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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Zwei Wohlthäter

Der Rentier Powis bewohnte ein schönes Haus in der Washingtonstreet. Es war mit allem Comfort ausgestattet, den ein wohlhabender Mann sich gestatten kann. Es fehlte nicht an Teppichen aus den Treppen und Gobelins in den Prunkzimmern. Alles war vornehm, bequem und geschmackvoll. Rechnet man zu diesem Wohlstande ein zufriedenes Gemüth und ein verträgliches Eheleben, so hätte man glauben sollen, daß Mr. Powis und seine Gattin vollkommen glücklich wären.

Wenn man aber den alten Herrn an einem Morgen des Augustmonats mit sorgenvoll gekräuselter Stirn, die Hände auf dem Rücken im Wohnzimmer auf und abschreiten sah, wobei er zuweilen innehielt und gestikulirte, ohne zu sprechen, und wenn man Mrs. Powis, die in der Ecke des Divans saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, sah, wie sie ihr trotz der Jahre noch hübsches, volles Antlitz mit bekümmertem Ausdruck bald auf ihren Gatten heftete, bald seufzend auf ihre Arbeit senkte, so konnte man ohne viele Mühe schließen, daß sich eine Wolke des Kummers zwischen Mr. Powis und die Sonne seines Glückes geschoben habe.

Das beiderseitige Schweigen hatte vielleicht eine Viertelstunde gedauert, da hielt Mr. Powis in seinen Wanderungen durch das Zimmer inne und blieb, seine kleine Figur aus der gebückten Haltung emporrichtend, vor seiner Frau stehen. Als diese ihr rundes Gesicht zu ihm aufhob schimmerte eine Thräne in ihren Augen.

»Ja, nun ist das Unglück da, Hetty,« redete er sie an. »Ich glaube, ich kann im ganzen Leben nicht wieder froh werden, und nun gar, wenn ich Dich traurig sehe, dann möchte ich mir die Haare ausraufen.«

»Ich gebe Dir keine Schuld, lieber Patrick,« entgegnete sie sanft, ihm ihre fleischige weiße Hand reichend. »Du hast nur Dein Recht verfolgt.«

»Ah, bah! mein Recht verfolgt!« widerholte er bitter. »Du willst mich nur beruhigen und trösten, lieber Schatz. Aber das bringt die Vorwürfe nicht zum Schweigen, die ich mir selber mache. Ja, ich muß gestehen, daß ich anfänglich nur zu meinem Gelde kommen wollte, als ich die unselige Geschichte anzeigte. Hätte ich ahnen können, daß dieselbe so unheilvoll werden würde, ich hatte ja mit Freuden darauf verzichtet. – Aber wie konnte ich denken, daß dieser Mr. Powel einer solchen That fähig wäre.«

»Du hälst ihn also für schuldig, lieber Patrick?«

»Ich muß wohl. Aber als ich ihn heute so vor den Schranken des Gerichts stehen sah, seine ruhige, gefaßte Haltung, sein offenes Wesen, seine Festigkeit und Würde, die nur das Bewußtsein der Unschuld zu geben vermag, da tauchte zuerst der fürchterliche Gedanke in mir auf: Mein Gott, wenn der Mann unschuldig verurtheilt würde! Mit Zittern sah ich dem Spruch der Geschwornen entgegen und hätte sie auf den Knieen anflehen mögen, daß sie ihn freisprechen sollten, aber sie sprachen das »schuldig« fast einstimmig aus; und Mr. Powel wurde zu 3 Jahren Gefängniß verurtheilt!«

»Entsetzlich, wenn er unschuldig wäre, unser Lebenlang müßten wir uns Vorwürfe machen, an seinem Unglück schuld zu sein.«

»Ich habe mir zu meinem Trost einreden wollen, daß er doch schuldig sei, und daß seine Berufung auf Mr. Crofton, von dem er das Geld bekommen haben will, nur eine Ausrede sei, aber wenn – ich dann andrerseits wieder an das offne Wesen des Mannes denke, an die Art und Weise, womit er mir entgegenkam, wie er bestürzt war, als er erfuhr, daß ich den Brief nicht bekommen habe, und wie er selbst aus die Untersuchung drang, so steigen in mir doch wieder Zweifel auf an seiner Schuld.«

Mrs. Powis nickte beistimmend.

»Mein Gott, ich komme mir vor wie ein alter herzloser Geizhals,« fuhr Mr. Powis fort, »der wegen ein paar Goldstücke seinen Nächsten an den Galgen bringt. – Die Haare möchte ich mir ausraufen, Hetty!«

»Und die arme Familie!« fügte Mrs. Powis hinzu. »Es soll eine sehr brave Frau sein.«

»Ja, und kränklich. Sie war heute nicht da in der Verhandlung. Ich hörte, daß sie auf den ausdrücklichen Wunsch ihres Gatten nicht kam. Der Schlag hätte sie auch vernichtet.«

»Ich glaube, bester Patrick, das einzige Mittel, wie wir unsre Schuld an diesem Unglück einigermaßen wieder gut machen können, wird sein, daß wir uns der Familie mit allen Kräften annehmen.«

»Dann habe ich auch gedacht, ich werde auch sogleich zu der unglücklichen Frau gehen.«

»Thu das, und grüß sie und sage ihr, daß wir sehr entfernt sind, an die Schuld ihres Mannes zu glauben – thu es, lieber Paddy.«

Mrs. Powis pflegte den Vornamen ihres Mannes in dieser Weise stets abzukürzen, wenn sie ihn besonders zärtlich anreden wollte, namentlich wenn sie ihm eine Bitte vortrug, an deren Erfüllung ihr außerordentlich viel lag. Sie unterstützte ihre Bitte bei dieser Gelegenheit noch dadurch, daß sie seinen runden Kopf mit ihrem fleischigen weißen Arm umfaßte und einen zärtlichen Kuß auf seine Wange drückte.

»Ich werde es thun,« sagte Mr. Powis; »obwohl ich das eigentlich nicht sollte, denn ihr versichern, daß ihr Mann unschuldig ist heißt eben so viel, als Mr. Atzerott des Verbrechens anklagen.«

»Offen gesagt, lieber Patrick,« entgegnete Mrs. Powis, »halte ich Atzerott eines solchen Verbrechens eher fähig.«

»Lieber Schatz, woran denkst Du!«

» »Ich sage nichts gegen Mr. Atzerott Patrick, ich schätze ihn, weil er ein Mann von Deiner Partei ist, und weil Du deshalb mit ihm befreundet bist. Aber ich kenne Mehrere von der Partei des Südens, die mir durchaus nicht gefallen. Namentlich hat Mr. Atzerott für mich etwas Widerwärtiges.«

»Du thust ihm Unrecht, Hatty. – Wie hätte er es mit ansehen können, daß ein Mann bestraft wird, wegen eines Verbrechens, das er selbst beging. Glaube nur, er hat einen viel besseren Charakter als Du denkst!«

Mr. Powis hatte inzwischen seinen Hut in die eine und seinen Stock in die andere Hand genommen und drückte jetzt zum Abschied seiner Frau einen herzhaften Kuß auf den freundlichen Mund.

»Adieu,« sagte er; »ich gehe jetzt zu Mrs. Powel.«

Als er eben nach der Thürklinke griff, wurde dieselbe von außen geöffnet, und Mr. Atzerott trat ihm entgegen.

»Ah, Sie wollen eben ausgehen wie ich sehe?« sagte er mit häßlich erzwungener Freundlichkeit, während er sich zugleich tief vor Mrs. Powis verneigte.

Die Dame aber erwiderte seinen Gruß ziemlich frostig und mit einem Blick, in welchem sich alle Vorwürfe wiederholten, welche sie soeben ihrem Gatten gegenüber hatte laut werden lassen.

»Sie kommen vermuthlich,« sagte Mr. Powis, »um uns von dem Ausfall des Prozesses Nachricht zu geben? – Ist nicht nöthig, ich war in der Sitzung gegenwärtig.«

»So, Sie also wissen schon ...?«

»Ja ich weiß, daß Mr. Powel verurtheilt ist, und bin eben im Begriff zu seiner Frau zu gehen.«

»Das macht Ihrem guten Herzen alle Ehre, Mr. Powis. Die Lage der Familie ist in der That beklagenswerth.«

»Wenn diese Theilnahme mehr ist als ein leeres Wort,« bemerkte Mrs. Powis, »so habe ich Ihnen in meinem Herzen Unrecht gethan.«

»Ich hoffe, werthe Dame, daß ich bei Ihnen nicht im Verdacht der Hartherzigkeit und Grausamkeit stehe; und versichere, daß diese Theilnahme mehr ist als ein leeres Wort.«

»Nun dann bitte ich Sie um Vergebung, Mr. Atzerott; und freue mich das thun zu können.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie Ihre üble Meinung von mir geändert haben. Ich fürchte, Mrs. Powel hat eine eben so schlimme Meinung von mir. Aus Zartgefühl habe ich daher vermieden, sie mit meiner Gegenwart zu belästigen. Sie ahnt nicht, daß ich es war, der sie an diesem Morgen, nach der traurigen Katastrophe, mit einer Sendung erfreute ...«

»Wie, Sie hätten der Dame eine Unterstützung zukommen lassen?«

»Ich hörte, daß sie in großer Noth sei, daß sie bereits ihre nothwendigsten Kleider verkauft habe, und deshalb sandte ich ihr anonym einen vollständigen, sehr eleganten Anzug, auch Kleider für ihre Kinderchen.«

Mr. Powis wandte seiner Gattin einen trinmphirenden Blick zu, als wollte er sagen:

»Siehst Du, daß ich Recht hatte, als ich behauptete, Mr. Atzerott ist besser als Du denkst?«

Seine Gattin verstand diesen Wink, und bat mit Blicken mehr als mit Worten ihren Mann und seinen Freund für ihr Mißtrauen um Verzeihung.

»Lieber Patrick,« sagte sie zu dem Ersteren, »die Handlungsweise Deines Freundes Atzerott gefällt mir besser als das, was Du thun wolltest. Es wäre am Ende für die Dame demüthigend, Wohlthaten von uns anzunehmen, laß uns ihr dieselben ebenfalls anonym erweisen.«

»Das soll geschehen, mein Schatz, aber ich« will doch zu ihr gehen und sehen, wie sie den Schlag erträgt, der sie heute getroffen.«

*

Mrs. Powel hatte in ihrer ärmlichen Wohnung eben das karge Mittagessen für ihre Kinder zurecht gemacht. Obgleich dasselbe nur aus einer Suppe und ein wenig Brod bestand, so verzehrten es die Kinder doch mit dem allerbesten Appetit. Sie selbst hatte keinen Hunger, sondern saß weinend neben der Wiege ihres jüngsten Kindes, eine Näharbeit für ein Ladengeschäft auf den Schooß.

Sie konnte nicht arbeiten, die Thränen verdunkelten ihre Augen, daß die feinen Stiche ihr ineinanderschwammen.

Da klopfte es. Schnell verwischte sie die Spuren ihrer Traurigkeit und rief mit schwacher Stimme:

»Herein!«

Es war ein Packetträger, der eine Holzkiste brachte, deren eingeschobener Deckel mit einem Riemen zugeschnallt war.

»Ein Herr, der es mit Ihnen gut meint, schickt Ihnen das,« sagte der Mann, »und läßt Ihnen wünschen, daß sie's mit Gesundheit vertragen mögen.«

Mrs. Powel war verwundert. Wer konnte ihr etwas schicken – wer hatte für sie und die Ihrigen Mitleid? – Sie öffnete den Deckel. Ein schwarzseidener Paletot lag oben auf, darunter ein schwarz und weiß gewürfeltes seidenes Kleid und ein roth und grün karirtes Halsband; dann kam Kinderzeug – ihr Erstaunen wuchs.

»Wer schickt das?« fragte sie.

»Ich kenne den Namen des Herrn nicht,« antwortete der Packetträger.

»Wie sah der Herr aus, der Ihnen das übergab?«

»Es ist mir verboten, irgend eine Andeutung darüber zu machen. Der Herr will ungekannt bleiben. – Adieu, Ma'am.«

»Seltsam,« murmelte sie. »Wer kann sich für mich und mein Unglück interessiren? Ich weiß Niemand; – es muß ein reicher Mann sein, denn die Kleider sind kostbar – viel zu kostbar für ein so elendes Weib wie ich bin. Ach, es gab eine Zeit, wo ich solche Kleider trug; wo ich solche Geschenke von meinem lieben Mann erhielt.«

Dieser Gedanke entlockte ihr neue Thränen und schluchzend saß sie eine Weile neben den ausgepackten Kleidern. Der Jubel der Kinder beim Anblick der für sie bestimmten schönen Kleider zerstreute ihren Kummer und schon nahm sie ein Jäckchen, um ihrem ungestümen Söhnchen dasselbe anzuziehen, da rief das Weinen des erwachenden Säuglings sie an die Wiege desselben.

Ihre Kränklichkeit hatte sie gezwungen, dem Kinde die Nahrung der Mutterbrust zu entziehen, die ihm bis jetzt das Leben erhalten« Eine Mischung von gewöhnlicher Milch mit Wasser und Zucker sollte die gewohnte Nahrung heute ersetzen, aber das Kind sträubte sich mit aller Gewalt, mit Händen und Füßen strampelnd, gegen diese Kostveränderung

»Oh, mein Gott,« sagte sie, während sie das Kind auf dem Schooße hielt und sich vergebens bemühte, es zum Annehmen der neuen Nahrung zu bewegen. »Was soll ich thun? – Ich kann ja nicht mit meiner Brust Dich nähren. Ich muß Kräfte behalten, für Dein Brüderchen und Schwesterchen zu arbeiten.«

Laut schluchzend und mit Thränen in den vom Weinen gerötheten Augen beschwor sie in den rührendsten Ausdrücken das schreiende Kindchen, als ob dieses die Worte, die der Schmerz der Mutter ihr auspreßte, hätte verstehen können. – Sie war in Verzweiflung, denn von dem Gelingen hing ja das Leben ihres Lieblings ab.

Herzzerreißend war ihr leises Bitten, ihr Weinen und Jammern, und dem Manne, der ungesehen Zeuge dieser Scene war, traten Thränen in die Augen.

Es war Mr. Powis. Das laute Schreien des Säuglings hatte die Mutter verhindert, sein Klopfen zu hören, und da keine Aufforderung zum Hereinkommen erfolgt war, so war er unbemerkt in die Stube getreten und war nun, vor der Gruppe stehend, Zeuge dieser kleinen, aber ergreifenden Familienscene.

Mrs. Powel ließ erschrocken ab von ihren vergeblichen Bemühungen, als sie den fremden Herrn gewahrte. Die Kleinen schauten ihn neugierig an. Gerührt und verlegen ließ er seine Blicke von Einem zum Andern schweifen, ehe er sich räuspernd begann:

»Mein Name ist Powis. Ich bin die unschuldige Ursache Ihres Kummers, –Ma'am, und habe es deshalb für meine Pflicht gehalten, mich nach der Familie des Mannes umzusehen, der – ich muß es sagen – gegen meinen Wunsch und Willen in's Unglück gerathen ist.«

Der alte Herr hatte sich nach dieser Einführung auf einen starken Ausbruch von Vorwürfen oder gar verzweifelten Verwünschungen gefaßt gemacht, und hätte das der unglücklichen Frau gewiß nicht übel genommen, doch von alledem erfolgte nichts.

Still und ergeben ließ die Frau von dem Säugling, der sich müde geschrien zu haben schien und wieder eingeschlafen war, ab, holte einen Stuhl herbei und ersuchte den fremden Herrn, sich niederzulassen.

Powis ließ prüfend seine Blicke durch das ärmliche Zimmer schweifen und fand, daß Alles, trotz der Armuth, sauber und reinlich sei, dann redete er die junge Frau an:

»Sagen Sie mir, verehrte Frau, ist es nicht möglich, daß ich etwas von dem Unglück wieder gut machen kann? – Meine liebe Frau und ich, wir fühlen uns so niedergeschlagen, daß es uns Bedürfniß ist, Ihnen Ihre Lage so viel wie möglich zu erleichtern. Sagen Sie mir, Mrs. Powel, kann ich nichts für Sie thun?«

»Mrs. Powel schüttelte erst langsam den Kopf, dann richtete sie ihre verweinten Augen auf den alten Herrn und sagte mit rührender Stimme:

»Geben Sie mir meinen Gatten wieder, Sir, und meinen Kindern den Vater, und ich will Ihnen auf den Knien dafür danken und Ihnen gern Alles verzeihen, was Sie an uns gethan haben.«

»Das steht leider nicht in meiner Macht,« entgegnete bewegt der alte Herr. »Wenn es auf mich ankäme, ich wollte gern Verzicht leisten auf das Geld – schon um Ihretwillen –«

»Sie glauben also auch an die Schuld meines armen Mannes?« unterbrach sie ihn.

»Ich gestehe, daß ich daran geglaubt habe,« erwiderte er. »Allein wenn ich mir Ihren Mann und sein ehrenhaftes Wesen vergegenwärtige, und besonders, nachdem ich Sie, beste Frau, und Ihre lieben Kinderchen gesehen, und einen Blick in Ihre Häuslichkeit gethan habe, jetzt möchte ich darauf schwören, daß er unschuldig ist.«

»Tausend Dank!« rief Mrs. Powel, indem sie aufstand und ihm herzlich die Hand drückte. »Ihre Worte sind Balsam für mein armes Herz. Oh, halten Sie diesen Glauben ja fest, denn ich schwöre Ihnen, so wahr ein Gott über uns lebt, der uns Alle einst richten wird, so wahr ist mein Mann unschuldig an dem Verbrechen, das ihm lediglich durch die Bosheit eines Menschen, jenes Atzerott aufgebürdet ist.«

»Ich glaube Ihnen, Ma'am,« antwortete Mr. Powis, »von Herzen gern glaube ich, daß Ihr Mann unschuldig ist, aber ich glaube auch, daß Sie gegen Mr. Atzerott zu hart verfahren, wenn Sie ihn beschuldigen, absichtlich und aus Böswilligkeit das Unglück über Sie gebracht zu haben. Sie kennen ihn nicht.«

»Ich hasse ihn. Es ist der einzige Mensch auf der Welt, den ich hasse und verabscheue.«

Mr. Powis machte ein sehr betrübtes Gesicht.

»Der arme Atzerott. Er hat es nicht um Sie verdient. Sie wissen nicht – es ist mir zwar verboten, davon zu sprechen, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen eine bessere Meinung von dem Manne zu geben, der so viel Theilnahme für Sie empfindet und so zartfühlend ist, Ihnen seine Wohlthaten zukommen zu lassen, ohne Ihnen seinen Namen zu nennen.«

Mrs. Powel schaute ihn mit großen Augen an. Eine Ahnung stieg in ihrer Seele auf. Ihre Blicke fielen auf die Kiste und die daneben liegenden Kleider.

»Also das ist von ihm?« fragte sie, ihre Stirn in Falten ziehend.«

»Ja, das ist von Mr. Atzerott,« bestätigte Powis. »Er verbot mir zwar, seinen Namen zu nennen, aber ich kann es einmal nicht ansehen, wenn Jemandem Unrecht geschieht.«

Mrs. Powel antwortete nichts, aber daß sie sofort einen Entschluß in ihrem Herzen faßte, konnte man ihrem Gesichte ansehen.

»Weil ich nun eben nicht ertragen kann,« hob Mr. Powis nach einiger Zeit wieder an, »daß irgend Jemandem ein Unrecht geschieht, so liegt es mir schwer auf dem Herzen, daß Ihr Mann vielleicht unrecht leiden muß. Wie gern möchte ich etwas für ihn thun, um seine Unschuld an den Tag zu bringen, wenn ich nur wüßte; wie das geschehen soll?«

»Jetzt ist's vorbei,« antwortete die junge Frau schluchzend, »der Richterspruch, der heute über ihn gefällt ist, ist nicht mehr umzustoßen – oh, mein Gott!«

Mit dem Taschentuch ihr Antlitz bedeckend, begannen ihre Thränen von Neuem zu fließen. Mr. Powis fühlte die innigste Theilnahme für sie.

»Verzweifeln Sie nicht, liebe Frau,« sagte er wohlwollend. »Vielleicht läßt sich in der Appellation etwas ausrichten. Ich werde zu einem geschickten Rechtsanwalt gehen und dem die Sache vortragen. Wenn Sie sich beruhigt haben, so bitte ich Sie, mir den ganzen Vorgang noch einmal genau zu erzählen.«

Die Züge des alten Mannes drückten das herzlichste Mitgefühl aus, so daß Mrs. Powel im Herzen Gott dankte, daß er ihr diesen Mann zum Troste gesandt habe.

Sie erzählte Alles, was sie über das unglückliche Ereigniß wußte. Sie betonte fest und bestimmt, daß ihr Mann von dem Briefe weiter keine Zeile gelesen, als die Anrede, daß er das einliegende Geld nicht berührt, und daß er die bei ihm gefundenen Goldstücke wirklich von seinem alten Freunde, Mr. Crofton, erhalten habe. Sie erzählte das Alles von der vollen Wahrheit durchdrungen in so einfacher, natürlicher und doch so überzeugender Weise, daß dem alten Herrn auch die letzten Zweifel an der Unschuld des Verurtheilten schwanden.

Als Mrs. Powel ihren Bericht geendet hatte, fügte sie offen und ohne Rückhalt aber ohne Bitterkeit hinzu, daß sie mit ihren Kindern durch ihres Mannes Verhaftung und die Wegnahme des Geldes, das er von Mr. Crofton erhalten, an den Rand des Abgrundes gebracht worden sei, und daß ihre Kräfte nicht lange ausreichen würden, um für sich und ihre Kinder zu arbeiten.

Bei dem alten Herrn stand es längst fest, was hier zu thun sei, mit vor Freuden klopfendem Herzen stand er auf und mit der Versicherung, daß er Alles für Mr. Powel thun werde, was in seinen Kräften stehe, empfahl er sich der dankbaren Frau.

Als er die Thür hinter sich geschlossen und die schmale Treppe hinabging, murmelte er vor sich hin:

»Hier muß ich helfen, aber anonym. Sie muß den Wohlthäter nicht kennen – ich verdiene auch ihren Dank nicht.« – –

Die beiden ältesten Kinder der Mrs. Powel hatten schon längst auf das Weggehen des alten Herrn gewartet, dessen Eintritt die Mutter verhindert hatte, ihnen die neuen Kleider anzuziehen, die in der Kiste angekommen waren. Sie fanden sich aber sehr enttäuscht als sie hofften, daß nunmehr ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde. Zu ihrem größten Erstaunen mußten sie sehen, daß ihre Mutter die schönen Sachen alle wieder einpackte, den Deckel einschob und denselben mit dem Riemen festschnallte.

»Warum ziehst Du mir denn nun die neue Jacke nicht an Mama?« fragte der blondlockige Knabe mißmuthig.

»Weil ich sie zurückschicken muß, mein Söhnchen,« antwortete die Mutter. »Gräme Dich deshalb nicht, liebes Kind, wenn Papa wiederkommt, erhältst Du eine viel schönere Jacke.«

»Nein, bitte, Mama, laß mir die Jacke,« bat das Kind.

Die Mutter schüttelte den Kopf.

»Weißt Du von wem die Jacke ist? – Sie ist von dem bösen Mann, der uns den Vater weggenommen hat. – Nicht wahr, von dem willst Du keine Jacke annehmen?«

Der Kleine machte ein trauriges Gesicht.

»Nein, Mama,« erklärte er. »Wenn die Jacke von dem ist, so schicke sie ihm nur wieder, und sag ihm, daß wir ihn Alle nicht leiden können und seine Geschenke nicht haben wollen.«

Während Mrs. Powel das schlafende jüngste Kind der Obhut ihrer ältesten Tochter anvertraute, belud sie sich mit der Kiste und stieg damit die Treppe hinab.


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