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Zwölftes Kapitel

In zwei Tagen war vieles anders geworden im Tal. Zwar saßen die Menschen noch immer den Tag über in der sicheren Steinhöhle des Tunnels, aber das Vieh war wieder eingefangen, das in die Berge entlaufene, und mit Lederriemen an die Raufen gebunden. Die Frauen waren beruhigt, nun sie gesehen hatten, daß die Holzhäuser und Heustadel wirklich unversehrt waren und auch das Leinen in der Truhe nicht unbrauchbar geworden war.

Bedenkliche Gesichter hatten die Männer gemacht, die kaum ein Messer, eine Axt und eine Säge gerettet hatten, geschweige denn einen Pflug oder eine Sense.

Aber hier hatte Erlinspiel ausgeholfen. Als er seine Kisten öffnete, die aus dem Tunnel und die aus dem Haus, da fanden sich darin Werkzeuge genug. Sie waren alle gut, schneidfähig und hart. Aber außer diesen Werkzeugen des Friedens waren eine ganze Menge Waffen zum Vorschein gekommen, und die junge Mannschaft lief mit Pistolen und Karabinern durch die Nacht.

Zuerst war nur ein ungläubiges Staunen gewesen, als Erlinspiel erklärte, daß nun Jahre vergehen würden, ehe der erste Wagen wieder vom Rhonetal heraufkommen würde, daß sie ganz allein und auf sich gestellt diese Zeit überstehen müßten -~, daß sie sich gegen jeden Zuzug von Nord und Süd das Tal hinauf oder den Paß hinab, wehren müßten, wollten sie das eigene Leben erhalten. Und wenn er ihnen auch die Gefahren so beredt als möglich geschildert hatte, die Haufen von verzweifelten, flüchtenden, hungernden Menschen, die in einigen Wochen versuchen würden, das Tal zu stürmen, diese Oase im Untergange, und wenn sie schließlich auch alle zugestimmt hatten, einen Wachdienst zu hallen, drunten an der Brücke und droben am Paß –, so war es doch deutlich, daß sie es nur ihm zuliebe taten, der sie vor dem Untergange gerettet hatte, aber nicht, weil sie nun wirklich überzeugt waren, daß diese Prüfungen ihnen noch bevorständen. Sie begriffen gar nicht die Größe der Katastrophe, die sich in der Welt abgespielt hatte. Da sie selbst nur wenig betroffen waren, konnten sie sich nichts anderes denken, als daß auch im übrigen Land, nahe oder fern, es nicht allzu schrecklich zugegangen sein könnte. Immerhin –, es gab eine neue Regierung im Dorf: Erlinspiel, Zurbriggen und den jungen Anthanmaten.

Gerdis saß im Haus und führte Listen, Listen all der Lebensmittel, die vorhanden waren im Tal, des Weines und der Haustiere, der Arzneien und der Geräte. Es war ein schweres Amt, tagsüber schrieb sie beim Scheine einer Petroleumlampe im Tunnel und nachts im Haus auf der grünen Felsenkuppe. Erlinspiel aber sammelte die Lebensmittel ein und machte aus ihnen ein großes Lager, gemeinsamen Besitz des ganzen Tales. Er bestimmte den Wachdienst, den Anthanmaten zu leiten bekam, er richtete einen Arbeitsdienst ein, der schmale Brückenstege über die Bergwasser schlug, dort, wo die eisernen Brücken in das rauschende Wasser gesunken waren, und die Trümmer wegräumte in den zerfallenen Häusern, die mit eisernen Trägern gebaut worden waren. Die Wirte durften Wein nur viertelliterweise ausschenken, den Tag einen viertel Liter für jeden. Schnaps und Branntwein nahm Erlinspiel selbst unter Verschluß, der sollte bleiben für Krankheit und mögliche Fälle äußerster Not, im Winter zumal.

Nach einer Woche wagten die Männer und Frauen des Tals sich wieder ins Licht. Erlinspiel und Dr. Füßli hatten viele Versuche gemacht, sie hatten sogar eine Taschenuhr geopfert, um festzustellen, ob noch immer die Strahlen zerstörend herniederschössen. Aber obwohl sie die Uhr offen den Tag über in die Sonnenglut legten –, es zeigte sich keine Veränderung. Da gaben sie die Erlaubnis, daß das Leben wieder begänne, wie es vor dem Sturze des Irrsterns verlief.

Aber doch, es war nicht das alte Leben. Eine neue Gemeinschaft hatte sich gebildet, aus den Sippen und Zweigen der Dörfer war wieder ein Stamm geworden, der ruhig und gefaßt erwartete, was die kommenden Wochen bringen möchten.

»Glaubt nicht, daß ihr lässig werden dürft«, hatte Werner dem jungen Anthanmaten eingeschärft, »wenn sich die erste Zeit nichts zeigt an euren Auslugposten. Noch gibt es drunten zu essen, und noch kann man im Freien schlafen, noch ist der große Jammer nicht angebrochen. Aber eines Tages werden sie kommen, hohlwangig und schreiend, und sie werden euer Vieh fordern und euer Brot, eure Hütten und euren Wein. Dann müßt ihr hart sein, so leid es euch tun mag, denn sonst gehen wir alle zugrunde.«

»Auf uns können Sie sich verlassen«, hatte Anthanmaten gelacht, und den kecken Jägerhut noch verwegener in das braundunkle Haar geschoben. »Wo ich kommandier, da kommt niemand ins Tal der nicht soll. Na, – so leicht nicht.«

So gingen die Tage herum, und es war fast, als sei nichts geschehen. Es grünten die Wiesen und es läuteten die Halsglocken der Leitkühe. Es kamen Jodler, die nach Antwort riefen, und der warme Duft blühender Berghalden ins Tal. Die Nächte schimmerten hell im Mond und die Tage waren heiß unter einer sehr strahlenden Sonne.

Die Wasser schäumten und rauschten, und der Wald sprach im Wind. Und doch war alles anders und ganz und gar verwandelt, denn die Menschen waren nicht mehr dieselben, ob sie auch noch die gleichen Namen trugen und das gleiche Gesicht.

Gerdis begann schon schwer an dem Kinde zu tragen. Sie war sehr still, manchmal lächelte sie einem Vogel zu in der Luft.

Zurbriggen hatte ein Mädchen geschickt von fünfzehn Jahren, das ging ihr nun zur Hand, es war eine Zurbriggen, eine Enkelin des Alten.

»Wenn Gloria geboren ist, gehen Sie Peter suchen, ja, Werner?«

Erlinspiel streichelte ihre Hände. Hatte sie nicht einmal zu ihm Du gesagt?

»Wenn dies Tal sicher ist vor aller Gefahr, werde ich gehen. Jetzt muß ich die Menschen hier schützen, sie wissen noch nicht, was ihrer wartet. Im späten Herbst aber werde ich Peter suchen. Wenn ihn das Unheil dort oben überrascht hat, über dem Polarkreis, so kann er auch früher nicht wieder in Deutschland sein. Wenn –«, er bracht ab und starrte vor sich hin.

»Wenn«, vollendete Gerdis, »wenn er noch lebt. Das wollten Sie sagen, Werner, nicht wahr? Ach, es ist seltsam, ich muß immer an ihn denken, wie an einen Toten, und ich weiß doch, daß er lebt. Ich kann es nicht erklären.«

Ein Gedanke durchfuhr Erlinspiel. Aber er wagte ihn nicht zu sagen, er wagte nicht einmal, ihn klar vor sich hinzudenken, ihn aus dem Dunkel des plötzlichen Ahnens zu holen – aus Furcht, Gerdis möchte ihn sogleich hinter seiner Stirn erkennen und ablesen. So ließ er ihn tief in sich drunten.

»Wenn er lebt, dann werde ich ihn finden«, sagte er langsam. »Und dann werde ich ihn hierherbringen, zu Ihnen, Gerdis, und zu Gloria …«

Eine Lerche schlug. Gerdis begann, zaghaft erst und immer stärker dann, unaufhaltsam zu weinen.


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