal sind; nur Kinder könnten lieben; nur sie hätten die zarten Glieder und scheuen Gedanken, die heimliche Scham der Gefühle, und jene Tränen-Allwissenheit, die zur Liebe doch zu gehören scheint.
Wenn es aber nun in Hesses Leben einen Haupt- und Generalpunkt gibt, den der Dichter noch nicht erschöpft und auf gelöst hat; wo dem Biographen noch etwas zu sagen bleibt, so ist es diejenige Zeitspanne, zu deren Beschreibung ich jetzt komme: die Zeit der Berufswahl und der anschließenden Wirren; die Zeit der Gärung und der Loslösung vom Vaterhaus, und mit einem Worte: Maulbronn.
Dem Dichter war von den Eltern die Theologenlaufbahn bestimmt. So war es Tradition und bei jungen Menschen von guter Begabung das Gegebene. Die theologische Laufbahn entsprach nicht nur den Wünschen der Familie – sie war außerdem das billigste Studium, denn für württembergische Theologen gab es vom vierzehnten Jahr an eine kostenlose Ausbildung; man brauchte nur das sogenannte »Landexamen« mit Erfolg zu bestehen. Dieses Examen diente dazu, aus ganz Schwaben jährlich etwa fünfundvierzig Knaben im Alter von vierzehn Jahren auszuwählen, die dann als Stipendiaten in eines der vorbereitenden Seminare (Maulbronn, Blaubeuren, Schönthal, Urach) und später auf Staatskosten an der Tübinger Universität, ins weltberühmte theologische »Stift« aufgenommen wurden. Diese Prüfung blieb auch dem jungen Hesse nicht erspart. Um aber zugelassen zu werden, mußte der Knabe vor allem schwäbischer Staatsbürger werden. Der Vater ließ ihn also zum Zweck der theologischen Karriere Anno 90 oder 91 eigens naturalisieren und in Göppingen die Lateinschule besuchen.
Die Darstellung des Landexamens und der Seminaristenzeit in »Unterm Rad« ist lebensgetreu. Nur heißt der Vater Joseph Giebenrath und ist nicht Missionsprediger, sondern Zwischenhändler und Agent. Nur ist das Erlebnis in einer Art Spaltung der Persönlichkeit, die auch sonst in Hesses Büchern, so im »Lauscher«, im »Demian«, in »Klein und Wagner« hervortritt, an zwei Freundesgestalten verteilt. Die Flucht des Hermann Heilner aus Maulbronn ist des Dichters eigene Flucht aus dem Seminar. Aber auch die seelischen Wirrnisse und Leiden des zurückbleibenden Hans Giebenrath sind diejenigen des Dichters. Ebenso entspricht die Lehrzeit des Exseminaristen in einer mechanischen Werkstatt den biographischen Tatsachen. Hesse hat anderthalb Jahre (von Frühjahr 1894 bis Herbst 1895) in Calw das Schleifen von Rädchen für Turmuhren gelernt und wohl auch das Montieren von Turmuhren. Der »Knulp« wäre ohne diese Handwerkslehre wohl kaum entstanden.
Zwischen der Flucht aus dem Seminar und der rauhen Turmuhren-Lehrzeit liegen allerlei vergebliche Versuche, sich in irgendeinem Studium und Berufe zurechtzufinden. Während bis zum Landexamen und ersten Aufenthalt in Maulbronn alles gut ging und die Jugendjahre seit Basel fröhlich und unbekümmert verlaufen waren, ist es seit den Maulbronner Erlebnissen, als wäre der Teufel los. Auf dem Gymnasium in Cannstatt bleibt der Schüler wenig länger als ein Jahr; treibt schließlich Allotria, verkauft seine Schulbücher gegen ein Pistol und muß mitten im Schuljahr aus der Obersekunda fort. Er kommt zu einem Buchhändler nach Eßlingen in die Lehre, verschwindet aber auch dort schon nach drei Tagen. Der Vater nimmt ihn zurück nach Calw, versucht ihn als Gehilfen bei seinen Arbeiten zu beschäftigen; es ist aber auch hier nur ein gedrücktes, unerquickliches Herumsitzen. Er kommt in die Turmuhrenfabrik, und das Handwerkerwesen mit seinem Rest von laubgrünem Burschentum und Pennenromantik fesselt ihn erst. Zuletzt aber sind Kopf und Körper dem Amboß- und Funkenbetrieb nicht mehr gewachsen. Nach abermaliger Ruhepause im Elternhaus glückt es dem Jüngling, in der Heckenhauerschen Buchhandlung in Tübingen unterzukommen. Und nun scheint er am erwünschten Platze zu sein; er ist nicht gerade Stiftler, aber er lebt doch in Tübingen unter Studenten und Professoren, mitten in einer gelehrten und schöngeistigen Welt.
In »Unterm Rad« ist Maulbronn eingehend beschrieben: der gotische Kapitelsaal, das sogenannte »Paradies«, der romantische Faustturm (im nahen Knittlingen soll der Doktor Faust ja heimisch sein); die ankommenden pausbäckigen Schwabenkinder mit ihren Vätern, das hohe Lehrerkollegium und die mit klassischen Namen versehenen Schlafsäle, Hellas, Sparta, Athen und Akropolis. Die ganze, in das wundervolle, ziere Zisterzienserkloster eingenistete staatliche Drillanstalt mit ihrer Aufgabe, württembergische Staatspastoren heranzubilden und sie zwecks besseren Gelingens vorher in ein weltfernes römisch-griechisches Traumbild kräftig einzutauchen: all dies zieht vorüber.
Was die damaligen Studien betrifft, so scheint der Seminarist Hesse kein übler Lateiner gewesen zu sein. Er hat es noch neuerdings mit seinen Übersetzungen aus dem Cäsarius von Heisterbach (»Geschichten aus dem Mittelalter«, bei Hoenn in Konstanz) erwiesen. Damals in Maulbronn hatte er eine tückische Vorliebe für den Juvenal. Den Livius karikierte er unter der Bank; Ranke und anderen Größen darin sehr unähnlich. Er lernt auch unterscheiden, was ein Dagesch forte implicitum ist, und vernimmt, daß unser Herr und Schöpfer ein solches Dagesch forte implicitum zum ersten Male dem Adam im Paradiese zu erkennen gab. Er quält sich wohl auch, einen stillen Raum für sein einsames Geigen zu ergattern und bekundet eine besorgniserregende Vorliebe für die Klosterseen. Er gründet eine Art Klassenjahrbuch für Goethestudien, muß es aber mangels geeigneter Mitarbeiter eingehen lassen.
Der Roman, den ich damit ein wenig ergänzt habe, enthält viele Schönheiten: so die Calwer Apfelernte und Mostkelterei, ein liebliches Dionysosfest; und so die kleinstädtische Handwerksromantik vom Schluß des Buches mit ihrem Reutlinger Volksbüchermilieu. Als literarische Leistung aber ist das Buch nicht typisch. Man kann finden, daß »Die beiden Tubus« des Hermann Kurz für den Stiftlerkonflikt bezeichnender sind und daß »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« dem Gärungsthema dringlicher zu Leibe rücken. Eine gewisse Zaghaftigkeit oder absichtliche Zurückhaltung ist bemerkbar. Geschrieben ist das Buch etwa 1905, in der Bodensee-Zeit. Wenn der Dichter sich »Hermann Heilner« nennt, so spricht sich in diesem Namen ein Verlangen nach Gesundheit, vielleicht ein Bemühen darum aus. Man spürt dem Thema des Buches nach, vergleicht es mit »Lauscher«, mit »Demian«, mit den Tagebüchern der Mutter und findet dann, daß Hesse offenbar, als er den Roman schrieb, Zurückhaltung übte, sowohl aus Pietät wie aus einer Art Vorsicht der seelischen Ökonomie. Er bemüht sich um Stille und harmlosen Vordergrund; daß er dies aber benötigt, ist für den Lebensweg wichtig.
Die hellsichtige innere Welt des »Lauscher« fehlt im Maulbronner Roman; sie ist zurückgedrängt zugunsten einer beruhigten Oberflächlichkeit. Gewiß, jene Welt meldet sich mitunter an: so wenn der Schüler Giebenrath plötzlich, mitten im Unterricht, vor Ermüdung und Überlastung in ein visionäres Halluzinieren versinkt; so wenn er, nach Verlassen des Seminars »Tage voll fruchtloser Klagen, sehnlicher Erinnerungen, trostloser Grübeleien« erlebt; wenn er im Stelldichein mit einer »gesunden und heiteren jungen Heilbronnerin« schamhafte Beklommenheit fühlt und wegläuft; wenn er, nach großäugigen Träumen, »durch ungeheure Räume stürzend« erwacht und Unglück und Verlust empfindet. Aber das ganze Unglück fällt doch den Lehrern zur Last, und es ist nicht recht ersichtlich, warum der Schüler das Landexamen als einer der Besten bestand und dann mit einem Mal versagte. »Es drängte und schrie nach mehr«, sagt der Dichter, »nach einer Erlösung seiner erwachten Sehnsucht oder nach einem Führer durch die Rätsel, deren Lösung ihm allein zu schwer war.«
Sie meldet sich an, die Lauscherwelt, sie möchte hervorkommen, wie sie im »Demian« später hervorkommt; aber der Dichter fürchtet diese Welt; sie könnte ihn zerreißen. Er will, da er »Unterm Rad« schreibt, lieber Giebenrath, das Talent, als Heilner, das Genie, sein. »Seine ganze Phantasie hatte sich in diesem schwülen, gefährlichen Dickicht verstrickt, irrte verzagend darin umher und wollte in hartnäckiger Selbstpeinigung nichts davon wissen, daß außerhalb des engen Zauberkreises schöne weite Räume licht und freundlich lagen.« Das trifft nicht nur auf den Seminaristen, das trifft ein wenig auch auf den in Gaienhofen lebenden Schriftsteller noch zu, der auf dem Bodensee Rudersport treibt, wie der Schüler Giebenrath das Angeln bevorzugt und wie der spätere Dichter Hesse sich dem Malen zuwendet. Angeln, Rudern und Malen: es sind Introvertitenbeschäftigungen; Sporte, die dem Heilen und den Heilnern dienlich sind.
Der Bruch mit Tradition und Familie bei der Berufswahl hat in Hesse lange Zeit eine Wunde hinterlassen. Stets blieb er sich bewußt, daß dort, in der Maulbronner Erlebnisreihe, die eigentliche Entscheidung seines Lebens lag. Er versuchte immer wieder, das primäre Erlebnis zu gestalten und sich mit den damaligen Fakten auseinanderzusetzen. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Abschnitt seines Lebens die letzte Gestaltung bereits erfahren hat, trotz »Demian«, der den Roman »Unterm Rad« annulliert; trotz »Siddhartha«, der den Konflikt mit dem Vater bereits ganz in die klare, legendäre Höhe einer harmonischen Ablösung vom heimischen Priestermilieu verlegt.
In seinem »Kurzgefaßten Lebenslauf« (1925) sagt der Dichter von den Pesönlichkeitskämpfen jener Jahre, daß sie ihn »wider Willen, als ein furchtbares Unglück« umgaben; er deutet sie als ein hartnäckiges Kämpfen um sein ihm mit dreizehn Jahren bereits bewußt gewordenes Dichtertum. »Von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle. Zu dieser Klarheit kam aber allmählich eine andere peinliche Einsicht. Man konnte Lehrer, Pfarrer, Arzt, Handwerker, Kaufmann, Postbeamter werden, auch Musiker, auch Maler oder Architekt, zu allen Berufen der Welt gab es einen Weg, gab es Vorbedingungen, gab es eine Schule, einen Unterricht für den Anfänger. Bloß für den Dichter gab es das nicht! Es war erlaubt und galt sogar für eine Ehre, ein Dichter zu sein. Ein Dichter zu werden aber, das war unmöglich; es werden zu wollen, war eine Lächerlichkeit und Schande, wie ich sehr bald erfuhr.«
Der Konflikt war aber, ungeachtet dieser Deutung, reicher und prinzipieller. Der Knabe Hesse (»Chattus puer« nannte ihn sein Lateinlehrer in Göppingen), dieser Knabe Hesse war nicht nur Giebenrath, sondern auch Hermann Heilner, und also ein besonderer Knabe, von dem man gerne mehr wissen möchte. Und ebenso waren die Umstände, die ihn sich für den Dichter statt für den Priester entscheiden ließen, sehr besondere. Daß der Sohn des Johannes Hesse in Calw, der Enkel des berühmten Gundert, aus Maulbronn entläuft und die Zöglinge durcheinandergebracht hat; daß er nirgends guttun will und überspannte Ideen hat –: das alles ist zwar unangenehm und äußerst peinlich, aber es ist weder ungewöhnlich noch neu. Ungewöhnlich ist nur der Rahmen, in dem es geschieht, und neu die Heftigkeit des Knaben.
Vier Mitglieder seiner Familie haben das Maulbronner Seminar besucht, und wenigstens zwei davon konnten sich nicht ohne weiteres fügen. Schon der alte Gundert selbst war so ein irrlichtelierender Freigeist und Straußianer. Ihm war in Maulbronn so schwindelig geworden, daß er deklamierte, schauspielerte, dichtete und schöngeisterte auf allerlei Weise. Seine Seminaristenbriefe zeigten einen so »geistesleeren Übermut«, daß die Eltern persönlich nach dem Rechten schauen mußten. Auch der ehrwürdige Großvater hatte einst zwischen »Ernst und Jodelei«, zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden geschwankt und sich mit dem Gedanken getragen davonzulaufen. Sein selbstgefertigter Klavierauszug aus Mozarts »Zauberflöte« wollte nicht recht passen zu den frommen Eltern, die ihrerseits nicht lieb hatten die Welt und ihre Lust. Und damals lehrte noch ein David Friedrich Strauß in Maulbronn; er hatte, selbst erst dreiundzwanzig Jahre alt, die jungen Pfarrkandidaten in Latein, Geschichte und Hebräisch zu unterrichten. Der Vater mochte seinem Sohne immer sagen, er dürfe Wind nicht mit Geist verwechseln und er werde schon noch dahinterkommen; es half nicht viel. Der alte Gundert mußte seinen eigenen Weg gehen: den nach Indien und von dort zurück nach Calw.
Und erst des alten Gundert Sohn Paul, des Dichters Onkel! Der kam 1863 ins Maulbronner Seminar und kam dort von Gott noch weiter ab als jener. »Es wäre wirklich kurios«, so schreibt er nach Hause, »wenn Gott etwas von mir haben wollte, nachdem ich ihm so lange nein gesagt. Ich kann nichts anderes machen; euch anlügen, daß es gut mit mir stehe, das kann ich nicht; lieber sage ich euch geradezu, daß ich ein gemeiner Mensch bin und dazu ein verlorener.« Der Briefwechsel, den Hesses Vater selbst publiziert hat, könnte ebenso zwischen ihm und dem Dichter stattgefunden haben. »Ich höre, du habest Karzer gehabt; es wird noch anderes nachfolgen. Wer nicht hören will –, nun du weißt ja den Spruch. Wir müssen freilich mitfühlen, doch können wir das, weil wir dich in Gottes ganze Strenge und Barmherzigkeit übergeben haben. Er übe ferner sein Gericht an dir und führe es zum Sieg hinaus!« So schreibt man sich damals; es sind nicht eben Briefe, die Balsam träufeln ins Herz von Zwangskandidaten. Diese Kandidaten kommen sich verkauft vor und verraten. Der Delinquent antwortet: »Mir für meine Person ist alles ganz gleichgültig, was mein Schicksal ist. Glücklich bin ich schon längerher nicht gewesen, werde es auch, wie ich deutlich spüre, nie mehr sein.« Er verharrt »in Trotz gegen Gott und die Menschen«. Selbst der jähe Tod des edlen Ephorus Bäumlein, der mit den Worten »Tut Buße!« tot vom Katheder niedersinkt, hinterläßt keinen tieferen Eindruck. Schließlich und am Ende aber haben sich beide, Vater und Sohn, doch bekehrt. Die Tradition im Schwabenlande ist zu mächtig; der einzelne begehrt in der Jugend auf, fügt sich aber bald und kehrt in der Spirale zum Ausgang zurück. Es ist der Gegensatz von Sein und Werden, von Glauben und Wissen, von Gesetz und Evangelium; Gegensätze, die in Schwaben heimisch sind.