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Sechstes Kapitel. Die Welt meldet sich.

»Guten Morgen, Lenz! Du hast gut geschlafen. Du bist doch noch wie ein Kind; das schläft gut, wenn es sich ausgeweint hat.« So tönte der Grundbaß Fallers am Morgen, und Lenz sagte: »O Kamerad, aufwachen, so wieder aufwachen und sich erinnern, was am gestrigen Tag geschehen ist – das Elend ist neu. Aber ich muß mich jetzt fassen. Ich will dir gleich die Bürgschaft schreiben. Geh damit zum Schultheiß, eh' er davonreitet, und sag ihm auch einen Gruß von mir. Jetzt fällt mir's eben ein, ich habe von ihm geträumt. Wenn du kannst, geh auch zum Pilgrim und sag, ich warte daheim auf ihn. Glück zu deinem Haus. Es thut mir wohl, daß du jetzt einen eigenen Unterschlupf hast.«

Faller ging mit der Bürgschaft ins Thal, und Lenz setzte sich zur Arbeit, vorher aber zog er noch eine der Spieluhren auf und ließ den Choral spielen. Er nickte mehrmals, während er an einem Rade feilte; das Stück geht gut, es war auch ihr – der Mutter – Lieblingsstück, dachte er vor sich hin. Die große Spieluhr mit zierlich geschnitztem Nußbaumgehäuse, so groß wie ein mäßiger Kleiderschrank, hieß »die Zauberflöte«, denn die Ouvertüre dieser Oper war neben fünf andern Stücken, die drein gesetzt waren, ihr Hauptstück. Sie war bereits verkauft in ein großes Theehaus nach Odessa. Ein kleineres Werk stand daneben, und an einem dritten arbeitete Lenz. Er arbeitete unablässig bis Mittag. Er war sehr hungrig. Als er sich aber jetzt allein zu Tisch setzen sollte, schien ihm aller Hunger zu vergehen.

Er bat die alte Magd, daß sie sich wie zu Lebzeiten der Mutter zu ihm setze. Sie that sehr zimperlich und verschämt, mit einem jungen Manne so allein. Sie selbst ließ sich aber doch endlich dazu bewegen, und schon nach der Suppe sagte sie: »Eigentlich solltest du gar nicht heiraten.«

»Wer sagt denn, daß ich heiraten will?«

»Ich meine, wenn du heiratest, solltest du des Vogtsbauern Kathrine heiraten, die ist aus einem rechtschaffnen Haus, und sie ehrt dich, sie schwört nicht höher als bei dir. So eine Frau wäre recht. Es wäre schrecklich, wenn du eine bekämst, bei der du den Schuhputzer machen müßtest. Die Mädle sind ja heutigentags so . . . so bräuchig und wollen nichts als prächteln und sich anputzen.«

»Ich denke nicht auf Heiraten und am wenigsten jetzt.«

»Hast auch recht. Es ist nicht nötig. Besser kriegst du's nicht, glaub mir. Und ich weiß, wie du's gewöhnt bist von jeher, und ich will dir alles so verrichten und halten, daß du meinen sollst, deine Mutter wäre noch auf der Welt. Nicht wahr, die Bohnen schmecken dir gut? Ich hab's von deiner Mutter gelernt, sie so zu machen, ganz so. Sie hat alles verstanden, vom Größten bis zum Kleinsten. Wirst sehen, du wirst vergnügt sein, seelenvergnügt, wenn wir bei einander sind.«

»Ja, Franzl,« sagte Lenz, »ich glaube nicht, daß es so bleiben wird.«

»So? Hast du schon eine auf dem Korn? Schau einmal an! Meint man, der Lenz habe nichts im Kopf, als seine Uhren und seine Mutter! Wenn's nur eine aus einem rechten Haus ist. Wie gesagt, des Vogtsbauern Kathrine, das gibt eine Frau für Sonntag und Werktag, die kann in Haus und Feld schaffen und kann spinnen, man meint, sie müsse das Stroh vom Dach herunter spinnen. Sie schwört nicht höher als bei dir, und alles, was du thust, und alles, was du sagst, ist für sie ein Heiligtum. Sie sagt immer: vom Lenz kommt nur Gutes, und wenn's auch den Anschein hat, daß es anders ist, wie dein Arbeiten gestern. Und sie hat ein schönes Vermögen und noch ein besonderes Muttergut, da kann man einmal ein Kind drauf setzen, und das kann sich ganz gut nähren.«

»Franzl, vom Heiraten ist ja gar keine Rede. Ich hab' im Sinn – ich weiß noch nicht, es ist möglich – vielleicht verkaufe oder verpachte ich mein ganzes Anwesen und gehe noch in die Fremde.«

Franzl sah starr auf Lenz und brachte den Löffel nicht mehr aus dem Teller nach dem Munde. Lenz fuhr fort: »Ich werde dich versorgen, Franzl, du sollst keine Not leiden; aber ich meine, ich bin noch nie in der Welt draußen gewesen, und ich möcht' einmal hinaus und auch was sehen und erleben, und vielleicht bringe ich's in meiner Kunst noch weiter, und wer weiß – – –«

»Ich will da nichts drein reden,« sagte Franzl, »ich bin ein dummes Mädle, wenn auch sonst wir Knuslinger dafür bekannt sind, daß wir nicht auf den Kopf gefallen sind. Was weiß ich viel von der Welt! Aber so viel weiß ich doch, ich hab' nicht umsonst siebenundzwanzig Jahre da gedient. Ich bin ins Haus gekommen, wie du vier Jahre alt gewesen bist. Und du bist das jüngste und auch das liebste Kind im Hause gewesen. Und deine Geschwister unterm Boden – jetzt aber, das habe ich dir nicht sagen wollen. Ich bin siebenundzwanzig Jahre bei deiner Mutter gewesen. Ich kann nicht sagen, daß ich so gescheit bin, wie sie; wo gibt's eine weit und breit, von der man das sagen kann? Das steht nimmermehr auf, so lang die Welt steht. Aber ich weiß doch viel von ihr. Und wie oft hat sie gesagt: Franzl, hat sie gesagt, da rennen die Menschen in die Welt hinaus, wie wenn da draußen, da drüben über dem Rhein oder gar überm Meer das Glück auf der Gasse herumliefe, und: Ei schönen guten Morgen, Hans und Michel und Christoph, freut mich, daß du kommst, sagt er zum Hans und zum Michel und zum Christoph. Franzl, hat deine Mutter gesagt, wer's daheim zu nichts bringt, bringt's auch draußen zu nichts, und überall, wo man hinkommt, sind auch schon Menschen, und wenn's Gold regnen thät', thäten sie's schon aufheben und nicht warten, bis die Fremden kommen. Und was für ein Glück kann man machen in der Welt? Mehr als essen, trinken und schlafen kann man nicht. Franzl, hat sie gesagt, mein Lenz, der hat auch – verzeih mir's, deine Mutter hat's gesagt, ich sag's nicht aus mir selber – mein Lenz, der hat auch die Narrenspossen mit dem Wandern im Kopf, aber wo kann er's besser kriegen? Und er ist kein Mensch für die wilde Welt. Da muß man ein Ausrauber sein, wie der Petrowitsch, ein ausgeschämter, knickriger, habgieriger, unbarmherziger Mensch, heißt das, wenn ich ehrlich sein soll, sie hat das nicht gesagt, sie hat auf niemand was gesagt; aber ich denk's und ich sag's. Und dann hat sie mir oft ans Herz gelegt: Schau, wenn mein Lenz hinaus käm', der schenkte das Hemd vom Leib weg, wenn er einen Bedürftigen sieht, er ist gar leidmütig, und wer nur will, kann ihn betrügen. Franzl, hat sie gesagt, wenn ich nicht mehr auf der Welt bin und die Wandersucht kommt wieder über ihn, Franzl, hat sie gesagt, häng dich an seinen Rock und laß ihn nicht fort; heißt das, lieber Gott, das thu' ich nicht, wie kann ich das? Aber sagen darf ich's dir, ich muß es, sie hat mir's auf die Seele gebunden. Sieh dich einmal um, da hast du ein eingerichtetes Haus, hast deine gute Nahrung, bist geehrt und bist geliebt, und wenn du hinaus kommst in die fremde Welt, wer kennt dich? Wer weiß, daß das Lenz von der Morgenhalde ist? Und wenn du keine Herberge hast und mußt im Wald übernachten, wie oft wirst du denken: O, lieber Gott! und ich habe ein Haus gehabt und sieben aufgerichtete Betten und Geschirr genug und ein Fäßchen Wein im Keller . . . Soll ich dir nicht ein Schöpple holen? Wart, ich hol'! Wenn man traurig ist, muß man Wein trinken. Tausendmal hat's deine Mutter gesagt: das heitert auf, und da kriegt man andre Gedanken.«

Schnell eilte Franzl zur Thür hinaus und in den Keller und kam bald mit einem Schoppen Wein. Lenz that es nicht anders, sie mußte auch für sich ein Glas holen. Er schenkte ihr ein und stieß mit ihr an, sie nippte nur verschämt, nahm aber beim Abräumen doch das Glas Wein mit in die Küche.

Lenz arbeitete wieder fleißig, bis es Abend wurde. War's der Wein oder sonst was, er war unruhig bei der Arbeit und mehrmals nahe daran, das Handwerkszeug wegzulegen und irgend wohin auf Besuch zu gehen. Aber er dachte wieder, er dürfe nicht ausgehen, es kämen gewiß gute Freunde, die ihn in seiner Einsamkeit trösteten; sie sollten ihn zu Hause finden. Es kam aber niemand als der Pröbler. Er war dem Lenz besonders gut, weil er einer der wenigen war, die ihn nicht verspotteten und ihn nicht darüber auslachten, daß er sich nicht dazu bringen konnte, eines seiner Kunstwerke zu verkaufen, er verpfändete sie nur, bis er sie nicht mehr einlösen konnte, und man sagte: der Löwenwirt, der als Packer – wie man die eigentlichen Kommissionäre und Großhändler nennt – große Geschäfte machte, verdiene ein schön Stück am Pröbler, der seine Hauptwerke bei ihm verpfändet hatte.

Lenz hörte dem alten Pröbler sogar immer ganz aufmerksam und ernst zu, wenn er ihm darthat, daß er nichts Geringeres herstellen könne, als das perpetuum mobile, es fehlte ihm weiter nichts dazu, als die zweiundvierzig Diamanten, auf denen das Werk gehen muß. Dafür hatte ihm der Pröbler auch gern geholfen, die Normaluhr herzustellen, nach der die ganze Gegend arbeiten sollte, und Lenz erzählte überall offen, daß der Pröbler ein Gutes dazugethan habe, denn er drang darauf, die Normaluhr in fünferlei Kaliber vorzurichten.

Heute kam aber der Pröbler nicht wegen einer neuen Entdeckung und nicht wegen des perpetuum mobile, er bot sich vielmehr Lenz – nachdem dieser die pflichtgemäße Prise genommen – als Unterhändler an, wenn er heiraten wolle. Er führte ihm eine ganze Reihe heiratsfähiger Mädchen vor, darunter auch die des Doktors, und schloß: »Alle Häuser stehen dir offen, du bist nur zu scheu. Sag mir nur ehrlich, wo deine Gedanken hingehen, ich will schon machen, daß man dir halbwegs entgegenkommt.«

Lenz gab kaum eine Antwort, und der Pröbler ging davon. Daß er auch eine von des Doktors Töchtern bekommen könne, beschäftigte Lenz doch eine Weile. Es waren drei prächtige Kernmädchen. Die älteste hat etwas gar Bedächtiges, fast mütterlich Sorgliches, und die zweite konnte so vortrefflich Klavier spielen und singen. Wie oft hatte Lenz vor dem Hause gestanden und ihr zugehört! Die Musik war eigentlich seine einzige Leidenschaft, und er hatte eine wahre Sehnsucht nach Musik, wie ein Durstiger nach einer Wasserquelle. Wie wär's, wenn er eine Frau bekommen könnte, die gut Klavier spielte? Sie müßte ihm alle Stücke vorspielen, die er in seine Uhren setzt, und die sollten dann noch einen ganz andern Klang bekommen. Aber nein, aus einem so vornehmen Haus kannst du keine Frau brauchen, und eine, die gut Klavier spielt, kann nicht Haus und Feld und Stall besorgen, wie die Uhrmachersfrauen müssen. Und überhaupt, du wartest noch ruhig. –

Als es zu dämmern begann, zog sich Lenz an und ging ins Thal.

Alle Häuser stehen dir offen, hat der Pröbler gesagt. Alle Häuser? Das ist sehr viel, just so viel, wie gar keins. Wenn man nicht in ein Haus treten kann und die Menschen bleiben in ihrer Ordnung; du gehörst dazu, kein Blick, keine Miene fragt: was kommst du daher? Was magst du wollen? Was geht vor? Wenn du nicht heimisch bist, dann hast du eben gar kein Haus. Und wie jetzt Lenz das ganze Dorf hinauf und hinab, eine Stunde weit, in Gedanken von Haus zu Haus ging, man wird ihm überall mit Freuden die Hand reichen, aber er ist eben nirgend daheim. Doch, doch, er hat einen Freund, da ist er daheim, gerad' so viel wie in seiner eigenen Stube. Der Schildermaler Pilgrim hat ihn gestern vom Leichenbegängnis heimbegleiten wollen, aber als sich ihm der Ohm Petrowitsch anschloß, blieb Pilgrim zurück, denn Petrowitsch verachtete den Pilgrim, weil er ein armer Teufel, und Pilgrim verachtete den Petrowitsch, weil er ein reicher Teufel war. Also zum Pilgrim gehst du.

Pilgrim wohnte thalabwärts beim Don Bastian, so nannte ihn Pilgrim. Es war dies ein ehemaliger Uhrenhändler, der sich durch einen zwölfjährigen Aufenthalt in Spanien ein beträchtliches Vermögen erworben hatte. Nach seiner Heimkunft kaufte er sich ein Bauerngut, zog wieder Bauernkleider an und hatte außer dem Gelde nichts von seiner spanischen Reise behalten, als ein paar spanische Worte, die er zuzeiten gern verwertete, besonders im Hochsommer, wenn die Weltläufer aus allen Gegenden heimkehrten.


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