M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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XL

Am darauffolgenden Tage stand Jurii erst sehr spät auf; er war in gedrückter Stimmung, hatte schlechten Geschmack im Mund und feinen bohrenden Schmerz in den Schläfen. Zuerst konnte er sich an nichts erinnern, als an das Schreien und Gläsergeklirr, die blassen Feuerchen und an die Morgendämmerung, die für die trunkenen, stumpf gewordenen Augen sonderbar klar und durchsichtig war. Dann fiel ihm ein, wie sich Schawrow und Pjotr Iliitsch von ihren Plätzen taumelnd erhoben hatten und grunzend auf ihr Zimmer krochen, während er mit Iwanow, der nach dem Wodka furchtbar blaß aussah, aber sich wie immer gerade hielt, noch lange auf dem Balkon blieb.

Sie stritten sich; Iwanow bewies Jurii triumphierend, daß Leute seiner Art zu nichts tauglich wären. Sie wagten nichts vom Leben, das doch ihr freies Eigentum sei, zu nehmen; es wäre das Allerbeste, wenn sie ohne jede Spur von der Bildfläche verschwänden. Mit unbegreiflicher Schadenfreude wiederholte er fortgesetzt den Ausspruch Pjotr Iliitschs: Solche Leute Menschen zu nennen, davor hüte ich mich. – – – Dabei lachte er jedesmal wild auf, als wollte er Jurii in seinem Lachen ersäufen. Dieser fühlte sich eigentümlicherweise garnicht verletzt, sondern hörte interessiert zu. Er ging überhaupt nur auf den Vorwurf ein, daß seine Erlebnisse armselig seien, und behauptete dagegen, solche Menschen wie er, führten im Gegenteil ein besonders feines und kompliziertes Leben; schließlich aber gab er zu, es wäre tatsächlich besser, wenn sie untergingen.

Juriis Stimmung quoll von unerträglicher Traurigkeit über; er wünschte zu weinen und zu büßen. Beschämend kam es ihm ins Bewußtsein, daß es ihn innerlich fast gedrängt hatte, Iwanow eine Beichte abzulegen. So trottete er immer um die Episode mit Karssawina herum und hätte das feine liebe Mädchen beinahe dem aufgeblasenen groben Kerl vor die Füße geworfen. Doch Iwanow war viel zu betrunken, um irgend etwas zu bemerken und Jurii wünschte jetzt nachträglich, glauben zu können, daß ihm seine Niedergeschlagenheit tatsächlich nicht aufgefallen wäre.

Iwanow war zuletzt unter grundlosem Brüllen in den Hof gegangen; überhaupt schienen mit einem Mal alle verschwunden zu sein. Es wurde um Jurii ungemein leer; er blieb ganz allein zurück. Sein Gesichtskreis war von trunkenen Nebeln begrenzt; vor ihm baumelte nur das schmutzige, begossene Tischtuch, die grünen Schwänzchen der abgebissenen Radieschen, Gläser mit Zigarettenstummeln und begossene Bieruntersätze.

Jurii saß mit gesenktem Kopf, schaukelte sich hin und her, und fühlte sich als Mensch, der von der ganzen Welt verlassen ist.

Später kehrte Iwanow nochmals zurück und schleppte Ssanin mit sich, der irgendwo gesteckt haben mochte.

Ssanin war liebenswürdig und voller Leben, nur blickte er Jurii etwas eigentümlich bald überzärtlich, bald wieder zu spöttisch, an. Nun kam in seiner Erinnerung ein weißer leerer Fleck und dann tauchte ein Boot, der Fluß, milchrosige Luftfetzen, wie er sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte, vor ihm auf. Sie fuhren über kühlem durchsichtigem Wasser, gingen über glatten Sand, der von der Sonne fast wie von unten durchleuchtet wurde, ein scharfer Schmerz lief nebenher durch seinen Kopf, zwischendurch packte ihn hin und wieder wütender Ekel.

– – – Weiß der Teufel, wie widerwärtig das war, dachte Jurii. Grade Trinken, das hat mir nur noch gefehlt. Doch nachdem er all diese Erinnerungen, die, gleich Straßenschmutz an den Füßen, in ihm kleben blieben, von sich abgestreift hatte, dachte er intensiv daran, was vorher im Walde geschehen war.

In einem Augenblick stand dieser ungewöhnlich geheimnisvolle Wald vor ihm, die tiefe bewegungslose Finsternis unter den Bäumen, das sonderbare Licht des Mondes, der weiße kühle Körper des Mädchens, ihre geschlossene Augen, der betäubende aufregende Geruch, das gierige Verlangen, das ihm den Kopf bis zur Tollheit benahm.

Die Erinnerung durchlief seinen Körper mit schwerem, wollüstigen Zittern. Irgend etwas stach anhaltend in seiner Schläfe und preßte sein Herz zusammen. Voll überflüssiger Einzelheiten schienen daraus die Bilder der Szene aufzusteigen, wie er das Mädchen, ohne daß ihn die innere Erregung betäubend fortgerissen hätte, auf den Boden niederdrückte; – sie wehrte sich dagegen, stieß ihn zurück, riß sich los, bis er schließlich einsah, daß er selbst gar nichts tun mochte, nichts von ihr wollte; und dennoch warf er sich immer von neuem auf sie.

Jurii schauderte unter diesem Nachsinnen in allen Nerven; das Tageslicht steigerte die Verachtung vor sich. Am liebsten hätte er sich ins Dunkel verkrochen, sich in die Erde eingegraben, – um seine Schande selbst nicht zu sehen. Doch schon im nächsten Augenblick suchte er sich zu überzeugen, daß all das nicht deshalb so häßlich verlief, weil er einen mächtigen Trieb der Leidenschaft verunstaltet und herabgewürdigt hatte, sondern weil er eine Minute lang nahe daran gewesen, eine Vereinigung mit dem Mädchen gewaltsam erzwingen zu wollen.

Da drehte er mit furchtbarer, fast physischer Anstrengung, als wenn er einen Menschen, der viel stärker ist, als er, überwinden müßte, sein Gefühl einfach um. Und jetzt fand er seine Handlungsweise plötzlich in dieser Form berechtigt und notwendig.

Doch eine neue, viel drückendere Frage schob sich jetzt ein ... Was ist weiter zu tun? ...

Aus dem Chaos der verschiedensten Gedanken und Wünsche, kristallisierte sich allmählich der eine: Alles zerreißen!

Sie hinnehmen und an ihr Freude haben! Doch sie dann wegwerfen, das kann ich nicht ... ich bin nicht solch ein Mensch ... Fremde Leiden gehen mir zu nahe, als daß ich andern welche zufügen könnte. Und sie heiraten? ...

Dieses Wort klang Jurii ungewöhnlich platt. Er, mit seiner besonderen, ganz eigenartigen Veranlagung, die ewig an der Grenze großer Gedanken und erhabener Schmerzen schwankte, kann sich nun einmal nicht ein Philisterglück mit Frau, Kindern und Wirtschaft zurechtbauen. Er errötete sogar bei dieser Vorstellung, als ob ihn schon die Annahme eines solchen Ausweges verletzen müßte.

– – – Also sie von sich stoßen, einfach fortgehen ...

Doch ihr Bild schien ihm jetzt, während es sich allmählich von ihm entfernte, als das höchste Glück. Es glitt unwiederbringlich aus den Händen; – – die Entsagung zerriß sein Herz. Hinter ihr schleiften zuckende Sehnen und rissen sich mit bluttriefenden Fetzen ab. Um ihn schwand das Licht, seine Seele hing leer und schwer; sein Körper selbst erschlaffte.

Aber ich liebe sie ja, sagte sich Jurii mit dem letzten Aufwand qualvoller Ratlosigkeit. Wie ist es denn möglich, daß ich selbst mein eigenes Glück zerstöre. Unsinnig, widerwärtig wäre es doch. Aber was denn? ... Heiraten? ...

Wieder von dem bloßen Gedanken wie vor den Kopf geschlagen, sank Jurii von neuem in haltlose Trauer. Um nicht mehr weiter nachdenken zu müssen, setzte er sich an den Tisch und nahm sich einige Blätter zum Lesen vor, auf denen er im Tone des Prediger Salomo einige Aufzeichnungen gemacht hatte:

»In der Welt gibt es nicht Gutes, nicht Böses.

So sagen die einen: Was das Natürliche ist, das sei auch gut und gerecht sei der Mensch in seinen Wünschen.

Aber eitel Lüge ist das, denn alles ist natürlich, nichts wird aus Leere und Finsternis geboren. Alles hat seinen Anfang.

So sagen die anderen: Das ist gut, was da von Gott kommt. Aber ebenso ist das eitel Lüge, denn, wenn ein Gott ist, so kommt alles von ihm, und so auch die Gotteslästerung.

So sagen die dritten: Das ist gut, was den Menschen Gutes bringt. Aber gibt es denn solches? Was dem einen das Gute ist, das ist Böses dem anderen. Dem Sklaven ist seine Freiheit gut, dem Herrn die Knechtschaft des Sklaven. – Dem Reichen die Erhaltung seiner Reichtümer, dem Armen der Untergang des Reichen. – Dem Ungeliebten, daß sie ihn lieb gewönne, dem Glücklichen, daß sie alle Anderen verwerfe, außer ihm. – Dem Lebenden, er möge nicht sterben, dem Geborenen, daß da alle sterben und lassen ihm freien Platz. Dem Menschen der Untergang der Tiere, den Tieren der Untergang der Menschen. Und so ist alles, und so ist es von Anfang bis an das Ende der Zeiten. Und niemand hat vor dem anderen ein Vorrecht auf das Gute, das ihm allein das Gute ist.

Hier gilt es unter den Menschen als Wahrheit: Gutes und Liebes schaffen, sei besser als Böses und Haß. Aber das ist verborgen. Denn so es eine Vergeltung gibt, ist es den Menschen besser, Gutes zu schaffen und sich selbst zu opfern, so es aber keine gibt, ist es besser, nach seinem Teil auf der Erde zu streben.

Hier noch ein Beispiel für die Lüge, die da unter den Menschen lebt: Da ist einer, der sein Leben, für die anderen hingibt. Und ihm wird gesagt: Dein Geist wird dich überleben, weil er in den menschlichen Taten, wie ein ewiger Same, verbleiben werde. Aber das ist Lüge, denn wir wissen, daß in der Kette der Zeiten der Geist der Schöpfung in gleicher Weise lebt wie der Geist der Zerstörung und es ist unbekannt, was einst auferstehen und was zerfallen wird. Hier noch eins: Da denken die Menschen daran, wie man nach ihnen leben wird, und sagen sich, daß es gut sei, und daß ihre Kinder ihre Früchte ernten werden. Aber wir wissen nicht, was nach uns sein wird, wir können uns kein Bild machen von den Myriaden und Abermyriaden, die auf unseren Pfaden wandeln werden. Und wir können sie nicht lieben oder hassen, wie wir nicht die lieben oder hassen können, die vor uns waren. Das Band zwischen den Zeiten ist zerrissen.

So wird gesagt: Machen wir die Menschen gleich vor der Quelle der Freude und des Kummers und teilen wir allen nach gleichem Maße zu. Aber kein Mensch kann Freude und Kummer, Schmerz und Genuß in größerem Maße bekommen, als er sich selber schafft. Und wenn der Anteil der Menschen nicht gleich ist, so, weil sie nicht gleich sind. Und so auch ihr Maß gleich gemacht ist, werden ihre Herzen in Ewigkeit nicht gleich werden.

So spricht Hochmut: Große und Kleine gibt es.

Aber jeder Mensch ist Aufgang und Untergang, Gipfel und Abgrund, ein Atom und eine Welt. Da wird gesagt: Groß ist die menschliche Vernunft. Aber das ist Lüge, weil die Vernunft beschränkt ist. Und der Mensch sieht weder seinen Wahnsinn noch seine Vernunft im unbeschränkten Weltall, wo Vernunft und Wahnsinn zerfließen wie flüssige Luft.

Was weiß der Mensch? ...

Auch Adam wußte, wie er zu essen und zu trinken hätte und wie sich zu kleiden nach seinem Bedürfnis und auch hat er seinen Samen erhalten. Und wir wissen das Gleiche und werden unseren Samen in der Zukunft erhalten. Aber Adam wußte nicht, was er tun solle, um nicht zu sterben und nicht zu fürchten. Auch wir wissen es nicht. Viel Kenntnisse sind erfunden worden, nur ist nicht erfunden Leben und Glück, um sie zu füllen.

Der Mensch hatte stets in allem, vom Haupt bis zu den Füßen das Ziel, seinen Körper vom Tode zu retten. Und da sehen wir: Hat nicht durch einen einfachen Stock Kain den Abel umgebracht und kann man denn nicht mit dem gleichen Stock den Ersten der Menschen umbringen, der auf der höchsten Stufe der Erkenntnis steht. Lebte denn nicht länger als alle anderen Methusalem? Aber auch er starb. War nicht glücklicher als alle Hiob? – Aber auch ihn traf Gram. Und wird nicht ein jeder der Menschen, der in seinem Leben solch gerüttelt Maß von Glück und Kummer erduldet hat, wie es nur seine Schultern zu ertragen vermöchten, den gleichen Tod sterben, wie ihn sein Urahn starb? ... Jetzt, wo die Menschen Götter der Wissenschaft krönen, schreien und rühmen sie sich. – – – Doch: Gleich fressen alle die Würmer!«

Ein kaltes Gefühl kroch über Juriis Rücken und das Bild weißer Würmer, die in einer dicken Schicht auf der ganzen Erde von einem Ende bis zum andern wimmeln, durchrüttelte ihn. Doch das, was er geschrieben hatte, kam ihm ungemein eindringlich und gewaltig vor.

Das ist ja alles richtig, hämmerte es in seinem Hirn und das stolze Gefühl der Schöpferkraft vermischte sich mit einer breiten Welle Wehmut. Er trat an das Fenster und blickte lange ziellos in den Garten, wo die Wege unter einer Schicht gelber und roter Blätter bereits goldig wurden und neu ersterbende Blätter, leise in der Luft kreisend, lautlos herunterfielen. Tote rote Farben deckten sich auf alles, Blätter starben ab ... Milliarden von Insekten, die nur von Licht und Wärme lebten, starben ab ... alles starb ab im stillen ruhigen Schein des Tages.

Diese Ruhe war Jurii unbegreiflich und der stille Tod rief in seinem Innern formlosen plumpen Haß hervor.

Hier ... krepiert alles ... und dabei strahlt es noch, als wenn es sich an Zuckerbrot überfressen hätte, dachte er mit ausgesuchter Grobheit und es drängte ihn, noch gröbere, härtere Worte auszudenken.

Viele Gedanken kamen; – – sie blieben in der Leere hängen und fielen ihm kraftlos auf die Seele. Und eine Wut packte ihn bis an die Haarwurzeln, daß er beinahe an ihr erstickte. – – –

Hinter dem Fenster dehnte sich der goldene Garten, hinter dem Garten zog der Fluß den grünblauen herbstlichen Himmel in sich ein, hinter dem Fluß liefen die von den Netzen der Sommerfäden versilberten Felder, hinter den Feldern kam wieder ein Fluß; – – – ein umgekehrter Wald auf seinem Spiegel, dann Ufer, Eichen, schmale Wege ...

– – – Ruhe. – – –

Dort geht einer still für sich.


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