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Hermann Hesse ist Autodidakt. Er hat sich seine artistischen Mittel und seine Kenntnisse, seine Moral und religiöse Überzeugung selbst geschaffen, als ein freier Mann. »Mit fünfzehn Jahren«, sagt er, »begann ich bewußt und energisch meine Selbsterziehung.« Das klingt zunächst erstaunlich. Des Dichters Vater war Erzieher gewesen, im Hause des Barons von Stackelberg, und dann auch an der Basler Missionsanstalt. Das Hessesche Elternhaus unternahm geradezu den Versuch, die Übungen eines Klosters samt den drei Gelübden der Armut, Keuschheit und des Gehorsams in den Rahmen einer bürgerlichen Familie zu übertragen.
An Erziehung fehlte es also nicht; es war eher zuviel davon vorhanden. Doch es war eine Erziehung von »vor hundert Jahren«. Man konnte sie unmodern und romantisch nennen. Man konnte von einer Gefühlserziehung sprechen, die mit der Umgebung in manchen Stücken kontrastierte. Es war eine saubere, gepflegte, wohlanständige Erziehung, aber sie war mit der Wirklichkeit nicht einmal eines Schwarzwaldstädtchens in Einklang zu bringen, geschweige denn mit den Voraussetzungen eines modernen Dichters. Es war eine triebfremde Erziehung. Schon dem Schwaben Friedrich Schiller hatten ähnliche Umstände die Feder in die Hand gedrückt zu einem Essay über die Schamhaftigkeit der Dichter. Schon ihn hat man als Knaben predigen, als Jüngling für die »erhabenen Verbrecher« sich interessieren sehen.
Mit Glaube, Liebe und Hoffnung beginnt die Mutter ihr Tagebuch. Aber es sind Worte, deren Anwendung eine bestimmte bürgerliche Grenze hat. Die frommen Worte erstrecken sich nicht auf unliebsam, überraschende und durchkreuzende Ereignisse und Menschen; sie beziehen sich nur auf die gesittete Sphäre gleichgerichteter Freunde oder auf ganz und gar Wilde, auf Afrikaner und Muselmänner, auf Teufelsanbeter. Unbedingt ist nur der Wille der Mutter, alle Vorkommnisse der ihr vertrauten Welt an das Apostelwort zu binden. Der Apostel aber, der jene Worte zum ersten Male aussprach, er stand in den Kämpfen eines untergehenden Weltreichs, aus dem er die Überlebenden sammelte. Er sah die Geschicke einer von allen Lastern und Ausschweifungen zerfressenen Aristokratie. Er sah überschäumende Götter und wahnwitzige Propheten; man darf sein Wort nicht verkleinern.
Im Geburtsjahr des Dichters notiert die Mutter: »Wir haben heute (im Januar) etwas Neues angefangen, das Frühaufstehen, und tranken um 7 Uhr bei Lampenschein Kaffee. Johnny und ich lesen unsere zwei alttestamentlichen Kapitel vor dem Frühstück und beten zusammen, ich wecke Katharina (das Dienstmädchen) und kleide die Kinder an, während mein Johnny Hebräisch studiert in Charles' durchschossener Bibel.« Aber die Kinder können nicht recht verstehen, weshalb und wofür diese Zucht; es fällt ihnen ein Dunkel, eine Angst, ein Schauder zu, noch nicht »bekehrt« zu sein.
Von der drakonischen Strenge des Vaters war bereits die Rede. Für Calw bezeugt sie der Dichter vielleicht allzu bitter in seiner Novelle »Kinderseele«. Auch diese Strenge bleibt für das Kind nur ein Rätsel; denn eine Belehrung über die Tücke der phantastischen Instinkte, über jenes neugierige Forschen und Eindringen in die Elterngeheimnisse würde schon die Scham verletzen; überdies ist Hesse einer der ersten Dichter, die diese Welt überhaupt zugänglich machten. In Kornthal, wo die Mutter erzogen ist, pflegte man an Jubiläen zu singen:
Ach, ich bin viel zu wenig, Zu preisen Gottes Ehr; Er ist der ew'ge König, Ich bin von gestern her. |
Das ist kaum ein Spruch für Dichter, die sich berufen fühlen, gar sehr Gottes Lob und Preis in der Natur zu singen. Und wie mag man an Buß- und Bettagen gesungen haben, wenn schon die Freudentage eine so niederdrückende Bußkraft atmen? Im Vaterhaus selbst sang man an den Geburtstagen:
Ist's auch eine Freude, Mensch geboren sein? Darf ich mich auch heute Meines Lebens freun? |
Auf solche Voraussetzungen bezieht sich die gelegentliche Äußerung des Dichters, wenn er sagt: »Fromm war ich nur bis etwa zum dreizehnten Jahr (bis zur Erkenntnis des Dichterberufes). Bei meiner Konfirmation, mit vierzehn Jahren, war ich schon ziemlich skeptisch, und bald darauf begann mein Denken und meine Phantasie ganz weltlich zu werden, ich empfand, trotz großer Liebe und Verehrung für sie, doch die Art von pietistischer Frömmigkeit, in der meine Eltern lebten, als etwas Ungenügendes, irgendwie Subalternes, auch Geschmackloses und revoltierte im Beginn der Jünglingsjahre heftig dagegen.«
Erziehung und Selbsterziehung nehmen in Hesses Büchern einen breiten Raum ein. Im »Camenzind« befürwortet er das ländliche und geistige Idyll, »Nimikon« und Assisi, gegenüber den Verwirrungen des Intellekts; gegenüber den modischen Zerrissenheiten der Großstadt und einer futilen Geselligkeit. Im »Demian« ist es die Erziehung durch Freund und Frau; ist es die Aufhebung der »Moral« zugunsten einer verdrängten inneren Welt. Der Mensch trägt Ur- und Vorwelt in sich, aber tief verschüttet. Sie sollen zutage gefördert, sollen empfunden werden. Dann erst kann, nach dem Dichter, fruchtbare Bildung beginnen.
Der »Siddhartha« vollends ist die Apotheose der Selbsterziehung. Der Priestersohn, der dort im Mittelpunkte steht, verläßt ein Brahmanenhaus mit all dessen mehr pflicht- und gewohnheitsmäßigen als lebensnahen Waschungen und Riten. Er verläßt auch die ihm in Fleisch und Blut übergegangenen längst geläufigen Übungen der Mönche und begibt sich in die Schule eines Kaufmanns und einer Kurtisane. Er will die Erstarrung brechen, die ihm das Vaterhaus anerzogen hat. Nicht einmal dem berühmten Gautamo Buddha mag er folgen. Das Leben soll neu und von vorn beginnen. Mit allen Schmerzen und Enttäuschungen will Siddhartha es erst erfahren, aber selbst erfahren, ehe er seinerseits zum Erleuchteten wird und eine Lehre aufstellt, die keine Lehre mehr ist, die keinen Gehorsam mehr verlangt.
Und noch der »Steppenwolf«, Hesses jüngstes Buch, ist ein Erziehungsroman. Der fünfzigjährige Dichter kennt das Erbe seiner Herkunft wohl; doch er kennt auch die Mitgift seiner Nation. Er begibt sich in die mütterliche Erziehung eines Mädchens, dessen Name wie das Feminin seines eigenen Vornamens klingt. Und da er die stärksten Kontraste aufsuchen muß, um seine harte und ausfällige innere Kontur zu lösen, so begibt er sich in die Schule einer Tänzerin und eines Saxophonbläsers. Oh, er kennt auch die Schule des alten Goethe und des ewig jungen Mozart. Immer aber begibt er sich noch in die Jugendschule, treibt er noch Selbsterziehung. Er möchte harmlos und ein Mann seiner Zeit sein; möchte sich nicht um das Leben betrogen fühlen. Dieses Leben ist ihm keineswegs ein Genuß; es ist ihm eher widerlich. Dieses Leben aber ist das Material, das zu seinem Metier gehört. Es ist diejenige Macht, die er meistern und ins Gleichgewicht setzen, die er aufdecken und befreien, die er zum Vorbild sublimieren, die er aber, um all dem entsprechen zu können, in die tiefste, wie immer gequälte Seele aufnehmen muß, ehe er aussagen kann.
Es ist eine eigene Sache mit der Selbsterziehung. Sie sollte nicht nötig sein. Thomas Mann hat in Paris beobachtet, daß die namhaften Franzosen meist als Musterschüler gelten können und solche gewesen sind. Ich weiß nicht, ob die Schule dort besser ist als in Deutschland; es scheint fast so. Es könnte sein, daß die jungen Leute weniger Widerstand finden; daß ihr Enthusiasmus mehr getragen, daß die Absonderlichkeit leichter eingeordnet, mit einem Wort, daß die Lehrer frischer, beschwingter, lebendiger sind. Der Beruf des Schriftstellers ist wohl mehr anerkannt; der Bezug auf die Gesellschaft ebenso. Eine Elite, die von Idealen getragen ist, scheint dort mehr vorhanden, gegenwärtiger zu sein. All dies verbrückt den Unterschied zwischen Begabung und Umwelt. Gestalten wie Rimbaud sind dort Ausnahmen; bei uns sind sie fast die Regel. Wir haben theoretisch ein Erziehungswesen, eine Reformbestrebung in Permanenz, die hinter keinem Lande zurücksteht; aber das ist ein in sich geschlossener Staat, der seine hochinteressanten Debatten eigentlich beständig für sich und um der Übung willen betreibt. Dieser Reformbestrebungsstaat scheint weit entfernt, in praxi einen erheblichen Einfluß zu gewinnen oder gar eine Änderung zu bewirken.
Gerade das Werk Hermann Hesses legt solche Bedenken nahe. Er selbst berührt sie in »Unterm Rad«; aber er hat sie nicht durchgeführt und nicht mehr aufgenommen. Sein Werk in der Gesamtheit entspricht heute jenem Buchtitel und birgt alle Veranlassung, bei diesen Fragen ein wenig zu verweilen. Man wird dann finden, daß seine Problematik typisch ist, und man wird auch sehen, weshalb das Schweigen um diesen Dichter seit dem Kriege von Jahr zu Jahr gewachsen ist. Hesses Werk, wie es heute sich darbietet, erhebt dringender als je die Frage nach deutscher Erziehung und Schule. In keinem Lande werden so viele Erziehungsromane geschrieben wie hier. Unsere größten Dichter sind Autodidakten gewesen. Ein großer Teil der Erziehungsbücher aber, die jahraus, jahrein geschrieben werden, sagt nicht so sehr für das Publikum, als für den Verfasser aus, der sich darin Rechenschaft gibt oder verantwortet; der seine Konflikte mitteilt und seine Schwierigkeiten bekennt, als könnten etwaige Freunde, die er mit seinen Büchern wirbt, ihm helfen, Schwierigkeiten weiter zu lösen, die die Schule zu lösen verabsäumt hat.
Ein Großteil dieser Konfessionen verfolgt durchaus nicht die Absicht, die Lösung einer klar erkannten Frage vorzutragen und diese Lösung in Einklang zu zeigen mit einer festen, zuverlässigen Überlieferung. Sondern es zeigt sich meist, daß der Verfasser ganz neue, phantastische Wege geht, ja daß er Umwege bevorzugt, um sich zu unterscheiden; daß er Meinungen und Überzeugungen vertritt, die nur für ihn gelten, und daß das Fazit seiner Kunst dem Volksganzen unersichtlich bleibt. Man kann einwenden, daß es doch immerhin etwas sei, Einblick in eine Seele zu erhalten; ihre Kämpfe und Schwierigkeiten, ihre Irrwege einzusehen; aus ihrem Unglück zu lernen und aus ihren Triumphen Trost zu schöpfen. Aber es bleibt doch die andere dringende Frage offen, ob die Einbuße der Literatur an Ansehen und Autorität nicht größer sei als das Glück, das sie bringt. Ob nicht das Schreibwesen auf solche Weise zu jenem Resultate führt, das wir heute überall wahrnehmen: nämlich zur Despektierung des Dichters und Literaten und zur Despektierung des geschriebenen Wortes. Was hilft es auch zu sehen, wie es der Autor gemacht hat, wenn dieser Autor zum Schluß gestehen muß, er finde sich nicht mehr zurecht? Oder wenn eine Stimme im großen Konzert der andern widerspricht und ein Werk dem andern. Wer mag in der Lektüre noch etwas anderes suchen als eine Unterhaltung?
Wenn jemand unter den Heutigen ein Bekenner ist, so ist es Hermann Hesse. Und wenn jemand seine Selbsterziehung mit Strenge und Ernst betrieben hat, so ist er es. Er hat sein Leben durchleuchtet bis in die letzten verborgenen Winkel; er hat ein Bekenntnis abgelegt, das vom Glücksempfinden geistiger Triumphe bis hinunter in die Hölle des Gewissens reicht. Diese Konfession aber – das darf nicht verschwiegen werden –, sie wäre verwirrend in manchem Widerspruche, sie wäre unheilvoll und bedrückend, wenn – ja, wenn sie nicht ein so hohes Kunstwerk, eine Mythologie, wenn sie nicht typisch wäre. Mit »Demian« hat Hesse den einzigartigen Versuch begonnen, den Typus des Deutschen und Protestanten in seiner eigenen Person zu erfassen und aufzulösen, in die Höhe und die Tiefe, in die Fülle und die Glut, in die Kindlichkeit und den Orient. Um diese Leistung aber zu ermöglichen, mußte er ebenso alle Wirrnis und alles Unglück, alle »Immoral« und alle Dämonismen, alle Romantik und alle Steppenwölfigkeit auf seine alleinige Konstitution beziehen. Mußte er die Untergangsparole an seine eigene Kappe heften; mußte er alle feindlichen Lanzen in sich vereinigen.
Der Erziehungskonflikt ist in Deutschland traditionell und nicht nur im Vaterhause begründet. Die Selbstgesetzlichkeit des einzelnen ist oberstes, historisches Gebot. Ihr größtes Beispiel ist Luther. In der Philosophie haben Fichte und Kant, in der Dichtkunst Goethe, Schiller und Herder die Selbstbestimmung als Ideal verkündet. Dieser »Eigensinn« ist mehr als ein Philosophem; er ist ein Zug des deutschen Wesens selbst, als welches es schon in der Kindheit, und gerade in ihr, keinerlei Begrenzung anzuerkennen vermag. In Rauschzuständen ohne Maß bewegt sich unser Wesen, und wo es gestört wird, greift es zum Widerspruch oder zum tödlichen Ausbruch. Es ist jene Traumverschlungenheit und mystische Musikalität, die man zum typischen Merkmal des deutschen Helden gestempelt hat; ein nach innen gewandtes Begehren und Sehnen, das in die sichtbare Welt schwer überzuleiten, das schwer zu erlösen ist. Bis zum Wahn und zur Selbstaufhebung füllt es die inneren Räume.
Beim jungen Hesse ist diese Anlage in einer Schärfe und einer Einseitigkeit vorhanden, wie bei wenigen je; nur blieb sie in den Schriften lange Zeit verborgen. Dieser Zug geht bei ihm bis zur striktesten Ablehnung der werbenden Außenwelt; bis zur Selbstmordneigung und zum Aufsichnehmen der Neurose. Derselbe Charakter aber ist es, der gegen die öffentliche Meinung während des Krieges auftrat und der das gleichgerichtete Werk des Schreibers dieser Zeilen in aller Öffentlichkeit verteidigt hat. Und dieser Charakter ist es zu guter Letzt, dem es die Literatur zu danken hat, wenn Hesse einer merkantilen und mechanisierten Zeit gegenüber, und zwar trotz gegensätzlicher Entscheidungen eines Nietzsche und eines Flaubert, an der Befürwortung des Sentiments, der Romantik, des Unzweckmäßigen festhält, wie nur ein Luther und ein Calvin an der anima religiosa festgehalten haben.
Der Dichter selbst hat gelegentlich bemerkt, daß diese Art von »Originalität« und Heldentum, von Glaube an die Neuheit und den eigenen Sinn, daß sie zwar in den Geschichtsbüchern erlaubt seien, daß sie aber, wo sie außerhalb sich geltend machen, nicht derselben Schätzung begegnen. Man antwortet dann mit Hohn und Boykott, wenn nicht mit Schlimmerem. Ich bin nicht der Meinung, daß die Autonomie ein gutes Prinzip sei; ich bin aber noch weniger der Meinung, daß ihre Verherrlichung in den Geschichtsbüchern richtig sei. Und hier ist eben ein Widerspruch, der durch unsere ganze Erziehung und Bildung geht. Es ist nicht schwer, das Prinzip der Selbsterziehung und Selbstbestimmung als unfruchtbar und verwirrend zu erweisen; denn schließlich vermag sich auch jeder Appetit und jeder Aufruhr und vermag sich jeder Freibeuter in Wirtschaft und Handel auf solche Autonomie zu berufen. Die Konsequenz wäre, daß man jedermann gewähren ließe nach Gutdünken, aus der Überzeugung, daß dem einen billig sei, was dem andern recht ist. Die Folge wäre der Verzicht auf jede Kritik und jede Gebundenheit.