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Was zog sie zu den Frauengestalten Ibsens? Sie hat sie alle gespielt, Nora wie Hedda Gabler, Rebekka West und Frau Alving – und vor allem Ellida, die Frau vom Meere. Als sie im Jahre 1909 das Theater verlassen wollte, betrat sie zum letztenmal die Bühne in Berlin als Ellida. Als sie sich 1921 zu einem Neubeginn entschloß, spielte sie im Teatro Balbo in Turin wieder die Ellida. Es läßt sich kaum eine weniger glanzvolle Rolle denken als die der Ellida. Wenn man nicht, wie es später ihr Impresario für Amerika verlangte, als Frau des einfachen norwegischen Arztes prächtige Pariser Toiletten auf die Bühne führen wollte, so bot die schattenhafte Gestalt denkbar wenig Möglichkeiten für Effekte. Ein Vorgang, ganz innerlicher Art, kaum dramatisch, weil er sich im Grunde ohne Eingreifen und Mithandeln der anderen gewissermaßen monologisch abspielt; ein Vorgang, dessen Wahrheit mehr metaphysischer als psychologischer Natur ist – worin beruhte die Liebe der Eleonora Duse zu dieser Dichtung und dieser Gestalt, »cet incompréhensible personnage«, wie eine Freundin sie nannte, dieser Hysterikerin, nach der Meinung eines Florentiner Kritikers?
»Die Frau vom Meere« – das Wort hatte für sie einen magischen Klang. Es weckte ferne Stimmen und Bilder in ihr, der Tochter Venetiens, deren Geschlecht von der Fischerinsel Chioggia stammte. Sie verstand das Symbol bis ins innerste Herz hinein, in der ganzen Weite und Tiefe des nordischen Dichters, weil sie ein Gefühl für das Meer hatte, das unbegrenzte, unbestimmte, gestaltlose, zügellose Element mit den Wundergebilden, die es in seiner kristallenen Tiefe birgt. Es gibt Bilder von ihr, die den Eindruck machen, als stehe sie auf einer Klippe, ja, die für sie ausdrucksvollste Haltung mit dem erhobenen Gesicht und der freien, kühnen Linie des Halses scheint wie von einer solchen Vorstellung genommen. Der Wind fährt ihr durchs Haar, die bebenden Nasenflügel scheinen den Atem des Ozeans zu trinken, und die Augen unter den Brauen wie Vogelschwingen suchen die Ferne: »Die Frau vom Meere«.
Das Spiel des nordischen Dichters steht in der Weite der reinen großen Natur – sie aber war gebannt gewesen in die parfümierte Luft von Pariser Salons mit ihrer stickigen Eleganz und ihren überhitzten Gefühlen. Der Liebeskonflikt, der im Theater der Dumas und Augier ohne Weite und Tiefe in sich zurücklief, wird hier ein Lebenssymbol von ganz anderen Maßen und ganz anderer Bedeutung – eine Frage der menschlichen Existenz schlechthin. Es ist wahrhaft seltsam, daß diese zutiefst nordische Dichtung, derer sogar in Deutschland die großstädtisch »Hellen« sich witzelnd zu erwehren suchten, diese Bezauberung über eine Italienerin ausübte. Sie stellt die Frage: wie wird ein Mensch, der aus der elementaren, naturhaften Freiheit kommt, gebunden? Und beantwortet sie: durch Liebe und Verantwortung. Sie stellt die Frage: wo findet Sehnsucht des jungen Herzens in das unermeßliche, unbestimmte Meer des Lebens ihr Ziel? Und beantwortet sie mit den Worten der Ellida zu ihrem Gatten: »Wenn ich mich dir innig anschließen könnte.« Ellida ist draußen, wie das Meer vor der Küste. Ihre Seele ist Wellenschlag – und auch Ebbe und Flut, in ihren Gedanken wie in ihrem Empfinden. Sie ist, wie irgendein Meerwesen der Sage, nicht Mensch geworden, sie fand die Tür nicht in das Innere der Menschengemeinschaft, der sie angehört. So lebt sie nicht wirklich in dieser Gemeinschaft, sondern wie ein Schemen, während ihre Wirklichkeit da draußen ist, im freien Meer, wo sie herkommt und wohin ihre Sehnsucht geht. Sie will das Leben nicht erkennen, in dem sie steht – und bald kann sie es nicht mehr; es entgleitet ihr. Übermächtig aber wird die Magie, der sie sich hingegeben hat, trotz des Grauens, mit dem sie sich von Willenlosigkeit übermannt, fortgetrieben fühlt und spürt, wie die anderen mehr und mehr ihre Hand loslassen. Diese in ihren leeren Traum von Weite und Freiheit gehüllte Frau, die innerlich wogt wie Wellenschlag und äußerlich wie eine kranke Schlafwandlerin durch den sonnigen Tag geht – dieser Mensch im Zwielicht der Mitternachtssonne, sie ist zugleich das große Symbol aller derer, die in der Grenzenlosigkeit des Träumens und Begehrens heimisch werden wollen – während es Heimat nur gibt in der tätigen Verbundenheit mit den Menschen, denen man in Freiheit seine Liebe schenkt. Diese Traumverlorenheit und dies Erwachen durch den Anruf der Liebe, dieses zagende und ahnende Eintreten in den lichten Bereich der Verantwortung, der sie ausgewichen ist und die man ihr erspart hat – »hierin liegt eine Kraft der Umwandlung« –, diese Umwandlung selbst zum Menschen, dieses Zerbrechen der magischen Ketten, und das alles in dem Dialog Ibsens, der die tiefsten menschlichen Entscheidungen, um die es hier geht, zugleich entschleiert und verhüllt, das forderte mehr als Kunst, das forderte eine Seele, die um dies alles wußte, weil sie es an sich erfahren hatte.
Es ist das Teilhaben an der zwiefachen Freiheit, zwischen die das Schicksal der Ellida gespannt ist, das Eleonora Duse in der Frau vom Meere sich selbst finden läßt: die große, wilde, unermeßliche Freiheit der Natur, die ihre Geschöpfe auf mächtigen Wogen wiegt, fessellos, nur dem Rhythmus ihrer Urkräfte hingegeben – und die andere Freiheit des wollenden Menschen, der sich in Liebe bindet. In Willen und Temperament aller großen Kunst ist diese Fessellosigkeit der Natur, dieser dunkle, blinde Lebensstrom: »Vado, nel vento, come taluno che sa la sua strada: mentre, invece, nel fondo di me, non faccio che obbedire a un ritmo interiore che sempre avanti me porta« (Ich gehe, im Winde! wie jemand, der seinen Weg weiß; im Grunde meines Wesens gehorche ich nur einem inneren Rhythmus, der mich immer vorwärtsträgt). Wer solchen Elementargewalten angehört, ist immer ein Fremdling im Menschenlande, wie die Frau vom Meere. Und nichts hat Eleonora Duse so tief verstanden, so vollkommen ergriffen, wie diesen Bann der Fremdheit über der Gestalt der Ellida. Denn auch sie war immer irgendwie »vom Meere herein verirrt« und unter anderem Gesetz.
Das Drama der Frau vom Meere war als darstellerische Aufgabe zugleich so unerschöpflich, daß jede neue Phase eigenen Lebens dieser Gestalt neue Züge einzeichnen, sie verwandeln mußte. Eleonora Duse hat hier die Möglichkeit gesehen, das Letzte zu sagen. Ob das Publikum das vernehmen würde, konnte sie nicht kümmern. Für ihre letzte Fahrt nach Amerika noch setzte sie »Die Frau vom Meere« auf das Programm, trotz der Verständnislosigkeit des Impresario, der die Frau des norwegischen Arztes in einem kleinen Küstenort in Pariser Toiletten auftreten lassen wollte.
Einen Bereich, in dem ihr in der eigenen Sprache die Sehnsucht nach dem großen Drama erfüllt wurde, schuf ihr Gabriele d'Annunzio. Er ist eine der rätselvollsten und schillerndsten Persönlichkeiten der europäischen Kunstwelt um die Jahrhundertwende. Nicht Seele, aber erlesenste künstlerische Intelligenz. Menschlich eiskalt und über die Maßen gewandt. Er ist Dichter nicht in der Sphäre des Urerlebnisses, sondern des Bildungserlebnisses. Seine Dichtung ist Kunst aus Kunst. Der gebildetste Italiener, vielleicht der gebildetste Europäer seiner Zeit, ein »Kenner« von äußerster Feinheit und Sicherheit der Fühlung und einer unabsehbaren Weite des Wissens; ein von sich selbst mit unermeßlichem Selbstgefühl hochgezüchtetes Kulturprodukt. Die erlesensten Schöpfungen aller Perioden sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen; sein beweglicher und empfindsamer Geist ist in sie hineingekrochen und hat sich an ihren Essenzen gesättigt. In ihm sind alle ihre Farben, Klänge und Gesichte gegenwärtig und stehen ihm zur Steigerung des eigenen Lebens zur Verfügung. Er schafft nie aus dem Urstoff der Schöpfung. Er sieht eine Landschaft à la Giorgione oder Carpaccio – durch Kunst hindurch. Denn diese tausend Bilder leben in ihm, sie haben eine besondere Spezies Mensch aus ihm aufgebaut, ein Wesen aus den Essenzen der großen Eigenschaften und Werke anderer. Aus diesen Essenzen, diesem Widerschein gewesenen Glanzes schafft er. Aber nicht wie ein Epigone. Sondern indem er, Herr all dieser Fülle, die Stimmen und Farben zu neuem Zusammenklang verbindet. Die Toten leben auf in ihm, wie in der città morta in den Menschen, die ihren Bannkreis betreten, die Toten aufleben »mit dem ganzen entsetzlichen Leben, das Äschylos ihnen eingeflößt, ungeheuerlich, ohne Unterlaß, verfolgt von dem Schwert und der Fackel ihres Geschickes«. »So bin ich dahin gekommen«, sagt er, »Tragödien zu schreiben: um in einigen zornigen und edlen Gebärden etwas Erhabenheit und Schönheit aus dem flutenden, zudringlichen Schwall des Gemeinen zu retten, der heute die auserlesene Erde bedeckt, auf der Lionardo seine gebietenden Madonnen und Michelangelo seine nie bezwungenen Heiden bildete.« Für diese Tragödien stand ihm in seinem Arsenal eine unabsehbare Fülle von Ausstattungsstücken zur Verfügung, Gesten, Spannungen, Worte, Situationen, Farben, Stimmungen, die er mit einer raffinierten Phantasie als artistische Effekte verwertete. Wenn diese Worte gebraucht werden, um das durch und durch Bewußte und Gemachte seiner Kunst zu bezeichnen, so muß hinzugefügt werden, daß er in dieser Sphäre des künstlerischen Erlebnisses echt und ehrfürchtig ist und daß er Zeiten und Gestalten auf eine große Weise sieht.
Für die Wiedergabe dieser edlen Gebärden, die Erhabenes und Schönes retteten, fand er in Eleonora Duse »das dionysische Geschöpf, den lebendigen Stoff, der bereit ist, die Rhythmen der Kunst zu empfangen«. Sie empfing nicht nur, sondern sie war es, die diese »edlen Gebärden« nicht von der Geschichte her, sondern aus ihrem Herzblut mit strömendem Leben erfüllte. So entstand ein Bund, der ihren Künstlertraum erfüllt, ihre Sehnsucht nach dem Werk, das ihre Inbrunst in edler Form aufnehmen konnte. Und wenn sie auch nach dem Weltkriege dieser Kunst das Urteil sprach: »C'est fini – c'est absolument fini!«, zunächst verbanden sie mit dem Dichter die edlen Motive, die großen Vorstellungen von dem Zusammenhang der Zeiten, die er in sich trug, und der höhere Stil, den er dem künstlerischen Erleben gab. Sie war krank am Theater. »Um das Theater zu retten, muß man es zerstören; man muß die Schauspieler und Schauspielerinnen austilgen. Sie machen die Kunst unmöglich.« Edouard Schneider sagt einmal über sie: »Eleonora Duse hören, das hieß nicht ins Theater gehen, sondern teilnehmen an der Kommunion, deren durchsichtige Substanz sie war. Die Gabe des Geistes war ihr in solcher Fülle ausgeteilt, daß sie wie ohne ihren Willen von ihr überströmte.«
So aber war das Theater: banalisiert zur Unterhaltung der Zahlungsfähigen, seine Ausstattung geht auf Steigerung der Wirklichkeit in einem materiellen, äußerlichen Sinn aus, auf Beschönigung oder vermehrten Sinnenreiz, schmeichelt der Prunk- und Besitzgier, dem Snobismus, der großmannssüchtigen Selbstbespiegelung und verlogenen Eitelkeit des Bildungspöbels. Und die Schauspieler sind so, wie dies Publikum sie verdient, denen die Rolle eine unbescheiden ausgebeutete Gelegenheit zur Selbstinszenierung ist, ein Vorwand, das Publikum mit sich zu beschäftigen, auf sich zu konzentrieren und zugleich eine Form lügenhaft gesteigerten Icherlebens, hysterischen Selbstgenusses. In keiner Kunst liegen die edle und die gemeine Ausübung so nahe beieinander, können sie einander so zum Verwechseln ähnlich werden. – »Man muß das Theater zerstören und die Schauspieler ausrotten. Sie machen die Kunst unmöglich.«
Mit einer Tragödie, die das Erhabene und Schöne aus dem Schwall des Gemeinen retten wollte, mußte sich das neue Theater aufbauen lassen, von dem sie träumte, das die Dichtung lebendig machte. Rasi beschreibt, in welchem intensiven Maße sie ständig auf der Bühne über ihre Rolle hinaus zugleich die anderen stützte und mit durchriß. Sie hat nie als »Primadonna« die Bühne beherrschen wollen; sie suchte die Harmonie des Ganzen und wollte nichts als Glied und Teilinstrument in einem Orchester sein. In dieser von sich selbst gelösten Hingabe an das Werk sehnte sie sich nach ihrem Theater. Bis dahin schien ihr alles Behelf: dieses Spiel auf allen Bühnen der Welt als Gast und Fremdling, oft in einer anderen Sprache als ihre Mitschauspieler, in Rollen fremder Dichter. So träumt sie von einem Theater wie der antiken Schaubühne, die die Menschen zum heiligen Fest vereinigte. Sie hatte sich das »bürgerliche Drama«, das fast immer, trotz aller unbürgerlichen Gewürze, in der Trivialität des Alltags steckenblieb, übergespielt bis zum Ekel. Was Wagner in Bayreuth schuf, das schwebte ihr vor: das teatro del marmo sul colle romano, auf den Albaner Bergen, wo der Schauspieler stünde »wie ein Priester, wie ein Seher, mit frommen Gebärden beglückende Worte verteilend, königlich ausstreuend, was der Dichter in seine Hände gelegt hat«. Dies zu schaffen schien ihr nun möglich, weil das neue Drama da war.
Und so ging sie als Blinde über das von Mohn überblühte Trümmerfeld von Argos, der città morta, unter dem der Helm des Agamemnon und das Geschmeide der Klytämnestra vergraben ist; und lauscht, bebend unter den Schauern vergangen-gegenwärtiger Schicksale, der Klage der Antigone, die ihr Bianca Maria in der Marmorloggia angesichts des Löwentors vorliest. So spielt sie die hilflose Schönheit antiker Torsi als Silvia Settala, der die Arme durch die stürzende Statue verstümmelt sind. Und sie macht aus dem fast an die Grenze des Erträglichen gehenden artistischen Effekt, daß die Mutter dem ahnungslos liebeheischenden Kind die Umarmung nicht mehr erwidern kann, einen Sieg des Herzens, das sich den Ausdruck der höchsten Innigkeit nur durch das Antlitz erzwingt. So gibt sie sich dem Liebestod der Francesca von Rimini hin, und es gelingt ihr, die trunkene Schönheit von Melodien und Bildern, mit denen d'Annunzio die Geschichte aus dem Mittelalter, in das sie gehört, in die Renaissance hinübergezogen hat, wieder mit den Schauern von Dantes Inferno zu erfüllen, aus denen erst die letzte tragische Gewalt dieses Liebesschicksals aufsteigt.
Es ist über die Kunst von Eleonora Duse nicht soviel geredet worden wie über das Verhältnis zu d'Annunzio. (Darin mußte sie die sensationsbegierige Natur des Theaterpublikums am peinlichsten erfahren.) Er selbst hat in dem Roman »Fuoco« dies Erlebnis zu Literatur verarbeitet. Es war ein unqualifizierbarer Verrat. Dem Publikum galt natürlich »Fuoco« als Quelle. Andere Literaten, wie Richard Voß, schöpften daraus den Stoff für neue Literatur. Wie es um das Verhältnis von Wahrheit und Dichtung in dieser Darstellung bestellt ist, wird allein schon durch die Tatsache beleuchtet, daß d'Annunzio ihr »Fuoco« im Manuskript vorgelesen und die Liebesgeschichte dabei ausgelassen hat. Es wäre besser, man würde die Tragödie, die sie in dieser Verbundenheit erleben mußte, an der tieferen Stelle suchen, an der sie sich in Wahrheit vollzog – in der künstlerischen wie in der menschlichen Sphäre.
Ihr war ihre Kunst Religion, das heißt, ein Gegenstand der letzten Hingabe und des Opfers. Sie suchte, wie sie einmal selbst sagt, auf der Bühne nicht den Erfolg, sondern die »Zuflucht« – le refuge, die Stätte der Entselbstung im Dienste eines höheren Lebens. Ihr war kein Einsatz zu hoch, um die Schaubühne zu scharfen, sie opferte unbedenklich für das, was die Sehnsucht ihrer Natur war: an das Höchste hingegeben sein Leben zu erfüllen. »Um zu leben, muß man Opfer sein können«, hat sie einmal gesagt. So warf sie ihr ganzes Selbst, ihre Natur in ihre Kunst hinein. Der gleiche fundamentale Gegensatz, der sie Sarah Bernhardt gegenüberstellte, trennte ihr Wesen von dem d'Annunzios. Bei ihr war alles Hingabe, bei ihm alles Berechnung, auch in der Kunst. Er hat nie ein Opfer gebracht, auch nicht für sein Werk. Die groteske, an Wahnsinn streifende Breite seiner persönlichen Lebensbedürfnisse, von der sein Kammerdiener erzählt, ist das peinliche Zeugnis seiner Ichbezogenheit. Er fühlte sich als Renaissancemensch, aber er besaß von den Zeitgenossen Lionardos und Lorenzos des Prächtigen nur die genießerischen Nerven und die Skrupellosigkeit. Sein Herz war so armselig wie sein Geist glänzend, reich und schwungvoll. Und sie, die, ohne sich der Fülle der eigenen Seele bewußt zu sein, manchen flachen Geschöpfen des Gesellschaftsdramas ein glühendes Leben schenkte – wie hätte sie sich nicht in die edlen Formen seiner Kunst ausströmen sollen? Wie hätte nicht das gegenseitige Verständnis für Kunst in ihren subtilsten Schattierungen die ernsteste Künstlerin ihrer Zeit sich immer von neuem beschenkt fühlen lassen sollen? Und wie hätte nicht diese Verbundenheit in der höchsten Aufgabe, die sie kannte, ihrer Aufgabe, sich auch mit der Wärme ihrer Seele füllen sollen? Sie glaubte an seine hohe Begabung und sah seine Gefahren, und für diese zu ihrer Zeit einzige Begabung fühlte sie sich mit verantwortlich.
»Vita dura – che bisogna o ferire o essere feriti« – »Hartes Leben, das zwingt zu verwunden oder verwundet zu werden.« Je reiner, großmütiger, vorbehaltloser, heißer sich ein Mensch in das Leben hineinwirft, um so wehrloser ist er. Sie hatte keine Möglichkeiten, dem Schicksal vorzubeugen oder auszuweichen. Sie war in allem ganz und setzte immer alles aufs Spiel. Sie konnte nicht vorsichtig mit Reserven wirtschaften, auf die man sich scheiternd zurückziehen kann. Sie gewann oder verlor immer alles. Meist verlor sie. Denn man kann wohl nicht sich selbst zum klingenden Instrument alles Menschlichen machen, ohne auch das persönliche Schicksal mit einer Intensität ohnegleichen zu erleben. Diese Intensität, die aus ihren unglaublich leidenschaftlichen Briefen und Telegrammen atmet, entzieht ihr Leben allen alltäglichen Maßen. Und darum verlor sie den Klügeren, Kälteren, den Genußmenschen gegenüber! Denn wer konnte solche Kraft und Glut, solchen vollen seelischen Einsatz in seinem Leben beherbergen und unterbringen? Wer entfloh nicht den unbewußten Ansprüchen einer solchen Seele? So wird sie, als Künstlerin wie als Frau, die Pellegrina appassionata. Und irgendwo, irgendwann schwebt ihr immer die »vollkommene Befreiung« vor, auf die nach einem Brief aus dem Jahr 1920 ihre Gedanken einzig gerichtet waren, und die sie einmal zu gewinnen hofft.