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18. Die Seekönigin.

Ihr habt wohl oft die Sage gehört von Glocken, die aus tiefen Seen läuten, besonders um die Zeit der Mitternacht und zur Zeit der großen, heiligen Feste der Christen. Da sagen die Leute, es sind versunkene Schlösser und Kirchen, deren Glocken läuten müssen zur ernstesten Stunde der Zeit und an jenen hehren Tagen, wo alle Herzen und Glocken die hellesten und innigsten Klänge erklingen lassen. Aber das ist nur so ein Gerede, weil sie das, was ihnen zuzeiten so wunderbar und schauerlich aus tiefen Seen herauftönt, gern natürlich erklären möchten. Nein, es sind keine Glocken von versunkenen Schlössern und Kirchen, es sind keine aus Erz und Silber gegossene Glocken, sondern sehnsüchtige und klingende Trauerglocken der Herzen sind es, die durch schlimmen Zauber gefangen da unten in der kalten Tiefe sich ewig nach dem schönen Sonnenlichte droben sehnen müssen, aber nie hinauf können. Und nun will ich die Geschichte der Seekönigin erzählen.

Es haust in den Wäldern und Bergen und Seen und Strömen vieles, wovor den Menschen mit Recht graust, und weswegen viele sich nicht gern allein hineinwagen. Andere aber sind dreist und kühn; aber mancher hat es schon bejammert und muß sein schönes Leben, das er so lustig hätte verbringen können, in der kalten Finsternis oder in dem schauerlichen Wasser vertrauern. Die Unterirdischen, die Elfen, die Bergschmiede, die Nixen und Seejungfrauen sind gar gefährliche Feinde, welche der blühenden Jugend nachstellen und sie in allerlei Schlingen verstricken und zu sich locken. Aber die gefährlichste und zaubervolleste von allen ist die große Seejungfrau oder Seekönigin, welche über alle Geister und Geisterchen herrscht, die in Quellen, Bächen, Strömen und Seen wohnen.

Diese Seejungfrau wohnt gewöhnlich in großen und tiefen Seen, die von grünen Bäumen und Büschen umgeben sind; denn Bäume im grünen Walde muß sie haben, unter welchen sie die schöne Sommerzeit und Frühlingszeit spielen und sich ergötzen kann. Diese liebliche Frau erscheint unter mancherlei Gestalten und kann sich vielfach verwandeln, damit sie die Jünglinge, die sie liebt und in ihre Gewalt haben will, desto leichter und sicherer ankirren und verlocken könne; denn sie ist ein rechtes Wunder von einer Frau. Gewöhnlich aber erscheint sie in folgender Gestalt:

Sie ist eine wunderschöne und anmutige Jungfrau, schlank und hoch von Wuchs mit dem allerlieblichsten Gesichte, dessen Mund wie eine aufblühende Rose schimmert, und dessen himmelblaue Augen leuchten wie ein paar helle Frühlingsquellen, die der Mond bescheint. Ihr Hals ist weiß wie Elfenbein, worum lange, blonde Locken fließen, und den schönen Leib bedeckt ein leichtes, grünes Gewand, das weich um Busen und Hüften wallet, wie das zarte Frühlingsgras, vom Winde bewegt, um einen Bluntenhügel. So sieht man sie in den Seen und Strömen schwimmen und in den Wellen spielen und plätschern, wie ein Wasservögelein hin und her spielet, und gleich einem leichten Blitz dahinschießen. So haben viele sie gesehen im Mondschein und auch bei Tage, unter einer dunklen Eiche oder Buche oder auch unter Erlen und Birken am See gelagert, wo sie Kränze aus Blumen windet, Ringelein von ihren schönen Locken schlingt und wieder auflöset oder auch ein süßes Lied singt, wozu sie auf einer Muschel oder Schalmei bläst. Aber ihr süßestes Lied singt sie in der Mitternacht, und da mag sich in acht nehmen, wer zuviel Feuer im Busen hat. Wenn sie sich dann am Ufer der Seen und Ströme unter den grünen Bäumen hinsetzt und singt und der Stromgeiger aus der Tiefe auftauchet und voll Lust zu ihrem Gesänge die Harfe schlägt, dann hört jeder, der ihr zuhorcht, eine Sirene und muß ihr in die Arme sinken, er mag wollen oder nicht.

Dies ist so ihre gewöhnliche Art und Lebens aber oft erscheint sie auch in all ihrer Pracht und Herrlichkeit als Königin der Wasser, was sie eigentlich ist. Dann funkelt und blitzt ihr Gewand von den schönsten Perlen und Diamanten, eine goldene Krone strahlt auf ihrem Haupte, und ein Zepter nickt in ihrer Hand, und schön geschmückte Diener und Dienerinnen, in Farben und Stoffen des Wasserreichs gekleidet, treten vor und hinter ihr her.

Die Seekönigin ist sehr stolzer aber auch sehr verliebter Natur. Das hat mancher schöne Jüngling wohl empfunden und ist darüber nie wieder gesehen worden. Sie liebt nichts als die erste blühende Jugend, die zwischen achtzehn und zwanzig Jahren alt ist; und schön von Gestalt muß das sein, was ihr gefallen soll. So ist mancher schöne Jägerbursche und mancher lustige Hirtenknabe verschwunden und muß nun in Sehnsucht nach der Sonne, die er nicht mehr sieht, aus den Seen und Teichen heraufklingen, daß die Menschen, die es hören, stehen und lauschen und nicht wissen, was der Klang ist, und woher er kommt. Denn wehe dem armen Jüngling, der in den einsam dunkeln Wald und in das tiefe Tal kommt, wo die Seen und Teiche sind, und sie erblickt! Wenn sie ihre schönen Goldlocken stiegen läßt, wenn sie ihre weißen Arme nach ihm ausstreckt, wenn sie ihn einmal anlächelt, wenn sie singt, ja wenn nur ein Laut über ihre zauberisch süßen Lippen klingt, so ist er verloren. Das Allergefährlichste soll aber sein, wenn sie ihre grünlichen Goldlocken wehen läßt und mit ihrem lieblichen Köpfchen mit halb lächelnder, halb trauriger Gebärde da herausguckt, als spräche sie: »Komm! Komm! Und tröste mich!« Sie ist in ihrer Liebe sehr heftig und feurig und tut dem, was sie lieb hat, alle mögliche Süßigkeit und Anmut an, die sie nur ersinnen und erdenken kann, schenkt ihm auch alle köstlichsten Gaben, die sie nur hat; aber sie ist leicht und wankelisch und trügerisch wie das leichte und falsche Element, worin sie wohnt, und kalt und stolz wie ihr Wasser. Keiner hat sich ihrer Liebe je länger als zwei Jahre erfreuet. Dann zieht sie ihn in die nasse Tiefe mit sich hinab, damit er nicht sagen könne: »Ich habe bei der schönen Seekönigin geschlafen.« Da sitzen nun viele Tausende in dem dunkeln, schauerlichen Abgrund, und ihre Klagen in der Tiefe, das sind die fabelhaften Glocken der Menschen, die zu gewissen Zeiten wehmütig und zauberisch aus dem Grunde der Seen heraufklingen.

Das ist einmal gewiß, wer die Seejungfrau nur einmal angesehen hat, wenn sie ihn liebhaben will, der ist ihr sicherer Raub und kann nicht mehr von ihr lassen. Aber das ist ein Glück, daß diese stolze und zauberische Königin niemand in die Tiefe hinabziehen darf, der nicht einmal in ihren Armen schlief. Aber für wie viele Jünglinge ist es ein Unglück geworden, daß sie sie nur einmal gesehen haben auf dem Spiegel der Wellen hinschlüpfen oder unter einem grünen Baum ihre Locken ausringen oder auf einer blühenden Au Blumen lesen und Kränze winden! Ihr bloßer Anblick bringt eine unaussprechliche und angstvolle Sehnsucht. Wer sie einmal sah, will sie immer wieder sehen; er muß hinaus in die Wildnis, er muß die öden Wälder durchrauschen und an den tiefen Seen und Strömen wandeln, er muß jedes Tier und jeden Vogel, jeden Busch, jeden Baum, jeden Strauch, jede Blume und jeden Grashalm fragen, ja er muß Mond und Sterne und Winde und Lüfte fragen, ob sie die schöne Seejungfrau nicht irgendwo sahen. Und so hat er keine Ruhe bei Tag und bei Nacht; er muß immer dem blanken Schatten nachjagen und findet ihn nimmer und wird blaß und bleich wie ein Gespenst; denn wessen die Jungfrau sich das erstemal nicht erbarmt, den liebt sie nimmer. So hat man viele Jünglinge gesehen, die des Nachts hinaus mußten, wann die andern Menschen schlafen, und die dann in Wald und Büschen hausen. Über solche machen sich dann die Leute ihre Gedanken, und viele sagen ihnen oft auch Arges nach; die armen Jünglinge haben aber nichts Böses getan noch tun wollen, sondern nur ein schweres Leid erlitten, von welchem kein Mensch sie heilen kann. So sind manche hingebleicht und hingewelkt in der Blüte ihrer schönsten Jugend oder sind gar verschwunden und haben sich in Seen und Teichen ersäuft oder sind von Irrlichtern in Sümpfe verlockt; ja einige haben sich in der verzweifelnden Sehnsucht wohl an Bäumen erhängen müssen. Aus solchen Unglücklichen werden nach ihrem Tode die wundersamen Ache und Wehe und Wimmerer und Ächzer und Seufzer, die man so oft gar bei hellem Tage, geschweige um die Mitternacht, aus Quellen und Bäumen und Büschen und Gras und Blumen wimmern, wispern und flüstern hört, daß einem die Haare auf dem Kopfe sausen. Sie müssen dann als dünne Töne und leise Seufzer umherfliegen und umherspielen und die Lebendigen erschrecken, weil sie das Leere und Nichtige zu sehr gesucht haben. Von ihnen ist das Sprichwort gekommen, daß, wenn man sagen will, ein Mensch sei sehr barmherzig, man spricht: »Der hat ein Herz, er möchte, wenn er könnte, jeden fliegenden Seufzer erlösen.« Ich glaube aber, die sind nicht leicht zu erlösen. Davon muß ich nun auch eine kleine Geschichte erzählen.

Es war einmal eine schöne Prinzessin, die Tochter eines sehr reichen und mächtigen Königs; das war ein sehr liebes und frommes Kind. Aber das ward ihr Unglück, daß sie zu viel in alten Märchenbüchern und Ritterbüchern gelesen und sich dadurch allerlei wunderliche und seltsame Einbildungen gemacht hatte. Sie hatte auch einmal die Geschichte von der schönen Seekönigin gelesen und von den armen Jünglingen, die vor lauter Sehnsucht vergangen sind und nun aus Quellen, Bäumen, Blättern und Blüten, ja aus harten Baumknorren und Steinen ächzen und seufzen und ihre Klagen winseln müssen. Das jammerte die schöne Prinzessin gar sehr, und sie hat über ihren unzeitigen und jämmerlichen Tod manches Tränlein weinen müssen. Nun las sie eines Tages ein Märchen, das überschrieben war: Alles durch Liebe, worin es hieß, wenn einer die rechte Liebe hätte, und er fände in Eisen und Stein verzauberte und erstarrete Seelen, die darin harreten bis auf den großen Tag des Gerichts, und er legte sein liebendes Herz nur an die Steine und das Eisen, so müßten sie gleich zerschmelzen und die armen gebundenen Seelen wieder zum Leben erlöst werden. Nun hatte sie auch manches Märchen von den Seufzern und Ächzern im Walde gelesen, und es fiel ihr jetzt ein: »Könnte ich denn nicht die Liebe haben und die armen Seelchen, die als Ächzer und Seufzer wimmern und flüstern müssen, erlösen und in mein Herz senken, daß sie zur Ruhe kämen und nicht mehr so traurig wären und seufzen müßten? Denn die armen Kinder haben ja nichts Härteres verbrochen, als daß sie zuviel geliebt haben. Ja, ich will die Seufzerchen erlösen!« Das sprach die Prinzessin und hat von dem Gedanken nicht lassen können und Tag und Nacht keine Ruhe davor gehabt, sondern er ist, ihr immer lieber und gewisser geworden, und zuletzt hat sie alle Tage in den Wald gehen müssen und ist die Nächte oft heimlich aus dem Schlosse gegangen und im Mond- und Sternenschein in der wilden Forst umhergeschlichen, und wo sie es tönen und ächzen und girren und schwirren gehört hat, da hat sie gelauscht, da ist sie hingeeilt und hat in ihrer freundlichen, süßen Liebe die Bäume und Sträuche, die Blumen und Kräuter, ja zuweilen die kalten Steine umarmt, daß sie an ihr warm würden, und daß ihre traurigen Klagen zur Ruhe kämen.

Der König, ihr Herr Vater, merkte die heimlichen Waldgänge der Prinzessin und verbot sie und sperrte sein Kind ein. Sie ward aber so bleich und krank und elend vor lauter Sehnsucht nach dem Walde, daß er sie wieder herauslassen und die alten Waldgänge erlauben mußte. So ist das arme, schöne Kind zwei Sommer und zwei Winter gegangen und hat Seufzer erlösen wollen; dann ist sie selbst ein Seufzer geworden. Man hat sie eines Morgens im grünen Walde gefunden, wie sie erblaßt um einen Baum hing, den sie in Liebe umschlungen hatte, und an dem sie erstarrt war. Der König hat ihr ein Grab graben lassen und einen Stein darauf gesetzt, auf welchem die Worte geschrieben standen: » Hier liegt die schöne Prinzessin Anemone, die gestorben ist weil sie die Seufzer erlösen wollte.« Und er hat lange um sie getrauert und alle Menschen mit ihm;, denn sie war wohl das allerfreundlichste Seelchen, das je in einem irdischen Leibe gewohnt hat. Es geht aber nun die Sage, daß es die Nächte um ihr Grab unaufhörlich flüstert und wispert und ächzet und seufzet. Da sind dann die kleinen schwirrenden und girrenden Waldseelchen da, die um sie trauern, und sie singen das Lied von dem Liebesseufzerlein:

Ein süßes Liebesseufzerlein
Liegt unter diesem Grabestein;
Es war ein holdiges Königskind,
So hold, als wenige Kinder sind.

Es war ein Liebesseufzerlein,
Ein rechter Liebesjuwelenstein,
Hat herrlich gefunkelt und gebrannt;
Nun decket es ein Häuflein Sand.

Es war ein Liebesseufzerlein,
Das küßte alle Blumen im Hain,
Das nahm die Bäume, die Stein' in'n Arm;
Nun schläft es ledig von Müh' und Harm.

O Ächzerlein! O Seufzerlein!
Herbei nun alle groß und klein!
Und stimmet den nächtlichen Klagesang
Zu liebender Herzen Glockenklang!

O Ächzerlein! O Seufzerlein!
Würde jede Träne ein Edelstein,
Würde jedes Ach ein heller Demant,
Wir kauften wohl manches Königes Land.

O Ächzerlein! O Seufzerlein!
Würde jede Klage eilt Sandkörnlein,
Das allerfeinste Sandkörnlein,
Wir stiegen bald in den Himmel hinein.



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