Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Seit Wochen wandern Peter und Lars Larsen durch die brennende Flut des Lichts. Die Sonne geht glühend über den Himmel, ohne einmal unterzusinken. Als sie aufbrachen vom Ostufer des Enare-Sees, nach drei Tagen vergeblichen Wartens, ob nicht ein Flugzeug sich zeigen würde – eines Wartens, von dem sie wußten, daß es vergeblich sein würde, und das sie doch entgegen aller Vernunft durchführten -~, als sie endlich also marschierten, durch die Tundra westwärts, den fernen Schneebergen zu, die sich zwischen ihnen und Hammerfest emportürmten, da blühten das Moos und das Wollgras, Rosmarienheide in strahlendem Weiß und Steinbrech in leuchtendem Rot und Violett.

Jetzt aber umgab sie nichts als heulender Nordsturm, eisgrauer Fels und knietiefer, schwerer Schnee. Dann wieder öffneten sich schmale Fjorde, die zu weiten Umwegen zwangen, in denen eiskaltes graues Wasser gurgelnd umlief. Das strahlende Licht hatte keine Kraft, die Kälte zu brechen, die in den Gesichtern sich festbiß. Die Gletscher dehnten sich ohne Ende, es war kein Wandern mehr, kein Marschieren, sie stolperten müde voran, und jeder Schritt konnte der letzte sein. Sie hatten keine Eispickel und keine genagelten Schuhe, sie hatten nicht einmal mehr ein Messer, Tritte ins Eis zu kratzen. Sie wußten die Zeit nicht mehr, denn die Uhren, sie lagen, unbrauchbar geworden, im Lager am Enare-See.

Peter strauchelte. Im Fallen schon griff er nach der Schulter des Freundes. Lars hielt ihn, sprach dem Schweratmenden zu. »Mut, Peter, Mut! Am Fuß des Gletschers muß das Lappenlager liegen, ich war öfter hier, und ich weiß, im Frühling ziehen die Lappen der Küste zu. Einen halben Tag noch, dann müssen wir sie treffen.«

Peter lachte schrill auf.

»Müssen, müssen. Seit Wochen laufen wir diesem Lappenlager nach. Muß denn überhaupt noch etwas sein auf der Erde? Warum müssen die Lappen noch leben? Sind sie nicht weggefegt? Vernichtet? Und wir die einzigen Menschen?«

»Sei doch nicht so töricht.« Lars redete Peter zu wie einem Kranken. Krank war Peter auch, noch saß ihm der Schreck in der Seele, von jener Stunde, als alles zusammensank. »Komm, selbstverständlich sind die Lappen dort unten, weil es da Futter gibt für die Renntiere, und weil sie immer dahin gezogen sind, solange sie denken können. Und weil sie wahrscheinlich gar keine Ahnung haben, was eigentlich geschehen ist.«

Peter sah Lars mit großen fieberheißen Augen an.

»Du bist verrückt«, würgte er hervor. »Warum sollen sie keine Ahnung haben. Die Welt ist untergegangen und sie sollen es nicht wissen? Die Flugzeuge sind vom Himmel gefallen, und die Eisenbahnen sind zerstört, die Wagen sind vernichtet, und die Dampfer auf den Weltmeeren sind untergegangen. Oh, alles ist so gekommen, wie es Gerdis vorausgesehen hat, und ich Narr, ich Narr, habe nicht daran geglaubt. Ich habe gelacht. ›Hirngespinste‹ habe ich gesagt, Gerdis, Gerdis habe ich verlacht!«

Oh, er warf sich auf das Eis, über das brausend, vom Sturm getrieben, ein dünner Schleier von gefrorenem Schnee dahinschoß. Er schrie, er tobte, er weinte. Er war ganz offensichtlich am Ende seiner Widerstandskraft. Ratlos sah Larsen dem Zusammenbruch zu. Er wußte nicht, was er tun sollte, er versuchte, die Hand Peters zu erhaschen, er wollte fühlen, wie hoch das Fieber war, aber der Zusammengebrochene schlug um sich, als Lars ihn berührte. So blieb nichts, als noch einmal es mit Worten zu versuchen. Lars beugte sich dicht zu Peter nieder.

»Woher sollen es die Lappen denn wissen? Sie haben keine Flugzeuge und keine Dampfer. Sie haben keine Eisenbahnen. Hörst du Peter, sie haben nicht einmal Autos oder genagelte Stiefel und ihre Kochkessel sind aus Kupfer. Ihre Nähnadeln und Messer werden nichts mehr taugen, – aber sonst hat sich nichts bei ihnen geändert. Sie ziehen weiter über die Tundra und über die Gletscher und Berge. Hörst du, sie ziehen weiter, wie sie es immer getan haben, wie es ihre Vorväter schon taten, vor Hunderten von Jahren. Nichts ist ihnen geschehen, gar nichts. Und heute abend werden wir bei ihnen sein. Wir werden die Milch ihrer Renntiere trinken und werden ihr Fleisch essen, wir werden in einem Zelt aus Renntierfell schlafen, an einem Feuer aus Moos und Renntierdung, und werden unter einem Renntierfell liegen und die uralten Lieder vom Renntier und seinem Lappenjäger hören.«

Lars bot alle Kraft auf, er mußte Peter wieder zum Marschieren bringen. Blieb er hier liegen, so war es das Ende. Und Peter hob den Kopf, er sah Lars mit großen, leeren Augen an.

»Fleisch, sagst du?« murmelte er. »Milch? Feuer?«

»Ja«, rief Lars, »ja Peter, und neue Schuhe und eine Pelzjacke, und Schlaf, Schlaf, Peter!«

»Ja, Schlaf, Schlaf.« Peters Augen fielen wieder zu, es schien, als wolle er sich ausstrecken auf dem Gletscher.

»Peter!« Lars schrie in höchster Angst. »Peter! Die Lappen!«

Oer Fiebernde riß den Oberkörper empor. Er schlug die Augen wieder auf.

»Wo?«

»Dort, dort«, Lars wies irgendwo hin in die weiße, sturmüberpeitschte Weite, »siehst du sie nicht? Dort hinten!«

Das Herz sprang ihm in großen Sätzen.

Peter richtete sich noch ein wenig auf, er griff ihm unter die Schulter. Und es gelang. Mühsam kam Peter hoch, er taumelte voran, er marschierte wieder.

Den Kopf hielt er starr nach vorne, die großen, bewegungslosen Augen starrten in eine unbestimmbare Ferne.

»Die Lappen, – die Lappen«, flüsterte er.

Seine Lippen waren heiß und trocken. Lars ging neben ihm her, stützte ihn leicht.

So schwankten sie den Gletscher abwärts. Aus den blasenbedeckten Füße quoll Blut in dünnen Fäden, sie spürten es nicht mehr. Das Schmelzwasser des Eises durchrann die zerfetzten Schuhe, sie merkten es nicht.

Sie schritten den Gletscher hinab, westwärts zu.

Wie lange das alles gedauert hatte, konnte Peter später nicht mehr sagen. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Schlafsack, ein Zelt war über ihm, und ein Mädchen mit glatten schwarzen Haaren gab ihm zu trinken. Einen Augenblick lang sah er auch Lars Gesicht, dann schlief er wieder ein. So ging es noch einige Male, dann raffte er sich zu einer Frage auf. »Was ist denn geschehen, Lars«, sagte er, zwischen zwei Schlucken, aber Lars lächelte nur, zuckte die Achseln und fütterte ihn weiter mit heißem Tee und Rum. Peter hatte auch gar keine Antwort erwartet, er wandte sich, so oft er getrunken hatte, wieder ab und schlief weiter.

Das mußte eine Woche lang so gegangen sein, – dann war plötzlich die Klarheit und die Kraft wieder da. Peter kroch aus dem Schlafsack heraus, besah sich seinen nackten, abgemagerten Körper und brüllte nach Lars. Lars kam angerannt, – als er Peter sah, lachte er aus vollem Halse.

»Kann man hier nicht irgend etwas anziehen?« fragte Peter. Lars schleppte Lappenkleidung herbei, Peter sah komisch aus in den Fell- und Ledersachen. Die gestickten hohen Stiefel gefielen ihm sehr gut.

Das Zelt war voll Qualm, über dem Feuer hing ein Kessel, aus dem Dampfschwaden aufstiegen. Es war sehr warm.

Am Zelteingang drängten sich ein paar Männer und Frauen, sie sahen herein und schienen glücklich zu sein, daß der fremde Mann da drinnen wieder bei Kräften war. Einige Kinder drängten sich zwischen den Füßen der Frauen. Undeutlich hörte man Klappern, – es waren die Hufe der Renntiere, die auf den Felsen standen und weidend langsam umherzogen. Lars lachte und half Peter in die Kleider. Peter schämte sich schrecklich, aber Lars beruhigte ihn, ein nackter Mann ist keine Ungewöhnlichkeit im Lappenzelt.

»Geht es dir wieder gut?« fragte Lars – und Peter nickte heftig.

»Meinst du, daß wir hier etwas zu essen bekommen?« fragte er, »ich habe schrecklichen Hunger.«

Lars lachte los. »Oh, mein Gott«, schrie er, »da füttern wir den Kerl hier zehn Tage lang mit Leckerbissen, daß er nicht abkratzt, und dann fragt er, ob man hier was zu essen bekommen kann. Du bist wirklich außer der Welt gewesen.«

Peter sah ihn erstaunt an. »Zehn Tage habe ich hier gelegen?«

»Natürlich. Und es sah verdammt schlecht aus mit dir, als wir vom Gletscher herunterkamen.«

Peter hatte nicht die geringste Erinnerung mehr, Lars mußte es ihm ausführlich erzählen, aber auch dann noch war ihm, als hörte er den Bericht von einer Reise eines völlig Fremden. Nur daß er nahe, sehr nahe am Ende vorbeigegangen war, dieser Gletscherweg, das begriff Peter langsam.

»Und die Lappen hier, – sie haben von der Katastrophe gar nichts gemerkt?« fragte er. Lars sagte nein. Sie hätten zwar keine Messer und Nähnadeln mehr, und keine eisernen Schabscheite, das Fett von den Renntierfellen zu streifen, aber sie wären einfach zu Steinmessern und Hornnadeln zurückgekehrt.

Sie hofften, daß nächstens einmal ein Händlerboot aus Hammerfest kommen würde, dann würden sie alles wieder kaufen, was nun fehle, »vorher allerdings wollen sie den Händler, wenn er auftaucht, tüchtig verprügeln, sie glauben, er ist schuld an dem Zustand der Messer und Nadeln und hätte ihnen Schund angedreht im letzten Jahr.«

Peter starrte vor sich hin. Dann packte er Lars hart am Arm. »Glaubst du, daß so, wie hier die Zelte stehen, in den Alpen noch Häuser stehen?«

»Alle einfachen Menschen werden davongekommen sein«, meinte der.

»Die Indianer und die Schwarzen in Afrika, die Leute in der Südsee und hier die Lappen. Warum sollen nicht auch die Menschen in den Bergtälern den Tag überstanden haben?«

»Dann müssen wir sofort weiter. Mein Gott, es ist ja schon Wochen her, und wir sitzen noch immer hier herum. Wir müssen, Lars, hörst du, sofort, sofort weiter.«

»Laufen können wir das nicht«, meinte der Norweger sachlich. Soviel tausend Kilometer über Gebirge und Gletscher, Flüsse und Fjorde, Ebenen und Sümpfe, das würde Jahre kosten. And dann ist da noch immer die Ostsee. Wie willst du da hinüberkommen?«

»Aber wir müssen«, wiederholte Peter. »Denk nach, wir müssen. Wenn Gerdis noch lebt … Du kommst mit, ja? Sag, daß du mitkommst.«

Lars dachte gar nicht daran, nachzudenken.

»Du mußt jetzt erst mal etwas essen«, erklärte er. »Und dann wirst du noch ein paar Tage dich hier erholen, sonst kommen wir keine hundert Kilometer weit.«

Er schob Peter vor sich her, die Lappen am Zelteingang verbeugten sich, sie riefen etwas, das Peter nicht verstand. Er lächelte, es ging in ein großes Zelt, aus dem es verlockend nach reichlicher Mahlzeit roch. Nach dem Essen sagte Lars: »Wenn wir übermorgen losgehen, können wir vielleicht in einigen Tagen in Hammerfest sein. In Ravna, hinter dem Gletscher dort, soll ein altes Fischerboot liegen. Damit werden wir Hammerfest erreichen, und dort werden wir schon ein richtiges Boot auftreiben. Nur mit einem Boot kommen wir nach Deutschland. Denke, wie wir da angekreuzt kommen werden!«

Peter zuckte zusammen. Er sah Gerdis vor sich, wie sie von einem Boot sprach, mit weißen Segeln, von Norden auf den Hafen von Warnemünde zulaufend. Er schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Lars sah ihn erschrocken an. Wieder einmal war er hilflos. Er dachte, Peter würde vor Freude lachen und schreien. Nun weinte er.

Kenn sich einer mit den Deutschen aus, dachte er. Aber er verhandelte doch mit dem Stammesführer der Lappen, daß man sie nach Ravna bringe, über den großen Gletscher. Er lieh sich zwei Steinmesser aus, getrocknetes Fleisch und Fett, dazu eine kleine Büchse Salz.

Am anderen Morgen war Peter wie umgewandelt. Ruhig, klar und heiter ging er umher. Er dankte dem Häuptling und allen, die ihn gepflegt, er streichelte die Kinder und sah den äsenden Renntierherden zu. Unablässig aber drängte er zum Aufbruch.

In Ravna fanden sie das schmale Fischerboot, es war halb voll Wasser gelaufen, aber da es nicht mit Eisennägeln gebaut war, so hielt es, nachdem ein paar morsche Stellen, die leckten, ausgebessert waren, dicht. Sogar ein altes, verrottetes Segel fand sich noch unter einem Steinmann verborgen und zwei Riemen. Die Fahrt konnte beginnen.

Noch einmal winkten die Lappen, noch einmal Lars und Peter, dann schoß das Boot in das strudelnde graueisige Wasser, westwärts, von Ruder und Wind getrieben.

Aber sie kamen nicht nach Hammerfest. Sinnlos war es, dort nach der Expedition zu suchen. Das einzige, was sie in Hammerfest suchen konnten, war ein Boot, und das kam ihnen auf eine heillos glückliche Art zu. Als sie in den Vargsund einbogen, scheuerte an den Felsen eine weiße schlanke Yacht. Sie stak zwischen zwei Klippen, so als hätte sie jemand hineingetrieben. Nun schwang sie in der Strömung auf und ab und rieb sich die Farbe von den Planken. Ein hoher Mast stand, auch die Spanndrähte waren straff gespannt, sie glänzten goldbronzen in der Sonne.

Lars sprang auf, als er dies Schiff wie eine Erscheinung auftauchen sah. »Hallo!« brüllte er, legte die Hände zum Schalltrichter zusammen und rief auf norwegisch und englisch, auf schwedisch und deutsch aber es meldete sich niemand an Bord, nichts war zu hören, als das leise Knirschen des festsitzenden Schiffes in der laufenden Flut.

»Das wird wieder flott«, rief Lars, er stürzte sich auf die Riemen und trieb das Boot so rasch als möglich auf die Yacht zu, auch Peter ruderte aus Leibeskräften. Das ist die Rettung, dachte er. »Lieber Gott«, dachte er, »laß keinen Menschen auf dem Boot sein, und laß es nicht leck sein.«

Ihm fiel gar nicht ein, wie unfreundlich zumindest der erste Teil seines Wunsches war.

»Whiteoak« stand in goldenen schlanken Lettern am Bug der Yacht.

»Englisch also«, brummte Lars, trieb das Boot gegen die weiße Bordwand und enterte auf. »Bin gespannt, ob jemand zu Hause ist.« Aber es war niemand zu Hause. Die Yacht war herrenlos, weder auf noch unter Deck war irgendeine Spur von Menschen zu entdecken.

Etwas Wasser stand im Boden, irgendwo mußten ein paar lecke Stellen sein, aber sie schienen klein und unbedeutend, wenn man sie kalfaterte, mußte die Yacht so tüchtig sein, wie nur je eine, die norwegische Schären befahren hatte.

Lars holte Peter an Deck. »Das ist ein wunderbares Schiff«, erklärte er. »Und wahrscheinlich ist es den Stjernsund hineingeschwommen. Die Männer werden verdammt nach ihm suchen, aber vielleicht haben sie gar kein Boot mehr, ihm nachzusetzen.«

Sie untersuchten jetzt gründlich. Segel waren da, weiß und herrlich wie alles an Bord. Phosphorbronzene Spanndrähte hielten den Mast, Schäkel und Rollen waren gleichfalls aus Bronze, es war klar, daß kein Fetzchen Eisen im Leibe des Schiffes stak. Nicht einmal ein Motor war vorhanden.

»Das ist ein reines Sportboot«, meinte Peter. »Und deshalb sicher leicht zu segeln«, ergänzte Lars. »Es ist zauberhaft gebaut und hat ein tolles Stück Geld gekostet. Ich kenne Sportyachten genug, aber so eine habe ich noch nicht unter den Füßen gehabt.« Er ging nach vorn. »Dachte ich's doch«, rief er, »hier ist der Anker gewesen. Gewesen! Als Gloria in die Sonne fiel, wurde er weich und zerriß. Siehst du, so ein lappiges weiches Stück Ankerkette hängt noch auf der Winde. Und während die Herren Kapitäne sich das Unglück der Gloria ansahen, verschwand die ›Whiteoak‹. Mein Gott, Peter, haben wir ein Glück.«

»Aber dürfen wir denn das Schiff so einfach nehmen?« fragte Peter. Lars sah ihn groß an. Statt aller Antwort tippte er sich an die Stirn, ließ den verblüfften Peter stehen und kletterte in die Kajüte.

»Verrückter Mitteleuropäer«, brummte er. Peter blieb nichts anderes übrig als hinterherzusteigen. Hier oben an Deck waren doch nur sorgsam vertäute Segel und in Unordnung geratene Leinen und Taue zu sehen, deren Zweck er nicht verstand.

Erst jetzt fiel ihm ein, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wie man eigentlich mit so einem weißen, schönen Ding umging, das sich »Whiteoak« nannte und eine Yacht war, eine Hochseeyacht von großartigen Formen. In der Kajüte fand er einen völlig verwandelten Lars. Der stand vor dem eingebauten Schrank und hielt ein paar seidene Damenhemden hoch, um sich her hatte er Morgenmäntel verstreut, Unterwäsche, Kleider aus Leinen und Wolle und Seide, zarte, duftige Nachthosen, – er machte ein keineswegs geistreiches Gesicht.

Als Peter hereinkam, fluchte er schrecklich.

»Verdammt«, schrie er, »das ist ein ganz verrückter Weiberkahn. Nicht einmal eine einzige Männerhose ist an Bord. Wir kommen doch nicht aus dem Lappenkram raus. Und ich hatte mich schon so auf ein paar anständige Hosen gefreut und einen vernünftigen Sweater«, schloß er ruhiger und seufzte tief auf.

»Und wer hat dann das Boot gefahren?« fragte Peter und begriff nichts, »Boot gefahren« höhnte Lars. »Selber gesteuert haben sie's, die verrückten englischen Ladies, drei müssen es gewesen sein, wenn ich was von Weiberwäsche verstehe. Einen Spleen haben sie halt gehabt. Einen verdammten – halt«, – er schlug sich auf den Mund, »einen gesegneten Spleen, der Himmel möge sie erhalten haben, einen gesegneten Spleen, für den wir danken werden bis ans selige Ende. Denn wer baut schon Phosphorbronzeverspannungen ein? Heh? Nur ganz verrückte Kerle, Peter, oder ganz verrückte Ladies. Gott segne die Mädchen.«

Er suchte in der Kajüte umher, er fand Seekarten und Kompasse, Sextanten und Fernrohre. Die Seekarten waren erstklassig, die Sextanten waren zu gebrauchen. Die Kompasse aber und die Fernrohre waren nur noch Trümmer. Er fand auch das Logbuch, aber es brach einen Tag vor dem Sternsturz ab, so daß nicht mehr auszumachen war, wo die drei Mädchen das Schiff verlassen haben mochten. Als Besitzerin der Yacht zeigten die Schiffspapiere Lady Isabel Wingate.

»Hat den besten Rennstall von England«, meinte Lars, »fliegt auch gut. Wußte gar nicht, daß sie auch segelt.«

Peter hatte weder von ihrem Rennstall noch von ihren Flugtaten je etwas gehört. Er besah sich die Seekarten der Lady, aber es flirrte ihm vor den Augen, er begriff kaum, wo eigentlich die Küste sein sollte auf diesen merkwürdigen Dingern.

»Wollen mal sehen, wie es in der Kombüse aussieht«, lachte Lars.

»Schließlich müssen wir ja etwas zu essen haben.«

Es zeigte sich, daß die Konservenbüchsen alle geplatzt waren. Nur die Aluminiumbüchsen für Milch und Wein und Bier waren heil geblieben, dafür aber prangten eine Reihe sauber geputzter Kupferkessel an der Wand, und ein Primuskocher stand, prächtig anzusehen, auf dem Anrichtetisch. Zwieback war vorhanden, Salzfleisch in einem großen irdenen Topf, gedörrtes Obst und eine Reihe von scharfen Soßen. Kaffee duftete in schweren Gläsern und herrlicher Tee, Kakao war vorhanden, Mehl und Teigwaren, Reis und Gries und Nudeln. Lars brüllte vor Freude. Er begann einen Seemannssong zu pfeifen, der fraglos in Damengesellschaft nicht hätte gepfiffen werden dürfen, und stieg an Deck.

»Peter, alter Junge«, röhrte er durch den Niedergang, »komm rauf und hilf mir den Kasten wieder flottmachen. In drei Wochen sind wir in Deutschland.«

Peter kroch Lars nach, er ging umher wie im Traum, alles war ihm zu plötzlich gekommen, er fürchtete sich, laut aufzutreten, wähnend, daß sich der ganze Spuk verflüchtigen könne. Immer wieder faßte er Holz und Bronze und Leinwand an, Taue und kupferne Beschläge. Aber so oft er sie auch berührte, sie blieben fest und wirklich, wie sie waren. Die Flut kam, und die »Whiteoak« scharrte heftiger an den Klippen. Sie wiegte sich, und Lars rannte nach Stange und Enterhaken. Er fand sie vorn am Bug. »Los, los«, schrie er, »wenn das Ding auf die Klippen kracht, ist es aus mit der Heimfahrt, wir müssen raus!« Nun stemmten sich beide mit aller Macht gegen den Fels. Bei jedem Steigen der Yacht drückten sie zu, es war ihnen, als schöbe sich das schlanke weiße Schiff langsam rückwärts. Dann plötzlich gab es einen Ruck, Peter fiel der Länge lang aufs Deck, Lars knallte gegen seinen Stangengriff, daß es ihm fast den Kopf verdrehte, aber die Yacht schwamm. Sie schwamm und trieb langsam den Altenfjord hinaus. »Höh«, brüllte Lars, »Peter, los, Segel setzen, oder wir knallen in zehn Minuten wieder an die Felsen. Los, los, los!«

Sie rannten beide. Es gab einige Verwirrung, dann fielen die festgezurrten Leinen, und hell und schimmernd stieg das Großsegel empor. Lars raste ans Steuer, er warf die Pinne herum. »Whiteoak« nahm Fahrt auf. Sie kreuzte langsam nach Norden, wendete, ging auf Westkurs, und während Peter mühsam und nach vieler Ungeschicklichkeit die Fock hochbrachte, rauschte sie mit Nordostwind in den Stjernsund hinein.

Lars hielt das Ruder, und er betete kurze, harte Stoßseufzer. »Laß keine verdammte Klippe kommen«, betete er, »laß den Kahn nicht leck werden, laß uns nicht irgendwo aufbrummen, laß uns raus nach Westen, wo keine Schären sind.«

Zu wem er eigentlich betete, war ihm dabei gar nicht klar. Vielleicht war es einfach der Wind, die Welle, das Meer – oder auch das Geschick.

Am Abend jedenfalls schwang sich »Whiteoak« auf der Höhe von Fuglö bei leichtem Wind auf den Wellen, bereit, nach Südwesten abzudrehen, wenn Vannö, Hvalö und Grötö südwärts querab geblieben wären.

In endloser Folge rauschen die Wellen heran, brechen sich an dem schlanken Bug der weißen Yacht, werfen schimmernden Gischt empor.

Peter hat sich an den Seemannsdienst gewöhnt, wenigstens scheint es so. Er weiß, wie man Segel setzt und Segel refft, wie man die Yacht im Kurse hält, in einem Kurse, der seine ganze Grundlage in der einen Tatsache hat, daß man im Osten backbord die Küste sieht, die lange norwegische Felsküste, der man möglichst nicht allzu nahe kommt. Denn wer von den beiden traute es sich zu, neben Ruder und Segel auch noch die Seekarte zu lesen, zu loten und die Tiefe auszusingen? Für Peter ist so eine Seekarte noch immer ein Buch mit sieben Siegeln, und auch Lars kennt sich im einzelnen nicht aus, da alle Seefeuer erloschen sind und kein Heulzeichen und kein blitzendes Licht über die graue Wasserfläche läuft. Südwärts, südwärts, das ist die einzige Richtung, die ihnen frommt. Gebe Gott, daß kein Sturm aufkommt oder ein Orkan aus Westen.

Ein paarmal schon haben sie hart vor dem Winde herlaufen müssen, und die »Whiteoak« hat die Nase in die schäumende See gesteckt, daß der schlanke Peitschenmast sich bog und zitterte. Aber es war nördlicher strammer Wind, und sie schäumten nur rascher dem Ziele zu, – so ertrugen sie es denn, und wenn auch Peter krank von dem Stampfen und Rollen in der Kajüte lag, bleich und schwach, als sei alle Kraft aus den Gliedern gelaufen, und wenn auch Lars hungrig und naß Tage und Nächte am Ruder saß, bei festgelegtem Segel allein das Schiff regierend.

Lange schon sah das Schiff nicht mehr sauber und schmuck aus. Die Farbe sprang ab, das Deck war nicht gewaschen, in der Kajüte lagen die Sachen umher, unaufgeräumt. Der Kupferbeschlag setzte Grünspan an, und die blitzenden Nickelverzierungen waren stumpf und grau. Nur die Bronzedrähte blinkten und gleißten, und das blütenweiße Segel bauschte sich schwanengleich.

Zweimal hatten sie an kleinen Außenschären angelegt. Einmal hatten sie eine Fischerfamilie getroffen. Auch sie hatten von dem Geschehen keine Vorstellung. Sie hatten ihre Netze weitergelegt, hatten sich zwar gewundert, daß die Messer nicht mehr schnitten und die Nadeln sich verbogen beim Netzeflicken, die Angelhaken weich geworden waren, aber sie hatten kaum über die Ursachen nachgedacht. Sie halfen sich so gut es gehen mochte, die Boote zudem waren alte erprobte Holzbauten, mit Kupferbolzen genietet. Daß keine Küstendampfer mehr vorbeikamen seit einigen Wochen, das war das große Gespräch des Abends in den Hütten gewesen. Schließlich hatte man gemeint, daß wohl ein Krieg wieder ausgebrochen sei.

Wasser bekamen sie und auch einen alten bronzenen Anker. An langem Tauwerk vertäut lag er nun an Deck, Unterpfand für künftige Landungen. Aber erst vor Throndhjem wagten sie sich näher ans Land. Östlich Fro Oer nach Süden segelnd, gingen sie bei Kraakvaag an Land. Hier trafen sie Fischer an, die ihnen mehr erzählen konnten, als die einsamen Menschen im Norden. Ja, die Städte seien zusammengestürzt, wie, das wisse man auch nicht, und die Holzhäuser, die zunächst stehen geblieben in Throndhjem, hätte das große Feuer gefressen. Nirgends mehr gäbe es Eisen. Zum Beweise holten die Männer ihre alten Waffen und Äxte herbei, die formlose metallische Klumpen waren. Dann sei plötzlich ein Gerücht umgelaufen, daß nur im Norden das Eisen vergangen sei, in Oslo sei alles wie zuvor. Niemand wisse, woher das Gerücht kam. Aber wer noch war in Throndhjem und Fjord, sei nach Süden gewandert, quer übers Gebirge. Bisher habe man nichts mehr von ihnen gehört. Ein paarmal seien sie noch in der Stadt gewesen, aber die alten Weiber, die bei dem Auszug zurückgeblieben seien, seien nun auch schon gestorben, da ihnen niemand zu essen gegeben habe. Jetzt gingen sie nicht mehr in die unheimliche tote Stadt.

»Und warum seid ihr nicht mitgezogen nach Süden?« fragte Lars. Die Fischer zogen die Schultern hoch. Wir können hier leben, meinten sie, und wir kennen die Berge da drinnen im Lande nicht, – wenn wir sterben sollen, warum nicht hier, wo unsere Vorväter schlafen?«

Ja, so war es gewesen im Throndhjemfjord, und so blieb es bei Bergen und Stavanger. Die Menschen waren fort, geflohen, gestorben, leer standen die zerfallenen oder verbrannten Mauern, leer auch die Häuser, die noch erhalten waren. Immer wieder mußte Peter an Gerdis Gesicht denken, das Menschen zeigte, verzweifelnd und heimatlos wandernd, ins Unbekannte, ohne Ziel. Nur auf den Schären hockten die Fischer. Wer aber brachte ihnen Gerät und Getränk, Salz und Petroleum, Holz und Kleidung? Was geschah mit ihnen, wenn die kargen Vorräte zu Ende gingen und der Winter kam? Peter wußte es nicht, und die Fischer auf den felsigen Inseln wußten es wohl auch nicht. Sie blieben eben da, wo die Vorväter einst schon saßen, und warteten auf das Wunder. War es nicht gleich, ob sie hier wellenumrauscht seiner harrten oder dort irgendwo im Lande, wandernd auf unbekannten Straßen? Noch war es auf den Inseln besser als anderswo. Darin hatten die sonnenverbrannten, salzseegegerbten Kerle recht. Wer immer dem Tod ins Auge schaut, der weicht ihm nur selten noch aus. Er weiß, daß er ihm einmal nicht entgehen kann, warum also sollte er seinen Platz verlassen? Steiler wurden die Wogen, kürzer und härter. Von Nordwesten zog dunkles Gewölk herauf, sicher kam schwerer Sturm. Immer schwieriger wurde es für Peter, den Kurs zu halten, die »Whiteoak« versuchte bei jedem Anprall der achtern seitlich aufkommenden Wogen auszubrechen. Längst schon hatte Lars die Großsegel gerefft, trotzdem legte der Mast sich zitternd weiter über. Schwer stampfte die Yacht. Es wurde dunkel, eine Regenbö brauste heran. Das Schiff legte sich schwer über, knallend flog die Fock davon, ein weißer Vogel, der rasch in den Wellen verschwand.

Lars riß das Großsegel herunter, eine kleine Notfock hißte er auf. Schwer schwang die Yacht quer zu den Wellen. Willenlos flog sie auf den weit rollenden Wogen auf und nieder. Dann faßte der Sturm die Notfock, verzweifelt stemmte sich Peter gegen das Steuer, tief den Bug in die Woge wühlend, überschüttet von brechendem Wasser, schwang die »Whiteoak« wieder ein, auf den Kurs vor dem Sturm. Lars schickte Peter nach unten. Er nahm das Ruder, band es fest, band sich selbst dazu, und starrte mit heißen Augen südwärts. Noch hatte er nichts Warmes gegessen, die Tasse Tee heute morgen war alles gewesen, dazu ein paar Zwiebäcke. Verwildert waren sie beide auf der Flucht nach vorn, dem Festland Deutschland entgegen, wild standen die Bartstoppeln im Gesicht, das eingefallen und gezeichnet war von der Not und dem harten Ringen. Wie lange hatten sie sich nicht gewaschen? Wie lange trieben sie schon so die norwegische Küste herunter? Waren sie gestern weit querab von Kap Lindesnäs gewesen? War dies nun das Skagerrak? Sie mußten nach Osten den Kurs setzen, sonst trieben sie hinaus in die Nordsee.

Der Sturm heulte und pfiff in den Spanndrähten, die Brecher schlugen mit immer stärkerer Gewalt über Deck. Einmal noch kroch Peter umher, mühsam die Luken schließend, die Sturmfock sichernd. Dann verschwand er nach unten. Eine gewaltige Woge erreichte ihn, als er den Niedergang schließen wollte, sie spülte ihn über die Treppe hinab, zerschlug die Tür zur Kajüte und schleuderte ihn gegen die Wand. Peter fühlte den rechten Arm knacken, er spürte einen Schlag gegen den Kopf, dann rollte er unter den Tisch. Erst als eine neue Ladung Wasser nach unten kam, ihn ins Gesicht traf, wachte er auf. Der rechte Arm hing schlapp herunter, er hatte rasende Kopfschmerzen, der linke Fuß war dick geschwollen. Mühsam zog Peter sich an dem Tisch hoch. Noch einmal warf es ihn um, dann kroch er den Niedergang empor und schlug die Luke über sich zu, verschraubte sie und glitt dann, am Geländer sich haltend, bei schon schwindendem Bewußtsein, nach unten. Droben hing angeseilt, neben dem Ruder, Lars. Er fror, ihm war, als vereise er innen. Die Wasser spülten gischtend über ihn hin, aber er hielt den Kurs. Osten, Osten. Es wurde Nacht, der Wind drehte drei Striche westlicher. Die Brecher kamen mehr achtern und schlugen nicht mehr so hart gegen das stampfende Schiff. »Ich werde nicht merken, wann ich wieder südwärts drehen muß«, dachte Lars. »Es ist alles finster, es brennt kein Leuchtfeuer mehr an der schwedischen Küste. Wenn der Sturm so weiter läuft, wirft er uns in die Felsen von Göteborg.«

Regen peitschte herab, Schwärze umfing das Schiff. Das Toben des Windes, das Brausen der See wiegte Lars in den Schlaf. Auf dem jagenden Schiff, das Ruder in der Hand, fiel er in den Abgrund der Erschöpfung.

Nach Süden drehen, rechtzeitig … dachte er noch, dann wußte er nichts mehr.

Sein Kopf fiel vornüber, seine Schultern sanken nach vorn, er schlug mit der Stirn auf der Ruderpinne auf.

Lars Larsen schlief, so tief und bewußtlos, wie drunten im Schiff der zerschlagene Peter Kagemann.

Die »Whiteoak« jagte voran, Kurs Ost-Süd-Ost.


 << zurück weiter >>