Josef Baierlein
Der Spruchbauer
Josef Baierlein

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10.

Stephan Niedermaier hatte den Tag über sehr fleißig gearbeitet und bekam dennoch eine schlechte Nacht. Das Erbarmen mit der schönen Lehrerswaise ließ ihn nicht einschlafen, und als er endlich spät die Ruhe fand und in Schlummer verfiel, beschäftigte er sich noch im Traum mit den Ereignissen des letztvergangenen Nachmittags. Er sah wieder ein von schweren Haarflechten bedecktes Köpfchen, blickte in zwei scheue, braune Kinderaugen und gewahrte schimmernde Perlen, die aus denselben, von Leid erpreßt, über zarte, weiße Wangen träufelten. Dann war es ihm wieder, als hörte er Lenes scheltende Stimme, die über das Mädchen schimpfte, weil es nichts gelernt hätte und zu keiner Arbeit zu gebrauchen wäre. Und da er die Geschmähte sogar im Traum in Schutz zu nehmen versuchte, erboste Lene auch über ihn, hielt ihm den Rechen unter das Gesicht, kribbelte ihn damit an der Nase, daß er kräftig niesen mußte und über den lauten Ton – erwachte. Denn nur das Niesen hatte ihm nicht geträumt; 54 aber kein Rechen hatte ihn aus der phantastischen Welt, in welcher er schwebte, in die Wirklichkeit zurückgerufen, sondern ein vorwitziger Sonnenstrahl, der sein Gesicht zum Ruheplätzchen erkoren und so einen unwiderstehlichen Reiz auf den Träger seines Geruchsinns ausgeübt hatte.

Als der Spruchbauer die Augen aufschlug, schaute er ein paar Sekunden verwundert über die in der Schlafstube herrschende Helle um sich. Dann, nachdem er einen Blick auf die an der Wand hängende Schwarzwälderuhr geworfen, sprang er mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett.

»Himmel!« dachte er, während er sich eilfertig ankleidete und wusch, »ist's denn heunt schon so spät? Hab ich doch g'meint, ich hätt' erst die Augen zu'druckt, und jetzt hab ich nicht nur den »Engel des Herrn« verschlafen, sondern es ist auch schon höchste Zeit zu der Morgensuppen. Jetzt pressiert's aber. Denn wenn ich nicht tracht', daß ich bald 'nauskomm' zu meinen Knechten in den Fichtenschlag, alsdann ruckt die Arbeit nicht vom Fleck. Von Rechts wegen hätt' ich der erste sein müssen an Ort und Stell'. Ich bin der Herr.«

Als er hinab in die Wohnstube kam, rief er die Bäuerin an:

»Warum hast mich denn verschlafen lassen, Mutter? Warum hast mich denn nicht g'weckt?«

55 »Je, ja – bist Du noch daheim?« fragte diese überrascht dagegen. »Ich hab doch schon vor einer Viertelstunden mit den Dienstboten z' Früh 'gessen und weil Du nicht dazu'kommen bist, hab ich fest 'glaubt, Du wärest schon vor Tag aussi in den Wald. Derweil hast verschlafen! Aber so 'was! Und jetzt ist auch keine Suppen mehr da.«

»Das schad't nichts, Mutter! Schenk' mir halt dafür ein Glasl Kronawitter ein und ein Stück Brot steck' ich in die Taschen, damit ich g'schwind hinter den Knechten dreinkomm'. Und was ich noch sagen wollt': heunt wollen ja auch die Herren Eisenbahner ihr Bureau einrichten. Die Stuben sind doch herg'richt' für sie?«

»Was? Heunt wollen s' schon kommen?« klagte die Frau. »Gar nichts ist noch g'schehen! Ach Gott, was bin ich für ein g'schlagenes Leut! Bald werd' ich nimmer mehr wissen, wo mir der Kopf steht, so viel muß ich denken und arbeiten. Mit dem, daß D' die Fremden ins Haus nimmst, Stephan, hast Deiner Mutter wieder ein schwer's Packl aufg'laden. Ja, wenn eine junge Bäuerin da wär', die mir helfen könnt'!«

So war denn seine Mutter glücklich wieder bei dem Punkt angekommen, um den sich all ihr Wünschen und Sorgen drehte, was den Spruchbauer bewog, Reißaus zu nehmen. Denn er wußte, daß die alte Frau jetzt wieder das Register ziehen 56 würde, das auf des Wiesenbauern Lene getönt war, und heute wollte er einmal nichts von jenem Mädchen hören. Schon die Erinnerung daran erweckte ein Gefühl in ihm, als hätte er Wermut und Galle im Mund. Oder schmeckte der Schluck Wacholder so bitter, den er anstatt der gewohnten Milchsuppe genossen hatte? So sagte er denn nur kurz:

»Na, adjes, Mutterl! Nimm Dir halt eine von den Mägden zur Aushilf', wenn D' mit den Eisenbahnern ihren Stuben nicht alleinig fertig wirst.«

Im nächsten Augenblick hatte er das Wohnzimmer und den Hof schon hinter sich gelassen. –

Es war ein prächtiger Morgen. Der Weg, welchen Stephan zu gehen hatte, um in seinen Fichtenwald zu gelangen, führte hinter den letzten Häusern von Schattendorf durch ein mäßig tiefes Tal, durch welches er sich als schmaler, auf beiden Seiten von Wiesen begrenzter Fußpfad hinwand. Links und rechts von diesen Wiesen ragten dunkle Tannen- und Föhrenwälder in die Höhe und kletterten hinauf an den Flanken der das Tal beherrschenden Hügel, um ihre zierlichen nadelschweren Gipfel im Sonnenlicht zu baden und sie vom Bergwind schütteln zu lassen. Dem in tiefes Sinnen versunkenen, rüstig fürbaß schreitenden 57 Spruchbauer schlug ihr von fern erklingendes Rauschen ans Ohr wie leise verhallender, in der Luft sich wiegender Harfenklang.

Die Sonne stand noch nicht so lange am Himmel, daß sie den Tau von den Gräsern des Wiesenteppichs hätte wegtrocknen können; derselbe funkelte daher von tausend und abertausend Tropfen, die gleich Edelsteinen sprühten und strahlten: rot, grün, blau gossen sie zitternde, magische Lichtpünktchen über die ganze Flur aus. Dazu jubilierten die Vögel im reinen Blau des Äthers und überboten einander im lauten Preis des Allmächtigen, der seine Welt so herrlich geschaffen.

Stephan wurde unter dem Eindruck, den die ringsum in voller Morgenschöne prangende Natur auf ihn ausübte, ganz festtäglich gestimmt. Seine Brust weitete sich, die Augen glänzten lebhafter und die wachen Träume, in welche er sich versenkte, flatterten um ihn wie schmeichelnde, kosende, nur ihm sichtbare Gebilde. Der bittere Geschmack im Mund war ganz verschwunden. Denn er dachte ja wieder an das süße Gesichtchen des Lehrerskindes, dem er gestern die Eßkörbe abgenommen, und bei diesem Gedanken ergriff ihn plötzlich eine ungeheuere Sehnsucht, das Mädchen wiederzusehen und den herzergreifenden Klang ihrer Stimme wieder zu hören.

58 Da zuckte er jählings zusammen und seine Augen weiteten sich, als hätte er eine schemenhafte Erscheinung. Denn dort – kaum fünfzig Schritte vor ihm – stieg auf dem nämlichen Pfade, den er selbst ging, und aus einer Talmulde, die sie bisher seinen Blicken verborgen hatte, eine Gestalt empor, die in der gleichen Richtung weiter wanderte, wie er. Und wie er, gleichsam entgeistert, darauf hinstarrte, hätte er, obgleich er sie nur von rückwärts sah, doch schwören mögen, das plötzlich vor ihm aufgetauchte Frauenbild wäre Kreszenz, die wiederzusehen er soeben mit brennender Sehnsucht gewünscht hatte!

Aber das was ja unmöglich! Die Kreszenz befand sich doch im Wiesenbauernhof und nicht in aller Gottesfrühe da heraus auf freiem Feld, dazu in einer Gegend, wo ihr Dienstherr nicht einmal Grundstücke besaß. Sonst hätte man annehmen können, sie wäre auf ein solches geschickt worden, um etwas zu besorgen.

Allein je mehr Stephan sich seine vermeintliche Einbildung auszureden versuchte, desto mehr kam er zur Überzeugung, daß er nicht am hellen, lichten Tag ein Gespenst, sondern leibhaftig das Mädchen sah, mit dem er soviel Erbarmen hatte, und das in kurzer Entfernung vor ihm herschritt. Sie war gekleidet wie gestern, nur trug sie 59 diesmal keinen Rechen oder Korb in der Hand, sondern ein in farbige Leinwand geknüpftes, dem Anschein nach nicht allzu schweres Bündel.

»Kreszenz!« rief er, um allem Zweifel ein schnelles Ende zu machen.

Das Mädchen blieb stehen, wandte sich um und kehrte dem Rufenden ihr Gesicht zu.

Sie war's wirklich. – – 60

 


 


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