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Vierzehntes Kapitel

Drunten, in den großen volkreichen Ebenen vollendete sich das Vernichtungswerk. Selten wurden die Nahrungsmittel; wer noch welche besaß, versteckte sie, vergrub sie, schaffte sie fort. Wer an den Landstraßen wohnte, wo die heimatlosen Massen aus den Städten wanderten, zog fort, versuchte sich zu verbergen in den Wäldern, in alten Hütten und Weilern. Aber auch dort saßen schon Menschen, einheimische oder geflüchtete, und verwehrten den Neuankommenden den Zutritt.

Wer auf den Straßen Lasten mit sich trug, wurde mehr als einmal überfallen von Hungernden oder einfach von Räubern. Wer wollte Ordnung halten, da keine Schußwaffe mehr vorhanden war und nur das Recht des Stärkeren galt, der rascher seinen Knüppel führte als das unglückliche Opfer?

Die ersten Wochen war es still gewesen am Eingang zum Tale von Saas-Fee. Der Bergrutsch an der Bodenbrücke, die zerfallene Brücke selbst, die nun tief unten im Bette der schäumenden Visp lag und keinerlei Verbindung mehr gestattete zwischen unten und oben, schützten.

Dann aber kamen die ersten vor das Tal gezogen, am Monte-Moro-Paß standen sie eines Abends, mit leeren Händen, hungernd, den Schrecken im Gesicht, vier Männer und eine Frau, dazu zwei Kinder. Auch am Ofenpaß und am Mittelpaß tauchten sie auf, entsetzte Flüchtlinge aus der oberitalienischen Ebene, die die Angst bis hierher, auf die höchsten Kämme der Alpen gejagt.

Da standen sie nun und bettelten um Einlaß, verstörte Vorboten der großen Elendsarmee, nicht begreifend, daß hier Menschen standen, die Waffen in den Händen hielten und kaltherzig die Flehenden wieder zurückschickten in die eben flüchtend durchmessenen Täler, hinunter in das Grauen der beginnenden Auflösung und Vernichtung.

Zuerst hatte Anthanmaten Mitleid gehabt. Als einmal zwei Frauen und ein Mann gekommen waren, bettelnd um einen Trunk Milch, um einen Bissen Brot, hatte er sie eingelassen, hatte ihnen einen Mann mitgegeben und zu Erlinspiel geschickt. Frauen könne man nicht wegschicken, hatte er sagen lassen. Und von dem Manne hätten die beiden sich nicht trennen wollen. Werner solle entscheiden, was nun mit ihnen geschehen müsse.

Da standen die drei also nun vor Erlinspiel und sahen ihn bittend aus fieberheißen Augen an. Sie waren schon ganz zerstört, das Feuer ihrer Augen flackerte und Erlinspiel erschrak, er fühlte, daß das nicht nur die Not und die Angst und der Schrecken sein konnte. Er rief Doktor Füßli, und das war gut so. Füßli nahm die Kranken sogleich mit in eine einsam liegende Hütte, und was er nach drei Stunden berichtete, jagte Erlinspiel den Schrecken ins Blut. Füßli kam und sagte nur ein Wort: Cholera.

Darauf rief Werner Anthanmaten zu sich. Er sprach eindringlich mit ihm, und seit diesem Tage ließen die Leute der Wachen keinen Menschen näher als auf zehn Schritt an sich heran, mochte es Mann oder Frau oder Kind sein.

Helfen wollten sie gern, – aber die Pest ins Tal, da sei Gott davor. Abends in den Hütten wisperten sie. Daß es so aussah draußen in der Welt! Daß schon die Seuchen umgingen und heraufstiegen bis ans Tal! Es wurden viele Bittgebete gesprochen zu Gott, zur Jungfrau und manchen Heiligen. Auch zwei Kerzen wurden aufgestellt in der kleinen Kapelle und Räucherwerk verbrannt, für Rettung aus Not und Gefahr.

Erst jetzt war Erlinspiel wahrhaft der Gesandte des Himmels.

Er allein hatte das Tal von Saas gerettet.

Und er hatte an alles gedacht! Wenn Werner allerdings allein sich Rechenschaft gab über sein Verdienst, dann schien ihm alles, was er getan, klein und ziellos, und nur ein gütiges Geschick hatte ihn blind das Richtige tun und finden lassen. Er dachte daran, wie er am letzten Tage in Genf eine Haustelephonanlage in einem Geschäft gesehen hatte, die mit kleinen Akkumulatoren betrieben werden konnte. Tausend Stunden Betriebsdauer wurden garantiert. Hatte er damals diese Anlage bewußt gekauft? Sicher nicht, er hatte sie einfach mitgenommen, wie er alles an jenem Tage zusammengekauft hatte, was ihm gut und nützlich erschienen war. Jetzt war dieses einfache Telephon fast unentbehrlich. Es wurde kaum zum Sprechen benutzt, es genügte, wenn verschiedene Klingelzeichen ausgetauscht werden konnten. Die Anlage mußte geschont werden, denn niemand wußte, wie lange man hier in dem Tale saß wie in einer belagerten Festung. Zumindest bis in den späten Oktober hinein mußte man auf der Hut sein. Dann würden die Schneefälle kommen und jeden Verkehr über die Pässe unmöglich machen. Jetzt aber war Mitte August. Gerdis besorgte den Dienst in der Zentrale. Sie tat tapfer und still ihre Pflicht. Neben ihr herrschte der alte Zurbriggen und gab scharf Obacht, daß alles im Tal den rechten Gang ginge.

Täglich kamen jetzt die Menschen die Paßwege hinaufgeklettert. Viele trugen den Tod im Gesicht, viele brachen auf der Höhe zusammen, viele aber auch versuchten mit Gewalt den Eingang ins Tal zu erzwingen.

Dann mußten die Revolver, die Gewehre sprechen. Bei den ersten Schüssen stob zumeist die ganze Gesellschaft wieder südwärts die Hänge hinab. Werner mußte sich eingestehen, daß es nicht leicht war, auf diese verzweifelten, aus der Ordnung geratenen Menschen zu schießen, aber seitdem sich die Typhus- und Choleraleichen auf den Anmarschstraßen im Süden häuften und die Grenzwachen täglich die Sterbenden sahen, wurde es ihnen weniger schwer, ohne Ausnahme alle Einlaßheischenden abzuweisen.

Und wie es an den Pässen war, so war es bei Huteggen drunten im Tal. Da kamen sie herauf und wollten weiter nach Süden, wie die aus dem Süden nach Norden wollten. Aus Lausanne kamen sie und aus Genf, aus Sitten und gar schon aus Bern, und sie erzählten schlimme Geschichten von Mord und Gewaltherrschaft räubernder Banden. Sie baten und flehten, sie weinten und warfen sich auf die Knie, aber der junge Othmar Supersaxo, der hier unten das Kommando führte, dachte an die drei Leichen droben in der einsamen Hütte und dachte an Maria Zurbriggen, die junge, – und ließ niemanden ein.

Nur wer im Tale Verwandte hatte, durfte hinein, aber auch der mußte durch die Quarantänestation bei Balen gehen, wo er einen Monat lang von Dr. Füßli beobachtet wurde. Erst wenn er diese Zeit gesund überstand, wurde er in die Talgemeinschaft aufgenommen.

Dann aber reichten die einfachen Beobachtungsposten bald nicht mehr aus. Je mehr der Hochsommer voranschritt und dem Herbste sich zuneigte, desto größer wurden die Scharen, die Einlaß heischend vor dem Tale erschienen. Sie kamen jetzt nicht nur von Süd und Nord, sie versuchten auch aus dem Simplontal über die Bergketten zu steigen, und Werner mußte an allen Paßwegen, mochten sie auch noch so klein und verwegen sich über die Gletscher und Schroffen ziehen, Posten aufstellen. Mit gewaltigen Holzgittern sperrte er nun alle Straßen, so daß wenige Burschen an jedem Weg genügten, die Wache zu halten. Draußen in der nahen Welt mußte ein großes Gerücht über das Tal gehen, denn oftmals trafen die Wachen zum Simplon Leute, die sie eine Woche vorher bereits in Huteggen abgewiesen hatten, oder die vor längerer Zeit ihr Glück am Monte Moro versucht hatten, erschienen am Oferbergpaß.

Von Zermatt waren ein paar verwegene Burschen über den Adlerpaß und den Allalingletscher nach Saas- Fee gekommen. Eines Mittags standen sie auf der Straße, sahen sich neugierig um, schwenkten ihre adlerflaumgeschmückten Hüte und jodelten laut.

Es waren vier prächtige Kerle, vom Schlage Anthanmatens und Supersaxos und diese behielt Werner im Tal und teilte sie der Schutzmannschaft zu. Sie erzählten grauenvolle Einzelheiten, wie es im Zermatter Tal zugehe und wie in Sitten drunten einige wilde Räuberhorden ein Schreckensregiment über den allgemeinen Untergang führten, Wegelagerer, Raubritter mit Knüppeln und hölzernen Morgensternen, Geißeln der jammernden Menschheit.

So kam der Feldruf auf, der nun lange nicht mehr verstummen sollte im Tal von Saas, der Ruf, mit dem sich die Feldwachen grüßten, die Ablösungen und die Posten, in Ruf und Widerruf: Frei das Tal – – von Seuche, Not und Tod.

Übel sah es am Monte Moro aus. Nicht nur, daß er der bekannteste Paß war, seit den Tagen des Mittelalters nicht aus dem Gedächtnis der Menschen geschwunden, – er war die Zuflucht, in die sich die Elendsmassen der norditalienischen Industrieebene mehr und mehr hinaufwälzten.

Je mehr man abwies, desto mehr kamen, Gerüchte mußten weit nach Süden gelaufen sein, daß es Nahrung und Obdach dort in den Bergen gäbe, und daß man nur mit Gewalt den Eintritt erzwingen müsse, um im Paradiese zu sein.

Wieviel beim Aufstiege, von Schwäche und Schwindel erfaßt, von den steilen Felsen stürzten, wieviel vor Entkräftung auf dem Wege zusammenbrachen von den freundlichen Ufern des Lago Maggiore her auf den endlosen Steigungen bis zum Felsenkessel von Macugnaga, – wer konnte das wissen! Die aber dies alles überstanden hatten, waren unerbittlich, kein gutes Wort half und kein Zureden, kein Fluchen und kein Verbot. Wild warfen sie sich gegen die Holzgitter, die erzitterten unter dem Anprall der hungernden Leiber, der bis zum Wahnsinn erregten, leidvollen Geschöpfe.

Da half nur noch die Waffe, die donnernde, blitzende und manchmal auch tötende Waffe, vor dem Krachen der Revolver, dem Pfeifen der Kugeln, wichen auch die Wahnsinnigsten zurück, – das war ein Klang, der sie alle ernüchterte und sie heulend wieder talabwärts trieb. Gegen Gewehre hatten sie nur ihre Fäuste. Und das war nicht genug.

Aber die Wut wurde groß in den Elendslagern von Macugnaga, Pratti und auf der Alpe Bill. Und es genügte oftmals nicht, in die blaugoldene Spätsommerluft zu schießen, – es mußte mitten hinein in die Massen gehalten werden, – und dann mußten ein paar Burschen darangehen, die Leichen über die Bergschroffen hinabzuwerfen.

Es war schon ein schweres Amt, Wächter des Tales zu sein, und die junge Mannschaft, die hier auf Posten stand, wurde unversehens stiller und verschlossener. Die Zwanzigjährigen sahen aus, als seien sie weit in die dreißig. Die schwere Tat nahm sie mit und riß sie aus Jungsein und Freude.

Ein paar Ausnahmen wurden gemacht: Ärzte, Chemiker, Ingenieure sollten hereingelassen werden. Die Postenführer durften sie in abgeschlossene Hütten bringen, ihnen auch zu essen geben, dann mußten sie Erlinspiel anrufen, der Dr. Füßli zu den »Einwanderern« schickte, sie zu untersuchen. Waren sie gesund, so sollten sie bleiben dürfen. Erlinspiel hoffte so, einen Stamm tüchtiger Fachleute zusammenzubekommen, um den Aufgaben der kommenden Jahre gewachsen zu sein. Bislang freilich hatten sich nur ein Elektromonteur aus Winterthur und ein Turbinenbauer aus Genf angefunden.

Werner war fast jeden Tag unterwegs, er ritt auf einem Maultier das Tal auf und ab, bald war er in Huteggen, bald am Monte Moro, bald sprach er zu den Männern und Frauen im Tal, bald hatte er lange Beratungen mit Dr. Füßli und dem alten Zurbriggen. Er überwachte die Verteilung der Lebensmittel und den Ausschank des Weins, er sah zu, wie der Schmied von Balen versuchte, aus den Geräten, die Werner mitgebracht hatte, und aus den Eisenresten, die sich im Tunnel gefunden hatten – Träger und Absteifungen und die Bänder der Kisten –, wieder Hämmer und Sensenblätter und Pflugscharen zu schmieden. Es sah kläglich aus, was er zustande brachte, aber es war doch besser als nichts. Und Vater Supersaxo, der Schmied, schwor, daß er, bevor der Winter ins Tal komme, eine anständige Pflugschar herbringen werde.

Gerdis sah Werner jetzt nur noch auf Stunden. Manchmal rief er sie von den Außenposten her an, dann war ihre Stimme ruhig und mütterlich besorgt. Wenn er ihr gegenübersaß, war sie oft abwesend mit ihren Gedanken, sie sann vielem nach, aber sie sprach ihm nicht davon und er fragte sie nicht. Lange hatte sie unter den furchtbaren Erzählungen gelitten, die die Posten von den Pässen wußten, erst langsam hatte sie eingesehen, daß Menschlichkeit und Milde, Gutherzigkeit und Mitleid nur das ganze Tal verderben mußten. Eine alte Frau ging ihr nun noch zur Hand, sie selbst trug schwer an ihrem Kinde, das in anderthalb Monaten etwa geboren werden sollte. Wenn Werner an dies Kind dachte, rührte sich in ihm eine wilde Zärtlichkeit. Sorgfältiger noch kontrollierte er dann das Tal, so als täte er es für diesen Menschen, der kam.

Gegen Ende des Monats hatte er eine lange Besprechung mit Zurbriggen. Schließlich wurde auch noch der junge Anthanmaten dazugeholt.

Es ging um den Winter und das kommende Frühjahr, um Licht und Nahrung, um Aussaat und kommende Ernte.

»Es steht schlecht, Herr Erlinspiel«, meinte Zurbriggen. »Anthanmaten weiß das selbst, ich brauch' nicht alles zu wiederholen. Das mit der Beleuchtung geht schon noch zur Not, wir werden halt Kienspäne brennen, wenn wir den Talg der Rinder net zu Kerzen ausziehen können, weil wir ihn halt zum Essen gebrauchen. Jetzt im Sommer hats Butter und Milch genug, aber im Winter wirds hart werden. Oder sollen wir doch abschlachten?«

Werner widersprach. »Wir brauchen Milch für die Kinder. Und wenn wir heuer schlachten, wovon leben wir also im nächsten Jahr?«

»So ists recht. Dann müssen wir also in Gottes Namen sehen, wie wir uns bescheiden. Aber Brot ist halt wenig, Getreide wächst net gut da heroben.«

»Hafer wächst schon«, warf Anthanmaten ein. »Früher haben wir viel Hafer gebaut, vor hundert Jahren, aber jetzt sinds nur noch ein paar Felder.«

»Gut«, entschied Werner, »dann wollen wir den Hafer von diesen Feldern ganz als Saatgut nehmen, wir müssen im nächsten Frühjahr soviel als möglich anbauen. Das Brot muß dann sehr gestreckt werden, im Winter.«

Die drei Männer sahen vor sich hin. Zurbriggen schmauchte an seiner Pfeife, aber es war kein Tabak mehr drinnen, er rauchte sie kalt, von der Gewohnheit, sie zwischen den Lippen zu spüren, konnte er nicht mehr lassen, ob ihm auch der duftende Knaster längst ausgegangen war.

»Bis ins Frühjahr wirds langen, wenn wir streng mit uns sind«, sagte Zurbriggen schließlich, »aber die Sommermonate wirds hart werden.«

»Vielleicht können wir dann schon etwas aus den Tälern rundum erhalten«, hoffte Anthanmaten. »Korn kann man leicht verstecken und es wird nicht alles zugrund gegangen sein da heraußen. Wenn wir denen dann Vieh anbieten, – das ist sicher abgeschlachtet drunten.«

Ja vielleicht ging es so, Zurbriggen und Werner stimmten zu. Ohne Hoffnung ließ sich nichts regeln. Immer mußte irgendwo auf das Schicksal vertraut werden. Wenn es aber nicht half, dann, dachte Werner, kann man immer noch einen Teil des Viehbestandes opfern und eine Weile nur von Fleisch und Milch und Eiern leben. Lebten die Menschen im Norden nicht jahraus, jahrein von Fleisch und Fett? Warum sollten das die Bauern von Saas nicht auch einige Monate lang können?

Gerdis kam herein, sie ging schwer und langsam, aber ihre Augen waren wunderbar klar und tief. Ihre Stimme war womöglich noch dunkler und klingender geworden. Sie begrüßte Zurbriggen und Anthanmaten, lehnte sich einen Herzschlag lang leicht gegen Erlinspiel.

Während die Magd das bescheidene Essen auftrug, kam Dr. Füßli, – er hatte wieder einmal seinen Gesundheitsspaziergang gemacht – wie er es nannte, wenn er genau jeden Menschen im Tal kontrollierte und war sehr zufrieden. Nirgendwo war jemand ernsthaft krank.

Nach dem Essen nahm Werner die Beratungen wieder auf. Noch straffer, meinte er, müsse das Tal zusammengefaßt werden, noch mehr Opfer müsse jeder Einzelne auf sich nehmen.

»Das ist selbstverständlich«, brummte Zurbriggen dazwischen. »Entweder halten und helfen wir alle zusammen, oder wir gehen alle zugrund. Das weiß auch ein jeder.«

Nun, man habe eben über die Ernährungslage gesprochen, fuhr Werner fort, sie sei nicht zu sichern, wenn nicht alles Vieh und alles Land in Gemeindebesitz übergingen, und aller Ertrag auf den neu zu ackernden Feldern. »Dazu müssen alle, Männer und Frauen im Tal, drei Tag in der Woche für die Gemeinschaft arbeiten, so wie jetzt schon die junge Mannschaft an den Grenzen steht und die anderen an den Brückenstegen gebaut haben und den Gattern.«

»Die Leut hängen an ihrem Besitz«, gab Anthanmaten zu bedenken. Aber vielleicht könnte man Vieh und Ernte und Arbeit ihnen für ein Notgeld abkaufen, damit sie später etwas dafür einlösen können, wenn die Not vorüber ist?

Zurbriggen schnaufte verächtlich in seinen Bart. Werner sah schweigsam vor sich hin. Dr. Füßli rief rasch und laut: »Unsinn, wer soll denn das Geld drucken?«

Anthanmaten sah sich etwas hilflos um. »Es war nur so eine Meinung«, sagte er schüchtern.

Da sprach Gerdis. »Wenn Not ist«, sagte sie, »muß man opfern. Der eine viel und der andere wenig. Jeder soviel, als er hat zum Geben. Einer Vieh, der andere Land, mancher vielleicht das Leben.

Dafür kann man kein Geld ausgeben oder derlei. Schreibt auf, was jeder gab, vielleicht kann man es einmal wiedergeben. Vielleicht bleibt es auch immer in der Gemeinschaft. Wir sind nur noch zusammen etwas, also wollen wir auch zusammen schaffen, leiden, leben.«

Sie schwieg, die Worte hatten sie sehr erschöpft.

Die Männer schwiegen auch, es war eine große Stille.

Dann sagte der junge Anthanmaten und stand auf: »Danke.« Er sagte es innig und leise und beugte sich leicht vor Gerdis, so als habe er erst jetzt alles begriffen, den Sinn seines Daseins. Es war ein seltsames und schwer zu verstehendes Danke, und doch begriffen die anderen seinen Sinn sogleich.

»Wir wollen morgen eine Versammlung machen«, sagte Zurbriggen. Werner drückte ihm die Hand. »Ich weiß nicht, ob das alle so begreifen werden«, meinte er zweifelnd. »Manche geben ungern von dem, was sie haben.«

»Wir werden sehen«, brummte Zurbriggen. »Ich werd's ihnen schon sagen.«

Als Werner wieder ins Zimmer trat, saß Gerdis, blaß und sehr schwach im Stuhl, ihre Lippen flüsterten unhörbare Worte. Werner stürzte erschrocken zu ihr hin. Sie betete.

»Was ist?« Werner nahm ihre Hand, sie war eiskalt.

Gerdis sah ihn an, sie sah durch ihn hindurch.

»Ich sehe Peter nicht mehr«, flüsterte sie. »Ich seh ihn nicht mehr.«

»Aber Gerdis, Gerdis, sobald der erste Schnee gefallen ist, suche ich ihn. Weißt du es nicht mehr? Und ich finde ihn und bringe ihn her, zu dir und – und dem kleinen Peter.«

»Gloria«, hauchte Gerdis, »Gloria« – und lächelte unter Tränen.

* * *

Die Versammlung verlief rascher, als es Werner gehofft hatte, die Bauern waren begeisterter von dem neuen Plan, als etwa Werner und Anthanmaten angenommen hatten. Zurbriggen hatte geredet und die Vorzüge der gemeinschaftlichen Regelung geschildert, Werner hatte eindringlich auf die wirtschaftliche Notwendigkeit hingewiesen. Ein paar fragende Gesichter, zweifelnde Stimmen waren dagewesen, einer, der größte Bauer aus dem Tal, hatte sogar dagegen sprechen wollen, – da war Gerdis aufgestanden, recht mühsam und hatte über die Versammlung hingelächelt und nur ganz einfach gesagt: Für unsere Kinder.

Da schwieg der Großbauer, und es war nicht ganz klar, ob er nicht ein paar herzhafte Tritte gegen die Schienbeine bekommen hatte. Die anderen, alle Männer und Frauen sprangen auf und schrien und lärmten laut, und das neue Gesetz des Tales war einhellig angenommen.

Als sie auseinandergingen, ein jeder wieder an seine Arbeit, vergaß keiner, Gerdis die Hand zu geben, und die Weiber flüsterten ihr eine Menge guter Ratschläge zu.

Das war noch Ende August gewesen. Das Heu duftete, die Sonne brannte hernieder. Rollende Gewitter waren über das Tal gezogen, des Nachts flimmerten die Sterne. Es sangen die Wasser der Berge, der Hafer war gelb und reif zum Schnitt. Aus den Wäldern holte man das Holz für den Winter. Nun wurde es herbstlich bald, um die Spitzen des Monte Moro, des Spähn- und Stellihorn, des Allalin und Rimpfischhorn zogen Wolken und ließen leuchtenden Neuschnee zurück. Einmal schneite es schon bis ins Tal. Aber nach zwei Stunden hatte die Sonne wieder die weiße Decke verzehrt.

Am dritten Tag im Oktober gebar Gerdis. Niemand war bei ihr als die alte Frau und das junge Mädchen aus Zurbriggens Verwandtschaft, dazu der eilends herbeigeholte Dr. Füßli. Gerdis lag, das Haar dunkel und schweißverklebt über einem sehr weißen Gesicht. Die Augen waren ganz durchscheinend geworden, sie stöhnte leicht, aber sie schrie nicht. Ihr Leib bäumte sich manchmal auf, als die Sonne höher stieg, dem Mittag zu, schob sich aus ihm kopfwärts ein Knabe ans Licht.

Erlinspiel war seit zwei Tagen am Moro-Paß, er erschrak, als plötzlich das Telephon rasselte, in jener Folge von Tönen, die ein dringendes Gespräch bedeuteten. Eine plötzliche schwere Unruhe schüttelte ihn, mühsam und mit äußerster Beherrschung nahm er den Hörer ab.

Seine Einbildung ließ im Augenblick tausend Bilder ins Hirn schießen, überwältigte Grenzwachen, plötzliche Katastrophen, Unruhe in den Dörfern, Brand, Meuterei, Seuchenfälle. Nur an eines dachte er nicht. Doktor Füßlis Stimme meldete sich. Es sei ein Junge, gesund und kräftig, und er habe ganz die grauen Augen der Mutter, nur noch strahlender, hell wie ein Stern.

»Und Gerdis?« schrie Werner in den Apparat.

Füßli lachte. »Es geht ihr ausgezeichnet. Soll ich sie grüßen?«

»Idiot«, brüllte Erlinspiel. »Natürlich, und Blumen, und einen Latschenkranz vors Haus. Und …« und ich komme gleich, wollte er sagen, da fiel ihm ein, daß er ja hier lag, um den schwersten Angriff abzuwehren, der bisher gegen den Moropaß von Macugnaga vorgetragen worden war.

»Und«, fragte Füßli?

»Und ich kann nicht kommen, vor morgen abend nicht. Bleiben Sie so lange bei ihr, Doktor, ja? Und gleich anrufen, wenn irgend etwas geschieht, hören Sie?«

Füßli versprach, »halten Sie nur den Paß«, meinte er. »Alles andere hier drunten mache ich.«

Werner hing ein. Ihm war eigentümlich zu Mut. Da war nun ein neuer Mensch im Tal, und er war nicht durch Hunger und Elend und Furcht gelaufen, er hatte nicht an den Holzgattern gebettelt und hatte nicht tagelang die Schründe und Klüfte der Berge durchstiegen. Er war aus einem anderen Menschen gekommen, war klein und hilflos und zart, – und trug das Blut der Frau in sich, die, – die, ja die er liebte, er, Werner Erlinspiel, – und das des fernen Freundes, der irgendwo im Bereiche zwischen Nordkap und mittlerem Deutschland war oder auch nicht mehr war, wer mochte es wissen.

Niemals hatte Erlinspiel seine Gefühle so klar gesehen wie in diesem Augenblick. Er begehrte Gerdis nicht, es war eine reine und ungeheure Liebe, er spürte es, und ihm war, als hätte er etwas Heiliges soeben erfahren.

Er sah auf die strahlend weißen Gletscher und Berge, er sah den Stamm einer wetterzerfurchten Lärche hinauf.

Er dachte nichts mehr, er stieg langsam den Weg hinan, die Stunde von der Distelalp bis zum Paß, wo Anthanmaten und die Männer wachten.

Er vergaß Tal und Kampf, Erde, Himmel und sich, er schritt dahin, und stieg hinan, und sang leise vor sich hin, ein Lied, dessen Worte er nicht kannte und dessen Töne er nicht wußte.

In ihm war Gott.

* * *

Er kam erst wieder zu sich zurück, als Anthanmaten ihn anrief.

»Heute abend wirds ernst«, meinte der Junge. »Drunten am Hang ist viel Bewegung, und es schaut diesmal anders aus, als sonst, es ist eine Führung darin, irgend einer hat die Massen in die Gewalt bekommen.«

Erlinspiel sah, noch halb abwesend, Anthanmaten an. »Wenn es nur heute nacht schneien möchte«, sagte er.

»Freilich, freilich, die Wolken am Monte Rosa sehen ganz nach Schnee aus, wenn's nur herüberkäme! 's wär schon recht, damit einmal die Andrängerei hier aufhören tät. Gleich zwei Meter könnt's von mir aus nunterwerfen.« Sie stiegen beide hinauf zu den Wachen. Ein kleines Holzkohlenfeuer brannte, aufmerksam sahen die Posten ins Tal nach Süden hinunter.

Von drunten her kam Geschrei, und dazwischen Gesang.

Bislang hatte noch kein Trupp, der hier oben durch wollte, gesungen. Dieses Lied, das man nicht verstand, das aber eine feierliche und erregende Melodie hatte, schuf Unbehagen.

»Hoffentlich schicken sie nicht wieder die Kinder voran, wie vorige Woche die da drunten von Sitten. Ist doch erbärmlich, wenn man da hineindreschen soll. Feiges Pack, feiges.« Anthanmaten spuckte erbittert aus. »Sie haben sich übrigens heute mittag schon blutige Striemen geholt«, berichtete er, »wir sind noch ohne einen Schuß ausgekommen, aber jetzt haben sie sich Schilde aus Riemen und Latschenzweigen gemacht.«

»Vielleicht greifen sie heut nicht mehr an«, meinte Erlinspiel. Ihm war entsetzlich schwach zu Mut.

»Glaub's nicht, Herr Erlinspiel. Wenn sie heut nicht kommen, morgen sind sie zu schwach. Die Nächte sind schon kalt hier heroben. Und der Schwarze, der sie führt, weiß das auch.«

Sie sahen jetzt beide ins Tal hinunter. Man sah deutlich das Gewimmel der Menschen, die sich nach einheitlichen Plan ordneten.

Unablässig scholl der Gesang empor. Unwillkürlich mußte Werner an Schlachtgesänge der Reformationszeit denken, so etwa mußte es gewesen sein, wenn protestantische Bauern auszogen gegen eine große Übermacht. Kampf- und Sterbegesang in einem.

»Das sieht wirklich nach Führung aus«, meinte er.

Anthanmaten nickte heftig. »Wenn wir nicht einen schweren Kampf haben wollen, – und wer weiß, ob sie uns nicht überrennen, – dann hilft nur eins. Der Schwarze muß weg. Ohne Führer laufen sie wieder bergab, wie die anderen alle gelaufen sind. Wie wärs, wenn der Lommatterjosef ihn sich aufs Korn nähme? Mit der Gamsbüchs, der schweren? Besser, der eine ist hin, als so viele.«

Erlinspiel kehrte sich ab. Er ging zurück ans Feuer, Anthanmaten folgte. Werner setzte sich, er stützte das Gesicht in die Hände. Er wollte nicht, daß der junge Bursch jetzt sein Gesicht sah.

So weit war es also gekommen. Ging es denn gar nicht anders als mit Blutvergießen? Mußte wieder ein Mensch sterben, um den Frieden des Tals zu bewahren?

Konnte man nicht mit dem Schwarzen sprechen?

Werner versuchte, sich das Gesicht dieses Mannes vorzustellen. Wahrscheinlich sah er Anthanmaten ähnlich, ein starkes kühnes Gesicht und dunkle lockige Haare, die schwarz schimmernd über die Stirn fielen.

Aber was würde der antworten? Laßt uns herein. Gebt uns zu essen. Öffnet das Tal.

Und er würde mit einem Nein antworten müssen.

Zu genau waren die Rationen berechnet.

Werner sah auf. Anthanmaten blickte angestrengt auf ihn hin. »In Gottes Namen«, sagte Erlinspiel. »Der Josef soll bereit sein. Für den Schwarzen …«

Schwere Wolken verdeckten die Steilhänge des Monte-Rosa-Massivs, krochen näher und näher heran. Jetzt hüllten sie schon die Geröllhalden der nächsten Gipfel ein.

Werner hob das Gesicht. Etwas Kaltes war heruntergerieselt, hatte ihn im Nacken getroffen. Jetzt wieder, aus dem schweren Grau der Wolkenmassen kam es herab, ließ die Umrisse der Männer, die hinter den Felsen verborgen den steilen Pfad nach Macugnaga bewachten, verschwimmen, ließ den Gletscher undeutlich werden, – ja, es schneite in kleinen treibenden Flocken.

Wenn es doch ein Schneesturm würde, ein tüchtiger, der die ganze Nacht hindurch fegte und wehte und schüttete. Dann war der Monte Moro unpassierbar für Monate …

Aus dem treibenden Schnee kam der Hall vieler Schritte. Noch war es hell, wenn jetzt nicht der Angriff erfolgte, war es zu spät, in drei Stunden würde hier schwarze Finsternis brüten, und der eisige Schrecken der Berge sein Lied heulen.

Ja, sie hatten es da drunten auch erkannt, sie kamen herauf. Stampfender wurde der Laut der Tritte, kehliger, massiger der seltsame Gesang. Und nun kamen sie heran. Aufrechte Gestalten, eine lange Reihe, dahinter eine zweite, eine dritte, und eine vierte, fünfte, – richtige Sturmlinien, zu allem entschlossen, auf beiden Seiten soweit es ging über den Pfad hinausgetrieben.

Die paar Männer, die mit Rohhautpeitschen und schweren Holzprügeln auf dem Wege standen, mußten einfach umfaßt, erdrückt werden. Anthanmaten rief sie zurück.

Und jetzt hörte man auch das Lied. Es stampfte daher, schwer und gewaltig, wie die Männer daherstampften, die es sangen, – und vor dem Liede schritt einer, der trug ein hartes, freies Gesicht und schwarzes Haar über zerfurchter Stirn, er ging frei auf das Holzgatter zu, und seine Hände schlugen den Takt zu dem Lied, das körperlich nach ihm folgte, – und das sich verlor erst nach vielen hundert Reihen auswärtstrottender Menschen.

Eine kurze Zeit vergaßen die Männer von Saas die Abwehr. Gebannt horchten sie dem Liede nach, dem Gesange, der schwellend näher kam, in einem lähmenden Gleichmaß des Taktes.

Und voran ging der Schwarze und schlug diesen Takt mit allem, was er hatte, er stampfte ihn aus der Erde, er warf ihn durch die Luft, er holte ihn aus den Leibern, mit Armen und Beinen, mit Kopf und Schultern und Hüften:

»Wir wollen Brot
Wir leiden sehr,
Wir tragen Not
Und tragen uns von ferne her,
Wo Pest die Menschheit schlug.
Brüder, jetzt ist des Leids genug,
Brüder, zum Sturm ins Tal!
Wir weichen nicht
Wir sterben schon,
Wir sehn das Licht
Und spüren wohl den nahen Lohn.
Brüder, wir greifen an,
Brüder, nun stehet Mann bei Mann
Vorwärts, zum Sturm ins Tal!«

Da erwachten die Männer von Saas aus ihrer Betäubung. Der Lommatterjosef hob verstohlen den Kopf hinter seinem Fels, er sah Erlinspiel mitten ins Gesicht. Erlinspiel hob leicht die Hand.

Dann kam ein rascher Knall, ein hundertfacher Widerhall von den Felsen. Der Schwarze warf die Arme hoch, jäh brach das Lied ab. Er stürzte, er schrie, er wand sich ein paarmal auf der Erde hin und her, dann kam nur noch ein Röcheln, und dann war es still.

Und in diese Stille hinein gellte ein endloses Heulen tierischer Angst. Die Reihen brachen auseinander, ein wirres verzweifeltes Jammern folgte, mit diesem einen Schuß war die Welt über den Hungernden zerbrochen. Wildes Geheul schwoll empor, dann begann die Flucht. Stoßend, stolpernd, fallend, jagten die Massen abwärts, zurück, das Klappern eilender Füße, das Kollern abgehender Steine, wehe Rufe von Schmerz und Schreck und das dumpfe Prallen stürzender Körper mischten zu einem schaurigen Ton der Vernichtung.

Die Dunkelheit fiel nieder. Wie ein Leichentuch sank der Schnee.

Drei Mann mit Anthanmaten blieben als Wache zurück.

Durch den jagenden Sturm schritt Werner, gesenkten Hauptes, stumm die Serpentinen nach Mattmark hinunter.

Der Kampf um den Monte-Moro-Paß war zu Ende.


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