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Neuntes Kapitel

Die letzte Nacht im Tale von Saas war von einer feierlichen Ruhe angefüllt. Schimmernd klar glänzten die Sterne, kein Laut zerriß die Stille, und das letzte Rauschen der vielen großen und kleinen Wasser aus den weißblauen Gletschern machten die über ihnen ruhende Lautlosigkeit nur noch spürbarer. Kein Licht schimmerte.

Ein Bergrutsch, einer der vielen, die Jahr für Jahr nach der Schneeschmelze das Gesicht der Erde verändern, hatte die schmale Straße ins Tal gesperrt und die Hochspannungsleitung zerrissen. Erlinspiel war dankbar. Half die Natur nicht mit, dies kleine Tal gegen die Dämonen der Vernichtung zu verteidigen?

Niemand konnte den Plan verraten, den er zur Rettung ausgedacht, niemand konnte die Geretteten von der Rhone heraus überfallen. Ein kurzer Maueranschlag hatte die Saaser zusammengerufen, ein kurzes Wort Zurbriggens sie unterrichtet. Dann hatte er gesprochen, leise und ohne Nachdruck, so wie er in den großen Generalversammlungen zu sprechen gewohnt war.

Ein paar Frauen hatten geweint, ein paar Männer waren ziellos davongelaufen. Aber nun saßen sie doch alle in dem kleinen Tunnel vor Saas-Fee und harrten der Stunde, da mit dem ersten Licht, das über die weißen Bergrücken fließen würde, sich das Geschick erfülle. Sicher waren sie alle unruhig, sicher würden einige versuchen, am Eingang des Tunnels das Unfaßliche zu erspähen, verwegene Neugierige, ihrer Neugier noch das Leben zu opfern bereit, aber die Menge war folgsam, sie glaubte an sein Wort, daß sie sicher wären im Dunkel der Erde.

Ja, da stand er nun, plötzlicher König des Tales, weil er einen Rat gewußt und eine Tat begonnen hatte.

Er lächelte. Peter wußte nun schon, was geschah, wenn ein Stern in die Sonne stürzt, – dort oben, wo die Sonne nicht unter den Sichtkreis sinkt, war alles schon vorüber. Lebte Peter noch? War er krank?

Werner Erlinspiel sah auf die Uhr. Es war eine Stunde noch bis zum Sonnenaufgang, eine einzige schmale Stunde, die letzte vielleicht. Sorgfältig ging er das Haus ab, den Keller und den Stadel, aufmerksam prüfte er den Eingang zum Gewölbe. Als er eintrat in dieses ersonnene Asyl, fand er Gerdis. Sie saß auf ihrem Bett, ihre Hände lagen im Schoß, ihre Schultern waren leicht und locker nach vorn gesunken. Eine Strähne des dunklen Haares fiel über das blasse Gesicht, die grauen Augen sahen in eine unermeßliche Ferne. Sie blickte nicht auf, als Werner kam, sie änderte um keine kleine Einzelheit ihre Haltung. Als er, beunruhigt nun, ihr die Hand auf die Schulter legte, schrak sie zusammen. Sie hob das Gesicht, es war sehr ruhig, sehr gesammelt.

»Ist es da?« fragte sie.

Werner schüttelte leicht den Kopf. »In einer Stunde werden wir alles wissen«, sagte er. »In einer Stunde treffen die ersten Strahlen der Sonne dieses Haus, – der Sonne, die nun Gloria aufgenommen hat. Fürchtest du dich?«

Nun schüttelte Gerdis sanft das Haupt, sie legte ihre Hand auf Werners Linke. »Nein, nein«, flüsterte sie. »Und ich habe auch nichts gesehen. Nichts. Alles ist dunkel. Ob nichts geschehen ist?«

»Sicher ist alles gut gegangen«, Werner riß sich zusammen, nicht einmal seine Stimme schwankte. »Du hättest ihn sonst gesehen.«

»Vielleicht, vielleicht«, murmelte die Frau, ihre Hand glitt wieder von ihm weg. Dann lächelte sie mit einem Male in einer wundervollen Art, die er noch niemals gesehen. »Ich möchte draußen sein«, sagte sie.

Werner sah Gerdis an, er sah mitten hinein in dieses seltsame Lächeln, das aus fernsten Bezirken hervorzublühen schien, es war ihm, als sei es heller geworden im Raum.

»Wir wollen noch einmal zum Stollen gehen«, schlug er vor.

Gerdis stand auf, sie schob ihren Arm unter den seinen, sie zitterte nicht, sie ging ganz ruhig neben ihm her.

Und erst viel später fiel Werner Erlinspiel auf, daß er zum ersten Wale zu dieser Frau Du gesagt hatte.

Am Tunneleingang traf er Zurbriggen.

»Aber gehns«, brummte der Alte, »jetzt schleppens die kleine Frau auch noch mit sich herum. Sollten lieber im Gewölbe bleiben, wer weiß, wann die Gloria über uns kommt, es wird eh gleich hell werden.«

»Lassen Sie nur, Herr Zurbriggen«, – Gerdis lachte auf eine ganz und gar mädchenhafte Art, »Werner wird mich schon rechtzeitig wieder einsperren in das Panzergewölbe.«

Zurbriggen sah einen Augenblick lang fassungslos drein. »So etwas«, murmelte er dann, »nein, so etwas«, – Werner hat sie gesagt, dachte er, aber das sagte er nicht.

»Hören Sie«, riß ihn Erlinspiel aus seinem Staunen. »Droben auf dem Muggel, wo das Fernrohr steht, werde ich mich aufbauen. Sie können mich von hier aus gut sehen. Und die allerersten Strahlen fallen dorthin. Gute fünf Minuten brauchen die Strahlen, um zum Haus zu wandern, gute zehn, um Sie hier am Tunneleingang zu treffen. Ich werde sehen, was geschieht, und Sie werden die Warnungslosung geben, wenn ich sie von dort aus gebe, – oder«, er neigte sich dem Ohr Zurbriggens zu, – »wenn mir etwas geschieht. Sie sehen das ja«, schloß er laut. »Alles klar?« Zurbriggen nickte.

Als sie zurückgingen zum Haus, faßte Gerdis plötzlich Erlinspiels Arm fester: »Ich will nicht in die dunkle Kammer«, sagte sie. »Ich will draußen bleiben. – Peter«, sie stockte einen Herzschlag lang, ein wehes Lächeln lief über ihr Gesicht, die Ketten der Gebirge wurden um einen ahnungsvollen Schein sichtbarer, – »Peter war auch draußen.« Werner nahm ihre beiden Hände fest in seine: »Auf Ehre und Gewissen, Gerdis, lebt er noch?«

Die Frau sah ihn fest an, sie sah ihm mitten in die Augen.

»Ja«, sagte sie, und ihre Stimme war spröde und dunkel, »ja, er lebt. Aber es ist etwas Großes, Schreckliches geschehen. Ich weiß nicht, was. Ich habe vor irgend etwas Furcht. Bitte, nicht allein lassen.«

Wie blind ich ihr glaube, dachte Werner. Sie weiß alles. Sie ist so schön. Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf wie Wasser durch eine Schnelle.

»Nicht auf den Hügel hinauf«, sagte er. »Aber vor der offenen Tür der Panzerkammer dürfen Sie bleiben. Wir sehen uns dann, und wir können einander rufen. Und es wird nichts geschehen, das mir nicht zuerst geschieht. Versprechen Sie mir, sich zu retten?« Gerdis nickte, sie lächelte ein wenig dabei, und Werner konnte dem Nicken nicht allzusehr vertrauen.

»Sie müssen das«, er war sehr ernst. »Denn es ist nicht nur Ihr Leben in Ihnen. Verstehen Sie, Gerdis?«

Das Lächeln in ihrem Antlitz nahm zu.

»Wollen wir gehen?« sagte sie. »Werner?«

Abermals schienen die Ketten der Berge sichtbarer zu werden.

Sie gingen, schweigend und rasch, dem Hause entgegen.

Hier blieb Gerdis, einige Dutzend Meter bergauf blieb Erlinspiel stehen, er winkte dem alten Zurbriggen am Tunnelmund, er winkte Gerdis. Dann begann der steile Osthang des Allalinhorns ganz oben mit weißem Schimmer zu glühen, früher als sonst.

Das Licht sprang hinüber zum Dom, hellweiß auch dort, der immer sonst in rosafarbenem Schein erwachte.

Das Licht kroch nieder, es kam über die Gletscher her, und die grelle, weißkalkige Farbe machte sie unwirklich flach. Unwillkürlich griff Werner nach der Pistole, in der die Rakete stak, das Zeichen für äußerste Gefahr.

Unheimlicher wurde das Licht, näher kroch es heran. In spätestens zehn Minuten mußte es über den Grat brechen, ihn erreichen, überfallen. War das die Sonne, die schien? Waren es ihre Strahlen?

»Nicht ängstigen«, schrie er zu Gerdis herunter, »das gehört mit dazu.« Eine große Handbewegung machte er zu den grellweißen Gletschern, Quecksilber, fiel ihm ein, Quecksilber, das in einer Lampe als Dampf aufleuchtet, gab solches Licht, jenseits von allem Irdischen brennt sie im Raum.

Er war plötzlich unendlich müde, langsam beugte er ein Knie, langsam stützte er sich in das taufeuchte Gras. Unverwandt aber sah er dabei auf die hart und schattenlos gleißenden Gletscher. So sah er die beiden Männer nicht, die atemlos zu ihm emporkeuchten. Erst als sie neben ihm standen, schrak er auf. Es waren zwei Zurbriggens, junge Burschen, Enkel des Bergführers. »Verrückt«, flüsterte er, »völlig verrückt.« Dann fiel ihm ein, daß er ja kniete, er fuhr hoch. »Was wollt ihr«, grollte er und nahm doch kein Auge von den Gletschern und den schroffen Zacken, die scharf in den grellweißen Himmel stachen.

Die beiden Burschen drehten verlegen die Hüte in den Händen.

»Ja«, sagte der Ältere schließlich, »das ist nun so, die Weiber meinen, es käme das Jüngste Gericht, und sie möchten in die Kirche, beten.«

»Sie sollen im Tunnel beten«, fauchte Erlinspiel. »In eurer neuen Kirche seid ihr nicht sicher, und es ist auch zu spät«, setzte er hinzu.

Die beiden wurden noch verlegener. »Können Sie uns nicht sagen, warum es nicht sicher ist? Die Weiber meinen – – weil der Herr Doktor doch – – weil Sie doch – meinen die Weiber, nicht verheiratet sind, mit der Frau, – daß Sie die Kirche nicht mögen –.« Sie hielten völlig verwirrt inne.

Werner mußte lächeln. Da stürzte ein Stern in die Sonne, da kam Unheil heran, da leuchteten die Gletscher in unheimlichem Licht, – und da war es vielleicht zu Ende mit Mensch und Tier, – der Klatsch aber sprach das letzte Wort.

Es war allzu unwirklich fast. Oder allzu wirklich. Er wurde nicht einmal voll von Wut, er lächelte nur milde und sah dabei scharf in das näherkommende Licht.

»Macht, daß ihr in den Tunnel kommt«, sagte er leise. »Eure Kirche hat eine neue Decke bekommen vor drei Jahren, und die Decke ist aus Eisenbeton, – sie könnte euch auf die Köpfe fallen. Der Tunnel aber ist aus Stein, Gott hört euch auch aus dem Felsen.«

Als die beiden nicht gingen, schrie er sie an: »Macht, daß ihr runterkommt! Wollt ihr hier verrecken? In fünf Minuten ist hier der Teufel los. Seht ihr denn nicht, wie das Licht da aussieht?«

Die beiden Jungen sprangen zurück. »Ja, ja«, schrien sie wie aus einem Munde. Dann rasten sie in langen Sprüngen den Hang hinunter.

Jetzt flogen die ersten Lichtstrahlen in die grünen Lärchen am Südhang des Tales. Tiefschwarz sahen die Zweige aus, die das Licht traf, aus den Wiesen wich die Farbe.

Werner umklammerte das Stativ des Fernrohrs. Einen Blick warf er zurück auf Gerdis, die unbeweglich stand, er winkte, sie hob die Hand zum Gruß.

Jetzt kam das Licht näher, es kroch die Matten herunter.

»Werner«, rief eine Stimme, »Werner, komm!«

Noch zwanzig Meter waren zwischen ihm und dem kalkweißen Licht, das Gras zu seinen Füßen wurde blau, es zuckte der erste Strahl über die eisigen Felder des Firns, – da riß er die Pistole empor und jagte die Rakete hinaus.

Sie zischte und raste in weitem Bogen über die Spitzen der Bäume der Sonne zu, – dem Tale entgegen …

In langen Sätzen jagte Werner dem Hause zu, seine Adern klopften und dröhnten, kalt lief ihm Schweiß den Körper hinab. Dann war er unten, Gerdis Hände griffen nach ihm, einen Herzschlag lang lag sein schreckenskaltes Gesicht auf ihrem dunklen Scheitel, dann sprang er zurück und sah sich um.

Die ersten Strahlen glitten über den Platz, da er eben noch gestanden. Die ersten Strahlen machten das Fernrohr dort aufglühen, es schien aufzustrahlen in einer Flut von Licht, dann kroch die Helle nieder, auf das Stahlrohr des Stativs.

»Angst – – Werner«, flüsterte eine Frauenstimme neben ihm … Er starrte auf die unablässig rieselnde Lichtflut, die dort oben war, und dann kam ein verlorenes Winseln aus seinem Mund, ein traumhaftes Winseln, wie das eines kleinen Kindes in schwerem Traum: – langsam sah er das schwere Stativ sich neigen, sich krümmen, zusammensinken, weiches Wachs, das in der Glut einer Flamme dahinschmilzt.

Ein Frauenkörper sank neben ihm hin, er stürzte fast, und noch immer klagend nahm er die entrückte Gerdis auf und trug sie in das kupfer- und bleibeschlagene Gewölbe. Behutsam legte er sie auf das schmale Lager, sorgsam schloß er die gepanzerte Tür. Dann sank er langsam zusammen.

* * *

Das Licht aber füllte das Tal und ging hin über Hütte und Haus und Weide und Tier, es ließ das Wasser der Gletscherbäche aufglühen, und es fiel über die Menschen in den Almen, die nichts wußten von dem schützenden Tunnel zu Saas-Fee, weil sie einen Tag oder zwei entfernt waren im Gebirge.

Es machte das Kirchendach stürzen, und die eiserne Brücke schmolz hin, es ließ die Träger der Hotels weich werden, daß sie nichts mehr zu tragen vermochten, und zerfraß die eisernen Ketten der Kühe im Stall.

Es machte die Messer wertlos und den Pflug hinter dem Hause. Und es leuchtete, gleißend und grell und unerträglich über den wahnwitzigen Schreien der Menschen der irdischen Welt.


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