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Drei Tage darauf kehrte Lyda spät abends heim; sie war wie zerschlagen, müde und unglücklich. In ihren Gliedern lag eine erstarrte Mattigkeit, die sie niederzog; die träge Abspannung in ihrem Denken war so stark, daß es ihr Mühe machte, auch nur einen Gedanken zu formen. Sie verstand sich und begriff doch wieder nichts; in manchen Augenblicken schien sie sich selber fremd zu werden.
Als sie endlich in ihr Zimmer gekommen war, blieb sie jäh stehen, faltete die Hände, und sah, langsam erblassend, zu Boden. Mit einem Mal zerriß etwas in ihrem Hirn und erst jetzt erfaßte sie mit Entsetzen, das sich sofort in physischem Widerwillen auslöste, was eigentlich mit ihr vorgegangen war, als sie sich Sarudin hingab. Seit diesem Augenblick, den nichts mehr gut machen konnte, war ihr in dem dummen, eitlen Offizier, mit dem sie keine geistigen Beziehungen verbanden, eine Macht entstanden, der sie sich auf keine Weise mehr entziehen konnte.
Sie war rechtlos geworden; jetzt durfte er nach Belieben mit ihr schalten. Sie konnte sich nicht mehr weigern, ihn zu besuchen, sobald er es verlangte; nun hatte es aufgehört, daß sie mit ihm nach ihrer Laune spielte, einmal sich seinen Küssen hingab, dann wieder ihn beiseite schob und auslachte. Seinen gröbsten Zärtlichkeiten mußte sie willenlos und demütig wie eine Sklavin gehorchen.
Wie alles abgelaufen war, suchte sie vergebens in der Erinnerung festzuhalten; alles verschwamm in der brennenden Hitze, die sie ergriffen hatte. Wie immer hatten sich ihr seine Zärtlichkeiten zuerst untergeordnet, wie immer waren sie ihr angenehm und doch bange gewesen und nur mit einemmal schien ihr ein blasser Nebel in den Kopf zu steigen, worin jede Klarheit und Ueberlegung versank. Plötzlich befand sich in ihr nur ein glühender Wunsch, der sie in einen Abgrund von Begierden und Erregungen zog. Der Boden schwoll unter ihren Füßen an, ihr Körper wurde kraftlos und unterwürfig, die drängenden, furchtbaren Blicke Sarudins klammerten sich an ihn und dann erzitterten ihre nackten Beine schamlos und qualvoll unter der rohen Berührung zweier grober Hände. Alles in ihr schob sich diesen Händen entgegen; in ihr lebte nur noch der eine Wunsch, – – der Neugierde, dem Schmerze und der Wollust zu folgen.
Lyda erbebte unter der Erinnerung, hob langsam ihre Schultern in die Höhe und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Schwankend ging sie auf das Fenster zu, öffnete es und blickte fast ohne Bewußtsein auf den Mond, der über dem Garten stand.
Die trübe Stimmung drückte sie zu Boden; es war eine sonderbare Mischung von häßlicher Begierde und sehnsüchtigem Stolze, die sie bei dem Gedanken beschlich, daß sie ihr ganzes Leben mit einem Hohlkopf befleckt hatte und daß ihre Erniedrigung nur sinnlos und zufällig gewesen war. Etwas Drohendes erhob sich vor ihr; sie suchte es vergebens durch trotzige Verachtung zu zerstreuen. ... wir sind eben zusammengetroffen und ich bin mit ihm mitgelaufen, dachte sie, und mit schmerzlicher Wollust wiederholte sie sich das Wort »mitgelaufen«. ... Ich wollte es und darum gab ich mich ihm hin. Aber doch wurde ich glücklich; es war ja so ... es wurde ihr unmöglich, diese Gedankenreihe zu Ende zu führen.
Lyda schrak zusammen und reckte sich, indem sie die geballten Hände nach vorn streckte. Dann strich sie mit den geöffneten Handflächen durch die Luft, als wenn sie alles von sich fortschieben wollte.
Mit Ueberwindung trat sie vom Fenster zurück und begann sich zu entkleiden; sie löste mechanisch die Bänder der Röcke und ließ sie gleich dort, wo sie stand, zur Erde fallen. – – – Warum auch nicht, dachte sie, das Leben ist nun einmal so.
Sie erschauerte unter dem frischen Luftzug, der weich ihre Schultern berührte.
– – – Was hätte ich gewonnen, wenn ich wirklich die legitime Ehe abwartete. Was kann sie viel für mich sein. Es ist ja im Grunde ganz gleichgültig. Ich bin dumm, daß ich dem, was geschah, irgend eine Bedeutung beimesse ... Dummheiten!
Am Ende dieser Gedanken schien ihr wirklich, daß es sich nur um Kleinlichkeiten handle. Vom nächsten Tage an würde alle Unruhe ein Ende haben; sie hatte in diesem Spiel gewonnen, sie war jetzt frei wie ein Vogel.
Gefällt es mir, so lieb ich ihn,
Und hab ich's satt, so ist's vorbei.
Und dem Klange ihrer Stimme lauschend, dachte sie mit Vergnügen, daß sie doch viel besser singe, als Karssawina.
– – – Ja, das sind alles nur Dummheiten. Wenn es mir paßt, so gebe ich mich dem Teufel hin ..., sie gab ihren Gedanken einen endgültigen Stoß, dessen Rücksichtslosigkeit sie selbst erstaunte. Mit einem gleich schroffen, körperlichen Ruck richtete sie sich auf, verschränkte, wie zum Halt, ihre Arme hinter dem Kopf und reckte sich so stark, daß es ihre Brust erschütterte.
»Schläfst du noch nicht, Lyda?« fragte die Stimme ihres Bruders hinter dem Fenster.
Lyda erzitterte schreckhaft, lächelte aber sofort, schlug um ihre Schultern ein großes Tuch und lief ans Fenster.
»Wie hast du mich erschreckt,« sagte sie.
Ssanin trat auf sie zu und stützte den Ellenbogen auf das Fensterbrett; seine Augen blinkten, und er lächelte.
»Es war aber doch umsonst,« erklärte er heiter und leise.
Lyda wandte fragend den Kopf.
»Ohne Tuch sähst du viel hübscher aus.« Er sprach mit bedeutungsvoller Stimme. Lyda jedoch verstand ihn nicht und wandte sich ihm erstaunt zu; gleichzeitig aber wickelte sie sich instinktiv noch fester in ihr Tuch. Verlegen lehnte sie ihre Brust an das Fensterbrett und beugte sich heraus; sie wurde noch verlegener, als Ssanin plötzlich leise spöttisch auflachte und sein heißer Atem ihre Wange streifte.
»Du bist eine Schönheit, Liebste,« sagte er unvermittelt.
Lyda schaute rasch auf ihn hin und erschrak vor dem Ausdruck seines Gesichts. Hastig wendete sie sich zum Garten, und sie fühlte es bis in die äußersten Nervenenden, daß Ssanin sie ganz besonders anblickte. Das machte auf sie einen so entsetzlichen Eindruck, daß es ihr in der Brust kalt wurde und ihr Herz schmerzhaft erbebte. Doch sie überwand sich und lächelte.
»Ich weiß.« Sie hatte das Gefühl, als wäre sie gezwungen, ihn so und nicht anders anzulächeln. Um es zu vermeiden, lehnte sie sich noch weiter aus dem Fenster. Dabei glitten das Hemd und Tuch herunter, und der obere Teil ihrer weißen und unfaßbar zarten Brust, unter den Strahlen des Mondes noch zarter und weißer, wurde sichtbar.
»Die Menschen errichten stets eine chinesische Mauer zwischen sich und dem Glück.« Ssanins unnatürlich leise Stimme schluchzte fast vor Erregung und Lyda erstarrte noch mehr unter ihren Lauten.
»Wieso?« fragte sie tonlos, ohne die Augen von dem dunklen Garten abzuwenden, in der Furcht, seinem Blick zu begegnen.
Sie fühlte mit Sicherheit, daß in dem Augenblick, wo sie ihn ansehe, etwas Furchtbares geschehen würde, etwas, dessen Möglichkeit sie nicht einmal in Gedanken fassen konnte.
Und zur selben Zeit wußte sie schon, daß alles so kommen mußte. Sie ängstigte sich, sie hatte eine widerwärtige Empfindung und doch war es ihr gleichzeitig interessant. Ihr Kopf glühte und sie sah nichts mehr vor sich. Mit Abscheu und Verlangen spürte sie auf der Wange das heiße Atmen ihres Bruders, das ihr Haar an der Schläfe bewegte und in ihr das Gefühl erweckte, als ob unter dem Tuche Ameisen ihren nackten Körper herunterliefen.
»Ganz einfach!« erwiderte Ssanin, doch seine Stimme riß mit einem Male ab.
Lyda fuhr es wie ein Blitz durch den ganzen Körper; sie richtete sich auf und ohne zu wissen, was sie tat, neigte sie sich zum Tisch hinüber und löschte die Lampe aus.
»Zeit schlafen zu gehen,« sie zog das Fenster zu.
Als die Lampe erloschen war, wurde es draußen nur heller, die Gestalt Ssanins und sein Gesicht traten unter dem Licht des Mondes noch stärker hervor. Er stand im hohen, taubedeckten Gras und lachte.
Lyda ging vom Fenster zurück und ließ sich fast ohne Bewußtsein auf das Bett nieder. Alles schwankte und klopfte in ihr und ihre Gedanken verwirrten sich. Sie hörte die Schritte des Bruders, der mit seinen Füßen das Gras beiseite schob, und sie suchte mit ihrer Hand das Schlagen ihres Herzens zu unterdrücken.
– – – Bin ich denn wirklich verrückt geworden, dachte sie mit Widerwillen. Wie ekelhaft ist das alles. Ein Satz, zufällig gesprochen und ich bin schon ... Was ist das? .... Erotomanie? Bin ich denn wirklich so verdorben? ... Wie tief muß man fallen, um so zu denken ...
Und plötzlich weinte Lyda, den Kopf in die Kissen gedrückt, still und bitter auf. Sie fühlte sich gedemütigt und unglücklich und verstand doch den Grund ihrer Tränen nicht. Sie weinte, weil sie mit der Hingabe an Sarudin ihren frühern Stolz zerbrochen hatte und weil der verletzende Blick ihres Bruders immer noch an ihr nagte. Früher hatte er es nicht gewagt, sie so anzusehen; jetzt tat er es; – denn er hielt sie für eine Gefallene. Doch am stärksten beherrschte sie das Gefühl, wie schmerzhaft und erniedrigend es ist, eine Frau zu sein, und daß sie immer, solange sie jung und schön bleibt, ihre besten Kräfte darauf verwenden muß, sich den Männern hinzugeben. Ihr ganzes Leben gipfelte nur darin, ihnen Genuß zu bereiten, und sie konnte doch nur erwarten, von ihnen um so mehr verachtet zu werden, je mehr sie ihnen von diesem Genuß zuteil werden ließ.
– – – Woher kam diese Herrschaft der Männer? ... Lyda starrte mit angespanntem Blick in die Finsternis, bis ihr die Augen schmerzten. – – – Werde ich denn wirklich kein besseres Leben mehr sehen? ... Ihr junger, kräftiger Körper gab ihr eindringlich die Antwort. Er rief ihr zu, daß sie vor allem das Recht habe, vom Leben zu nehmen, was ihr angenehm und notwendig sei, ein Recht, alles mit diesem lebendigen, kraftvollen Körper zu wagen. Der Körper bin ich und ich bin frei, sang es in ihr, in einer monotonen, einschläfernden Melodie. Doch plötzlich verfing sich dieser Satz in einem verwickelten Netz von Gedanken, versuchte sich aus den Maschen zu reißen und fiel kraftlos und trübselig zu Boden nieder.