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Die Straßen waren leer; die Luft, von den heißen Sonnenstrahlen mit Glutwellen durchsetzt, zitterte schwer. Kurze Schatten lagen hart an Zäunen und Mauern, wie vernichtet von der triumphierenden Glut.
Lyda schützte sich nur aus Gewohnheit mit ihrem Schirm, ohne zu bemerken, ob es heiß oder kühl wäre, hell oder dunkel; sie lief schnell die mit staubigen Gras bewachsenen Zäune entlang und schaute mit trockenen, glänzenden Augen, gesenkten Kopfes, auf ihre Füße. Ab und zu begegneten ihr erhitzte und keuchende Menschen, die von der Hitze schon ganz zermürbt waren; aber es waren nur wenige. Sommerliche Nachmittagsstille lag über der Stadt.
Ein fremdes, weißes Hündchen beschnüffelte eilig und vorsichtig Lydas Rock und trottete ihr dann voran, sah sich um und wedelte mit dem Schwanz, als Beweis, daß es mit ihr zusammenhalten wolle. An einer Straßenecke stand ein kleiner, grotesk dicker Knabe, aus dessen Hose hinten das Hemdchen stach; mit beerenbeschmutzten Backen pfiff er verzweifelt auf einer Schote. Lyda winkte dem Hündchen mit der Hand zu, lächelte den Jungen an; alles das aber streifte nur die Oberfläche ihres Bewußtseins; ihre Seele blieb verschlossen. Eine düstere Macht, die sie von der ganzen Welt trennte, riß sie, die Einsame und Tote, eilends weiter, an dem lichten Grün der Sonnenhelle und der Lebensfreude vorbei, immer weiter und weiter, einem schwarzen Abgrund entgegen, dessen Nähe sie bereits an der kühlen und erschlaffenden Wehmut fühlte, die ihr Herz umzog.
Ein bekannter Offizier ritt an ihr vorbei. Sobald er sie bemerkte, ließ er seinen verschwitzten Fuchs tänzeln und karessieren. Auf dem glatten Fell des Pferdes glitt die Sonne mit goldschmiedenen Tupfen nieder.
»Lydia Petrowna,« rief er mit lauter und fröhlicher Stimme. »Wohin gehen Sie in dieser Hitze.«
Lyda ließ ihre Augen unbewußt über seine kleine Mütze, die fesch auf seiner halbgeröteten Stirn saß, gleiten und schwieg, obgleich sie ihn aus Gewohnheit kokett anlächelte. Doch fragte sie sich in diesem Augenblick selber ratlos: Wo soll ich denn nur hin? ...
In ihr war kein Haß gegen Sarudin; sie dachte garnicht an ihn. Als sie vorher, ohne selbst zu wissen, weshalb, zu ihm gegangen war, schien es ihr unmöglich zu sein, allein weiterzuleben und ihr Unglück ohne ihn zu überwinden. Aber jetzt war er einfach aus ihrem Leben verschwunden. All dies war gewesen und war gestorben; – was zurückblieb, ging nur sie an und konnte nur durch sie allein gelöst werden. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft schnell und deutlich. Das Entsetzlichste war, daß allmählich die stolze Lyda verschwand und an ihre Stelle ein kleines, gehetztes, beschmutztes Tierchen trat, das alle Menschen verhöhnen werden und das nun ganz hilflos gegen Geklatsch und Gekeif dastehen wird. Doch ihr Stolz und ihre Reinheit mußten davor behütet werden; sie mußte sich aus dem Schmutze dorthin retten, wo sie die klebrige Welle nicht mehr erreichen konnte.
Und in einer Sekunde hatte Lyda sich klar gemacht, daß es um sie leer wurde, daß Sonnenlicht und Menschen nicht mehr für sie existieren; sie würde unter ihnen einsam bleiben. Es gibt keinen Platz mehr, auf dem sie frei und aufrecht stehen kann; sie muß sterben, sie muß ins Wasser gehen.
Das erschien ihr so abgeschlossen und sicher, als wenn sich zwischen ihr und alldem, was früher war und was noch hätte kommen können, eine steinerne Kreismauer aufbaute. Für einen Augenblick schwand sogar die eigenartige, widerwärtige Empfindung, die sich in ihr seit jener Zeit, da sie zum erstenmal erriet, daß ein unbegreiflich neues Wesen ihr Leben in Trümmern schlug, festgesetzt hatte.
Um sie herum bildete sich eine leichte, farblose Leere, in der die Gleichgültigkeit des Todes herrschte.
– – – Wie einfach doch das alles im Grunde ist. – – – Man braucht doch eigentlich nichts weiter ... dachte Lyda sich umwendend.
Nach und nach schritt sie schneller aus und doch kam es ihr, trotzdem sie fast nicht mehr ging, sondern rannte, noch immer unerträglich langsam vor. Dazu verwickelten sich ihre Füße fortgesetzt in ihren zu weiten, modernen Rock.
Nur dieses Haus und dann noch eines mit grünen Läden und dann nur noch den Bauplatz ...
Der Fluß, die Brücke, und das, was sich dort unbedingt ereignen würde, trat nicht vor Lydas Augen. An ihrer Stelle lag irgend ein leerer Nebelfleck, in dem alles versinken mußte.
Aber dieser Zustand hielt nur so lange an, bis Lyda die Brücke betrat. Sowie sie am Geländer stehen blieb und das trübe, grüne Wasser unten plätschern sah, schwand sofort das Gefühl der Gewichtslosigkeit und in ihr ganzes Wesen senkte sich schwere Angst und klammerndes Verlangen nach dem Leben.
Sofort vernahm sie auch wieder den Schall der verschiedensten Stimmen, das Zwitschern der Spatzen, sah das Sonnenlicht, weiße Gänseblümchen zwischen krausem Ufergras und das weiße Hündchen, welches zu dem endgültigen Entschluß gekommen war, Lyda als seine legitime Herrin zu betrachten. Es setzte sich vor sie nieder, zog das Vorderpfötchen etwas an, und klopfte mit seinem weißen Schwänzchen rührselig auf die Erde.
Lyda sah das Hündchen ernst an und drückte es plötzlich in einer leidenschaftlichen, verzweifelten Aufwallung an sich. Schwere Tränen traten ihr in die Augen und das Gefühl des Mitleides mit ihrem schönen, untergehenden Leben war so stark, daß ihr der Kopf schwindelte und sie sich auf das sonnenerhitzte Geländer stützte. Bei dieser Bewegung fiel ihr der Handschuh ins Wasser; mit unbegreiflichem, stummen Entsetzen verfolgte sie ihn mit den Augen.
Kreisend trieb er auf der Oberfläche, dann sank er lautlos durch die glatte, schläfrige Wasserdecke nach unten. Rasch wachsende Kreise liefen dem Ufer zu und Lyda konnte noch immer sehen, wie der hellgelbe Handschuh dunkler wurde und ganz allmählich in der ernsten, grünlichen Tiefe verschwand. Plötzlich stieg er noch einmal, eigentümlich, wie in einer schwermütigen Agonie, nach oben und drehte sich wiederum in langsamen, kreisförmigen Bewegungen. Lyda spannte ihre Blicke an, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, aber der gelbe Fleck wurde immer kleiner und dunkler, durchbrach dann noch einmal die grünliche Decke und verschwand endlich lautlos. Ebenso wie früher lag jetzt wieder eine glatte, schläfrige, dunkle Fläche vor Lydas Augen.
»Wie kam es denn, Fräulein!« ertönte in der Nähe eine weibliche Stimme. Erschrocken wandte sich Lyda um und sah in das Gesicht eines dicken Weibes, das sie mit neugierigem Mitleid anblickte.
Obgleich sich dieses Mitleid nur auf den hineingefallenen Handschuh bezog, schien es Lyda, daß dieses dicke, gutmütige Weib sie kennen und bedauern müsse. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, es würde ihr leichter werden, wenn sie ihr einfach alles erzählen wollte. Doch zur gleichen Zeit, wie in zwei Teile gespalten, verstand Lyda, daß diese Gedanken unsinnig waren. Sie wurde rot, kam in Hast, stammelte: »Ach nichts, garnichts,« und lief eilig und schwankend, wie eine Betrunkene, von der Brücke fort.
– – – Hier geht es nicht, das sieht man schon, schwirrte es durch die kalte Leere, die sich in Lydas Kopf ausgebreitet hatte.
Sie ging nach links abbiegend, einen schmalen Pfad am Ufer entlang, der zwischen Nesseln, Winden und bitterriechendem Wermut ausgetreten war, neben sich den Fluß und die verwachsene Hecke eines Gartens. Hier war alles still und friedlich wie in einer Dorfkirche. Die Weiden blickten mit nachdenklich gesenkten, feinen Zweigen über das Wasser. Die Sonne warf bunte Flecken und Streifen auf das grüne, steile Ufer. Die breiten Windenblätter lagen starr in den hohen Nesselbüschen und harte Disteln hefteten sich an die breiten Spitzen von Lydas Rock. Irgend ein krauses Gras, hoch wie ein Bäumchen, bestreute sie mit feinem, weißen Staub.
Jetzt mußte sie sich schon zwingen, entgegen der starken, inneren Kraft, die mit ihr rang, den Ort zu erreichen, wohin es sie vorher von selbst getrieben hatte.
... Ich muß, ... ich muß,... ich muß ... wiederholte sich Lyda mit eiserner Energie. Doch als ob sie noch auf jedem Schritt irgend welche zähe Fesseln zu zerreißen hätte, konnte sie ihre Füße nur mit Mühe vorwärts schieben, einer bestimmten Stelle zu, die ihr jetzt ohne zu wissen warum, als das Ende des Weges bestimmt schien. Als sie sie erreicht hatte, und unter dem dünnen, verworrenen Gesträuch das kalte Wasser erblickte, welches schnell das überhängende Ufer umfloß, begann sie zu begreifen, wie stark in ihr noch der Drang zu leben war und wie entsetzlich das Sterben ist. Und daß sie dennoch sterben mußte, weil sie nicht leben durfte. Ohne hinzusehen, warf sie den zweiten Handschuh und den Schirm auf das Gras, und ging über den Pfad hinaus durch dichte Disteln an das Ufer heran.
In diesem Augenblick erinnerte sich Lyda an unermeßlich vieles und vieles durchlebte sie: – und tief in ihrer Seele stammelte ohne Unterlaß ein kindlicher Glaube, der längst vergessen und von neuen Gedanken zurückgedrängt worden war, voll naiven Flehens und voller Angst: Mein Gott, mein Gott, hilf mir doch! – – –
Irgendwie drängten sich die Töne einer Arie dazwischen, die sie vor kurzem am Piano übte, und schwirrten lückenlos durch ihren Kopf. Sie erinnerte sich an Sarudin, hielt sich aber nicht bei diesem Gedanken auf. Dann stieg das Gesicht der Mutter, das ihr in diesem Augenblick unendlich teuer und lieb war, vor ihr auf und gerade hierdurch wurde sie von neuem dem Wasser zugestoßen. Niemals vorher oder später, verstand Lyda mit solcher Klarheit und Tiefe, daß die Liebe der Mutter und all der anderen Menschen, im Grunde genommen garnicht ihr selbst, so wie sie mit ihren Mängeln und Wünschen war, galt, sondern nur dem, was sie in ihr sehen wollten. Nun aber, wo sie nackt wurde und sich von dem Wege entfernte, den diese Leute allein für gangbar hielten, mußte sie von ihnen um so mehr mißhandelt werden, als sie früher geliebt worden war.
Dann verwirrte sich alles wie im Fieber: Angst und der Trieb zu leben, das Bewußtsein der Unentrinnbarkeit, Hoffnung auf irgend etwas und doch die Sicherheit, daß alles zu Ende sei, die Verzweiflung, die qualvolle Erkenntnis der Stelle, an der sie sterben sollte; plötzlich auch die Gestalt eines Menschen, der ihrem Bruder ähnlich sah und eilig über die Hecke geklettert kam.
In diesem Augenblick rief er sie auch keuchend an: »Etwas Dümmeres hättest du dir auch nicht aussuchen können!«
Jener unfaßbare Zusammenhang von Wünschen und Trieben, führte Lyda gerade zu dem Fleck, wo Sarudins Garten endete, und wo sie sich ihm einst auf halbzerfallener Hecke, in unbequemer Lage, vor dem Mondlicht durch den schwarzen Schatten der Bäume gedeckt, hingegeben hatte. Ssanin hatte sie schon von weitem gesehen und erkannt; er erriet sogleich, was sie im Sinne hatte. Seine erste Bewegung war fortzugehen und sie in nichts zu stören. Aber ihre, offenbar unbewußt hastigen Bewegungen, zogen sein Herz vor Mitleid zusammen; er stürzte, ohne zu überlegen, im Laufschritt über die Sträucher und Bänke des Gartens springend, zu ihr hin.
Seine Stimme machte einen furchtbaren Eindruck auf sie. Ihre Nerven, bis zum äußersten im Kampfe mit sich selbst angespannt, erschlafften augenblicklich, ihr Kopf wurde von Schwindel ergriffen, und alles um sie begann sich mit leichten Kreisbewegungen von ihr zu entfernen. Lyda konnte nicht mehr fassen, wo sie sich eigentlich befand, ob im Wasser oder auf dem Ufer. Hart am Rande gelang es Ssanin noch, sie zu ergreifen; seine eigene Geschicklichkeit und Kraft kamen ihm angenehm zum Bewußtsein und riefen in ihm ein starkes Gefühl der Freude hervor.
»So,« sagte er befriedigt. Dann führte er Lyda zur Hecke, setzte sie herauf und sah sich ratlos um.
– – – Was soll ich nur mit ihr anfangen, dachte er. Doch Lyda kam sofort wieder zu sich; blaß, verwirrt und wie zerbrochen, weinte sie bitter und unaufhaltsam vor sich hin.
»Gott, Gott,« stammelte sie, wie ein Kind schluchzend.
»Du bist ein Dummchen,« sagte Ssanin zärtlich und mitleidsvoll.
Lyda hörte ihn nicht; aber als er eine Bewegung machte, klammerte sie sich krampfhaft und fest an seinen Arm und weinte noch lauter.
»Was tue ich nur,« dachte sie mit Entsetzen. Ich darf doch nicht weinen; ich muß ja jetzt das Ganze als Scherz hinstellen, sonst errät er alles.
»Nun leidest du,« meinte Ssanin, und streichelte sie weich über die Schultern; es war ihm angenehm, so zärtlich sprechen zu können.
Lyda sah unter dem Rand des Hutes herauf, ganz kindlich in sein Gesicht; plötzlich wurde er still.
»Ich weiß ja alles. Die ganze Geschichte kenne ich schon lange.«
Trotzdem Lyda wußte, daß ihre Beziehungen zu Sarudin den Leuten bekannt waren, riß sie sich mit ihrem ganzen biegsamen Körper von Ssanin los, als wenn er sie über das Gesicht geschlagen hätte. Ihre weitgeöffneten, im Augenblick ausgetrockneten Augen, hefteten sich mit dem prachtvollen Entsetzen eines reizenden, gehetzten Tieres auf den Bruder.
»Nun, was tust du so, als wenn ich dir auf den Schwanz getreten hätte.« Ssanin lächelte gutmütig, griff sie mit Vergnügen an die runden, weichen Schultern, die unter seinen Händen ängstlich zitterten, und hob sie wieder auf die Hecke. Unterwürfig nahm Lyda die frühere, gebrochene Stellung ein.
»Was hat dich denn so zerschmettert? Daß ich alles weiß? ... Als du dich Sarudin hingabst, glaubtest du da so schlecht zu handeln, daß du dich jetzt vor dem offenen Eingeständnis fürchtest? Das begreife ich überhaupt nicht. Und, daß Sarudin dich nicht heiraten wollte. Nun, danke Gott dafür! Jetzt weißt du es ja selbst ... und du hast es auch früher gewußt, daß dieses Kerlchen ein ganz schmutziges und niederträchtiges Kerlchen ist, obgleich er hübsch ist und – – sich sicher zur Liebe eignet. Ja, das war das einzige Schöne in ihm, die Schönheit, na und die hast du wohl zur Genüge ausgekostet.«
– – – er meine und nicht ich ... oder auch ich? ... Ja,... Gott, Gott,... schwirrte es in dem heißen Kopfe Lydas.
»Ja, daß du schwanger bist ...«
Lyda schloß die Augen und zog den Kopf tief in die Schultern ein.
»Das ist natürlich schlimm,« fuhr Ssanin mit weicher, fast lautloser Stimme fort. »Erstens, ... es ist eine furchtbar langweilige Geschichte, Kinder in die Welt zu setzen, ... schmutzig und sinnlos. Zweitens, die Leute werden dich dann zu Tode hetzen ... Und das wird wohl die Hauptsache sein! Lydotschka, du meine kleine Lydotschka,« fiel sich Ssanin selbst in stürmischem Aufwallen schöner, zarter Empfindungen ins Wort. »Niemandem hast du doch etwas Böses getan, und wenn du selbst ein Dutzend Göhren zur Welt brächtest; – Herrgott, kein andrer hat Unannehmlichkeiten davon als du.«
Ssanin schwieg still und biß nachdenklich auf den Schnurrbart; die Arme hielt er auf der Brust verschränkt.
»Ich würde dir sagen, was du machen sollst, aber dazu bist du zu schwach und dumm ... Dafür reicht dein Mut nicht aus. Aber auch zu sterben lohnt sich nicht. Sieh nur, wie schön alles ist. Sieh, wie die Sonne leuchtet, sieh, wie das Wasser fließt. Stelle dir doch vor, daß man nach deinem Tod erfährt, du wärest schwanger gewesen. Was geht es dich dann an. Folglich stirbst du nicht, weil du schwanger bist, sondern nur weil du die Menschen fürchtest. Weil du Angst davor hast, daß sie dir keine Ruhe lassen. Das Entsetzliche deines Unglücks besteht nicht darin, daß es an und für sich ein Unglück ist; nein, nur darin, daß du es zwischen dich und dein Leben stellst. Und du denkst dir, es gäbe nichts weiter hinter ihm. Du fürchtest dich doch nicht vor den Menschen, die dich nicht kennen; natürlich nur vor denen, die dir am nächsten stehen. Und am meisten vor allen, die dich lieben. Und für die ist dein Fall ein schwerer Schlag, aber nur, weil, weil er nicht auf dem Ehebett, sondern irgendwo im Wald auf dem Grase oder sonstwo vor sich ging. Die werden doch nicht zögern, dich für deine Sünde zu bestrafen, – was kann dir also noch an ihnen liegen? ... Du siehst, sie sind dumm, grausam und philisterhaft, – warum sich also quälen und in den Tod gehen, weil dumme, abgeschmackte, grausame Menschen existieren ...«
Lyda richtete weit geöffnete, fragende Augen auf ihn; in ihrem Blick sah Ssanin einen Funken von Verständnis aufblitzen.
»Was kann ich aber sonst tun? ... Was kann ich tun? ...« sagte sie schwermütig.
»Zwei Auswege hast du vor dir: entweder du machst dich von diesem Kinde frei ... dieses Geschöpf fehlt ja noch niemandem auf der Welt; seine Geburt wird auch niemandem etwas anderes, als Schaden bringen ...«
Schwere Angst zeigte sich in Lydas Augen.
– – – »Es ist vielleicht grausam, ein Wesen zu töten, das bereits die Freude des Lebens und den Schrecken des Todes verstanden hat, aber einen Keim zu töten, ein sinnloses Klümpchen von Blut und Fleisch ...«
In Lyda entstand ein sonderbares Gefühl. Zuerst eine prickelnde Scham, als wenn man sie bis zur Nacktheit entkleidet und mit groben Fingern in den tiefsten Geheimnissen ihres Körpers gewühlt hätte. Sie fürchtete, den Bruder anzusehen, damit sie beide nicht vor Scham vergingen. Aber die grauen Augen Ssanins blinzelten garnicht; sie sahen scharf und klar vor sich; seine Stimme klang ruhig und fest, es war, als spräche er über die selbstverständlichsten und gewöhnlichsten Dinge. Unter der Unbeweglichkeit dieser Worte zerfloß die Scham; sie verlor ihre Schärfe, ja fast ihren Sinn. Lyda sah den tiefen Grund in diesen Worten und fühlte, daß sie jetzt jede Angst überwunden hatte. Dann, über die Schärfe ihres Denkens erschreckt, faßte sie sich mit Verzweiflung an die Schläfen; die Aermel ihres Kleides schwangen sich wie die Flügel eines aufgestörten Vogels.
»Ich kann es nicht, kann nicht,« fiel sie ihm ins Wort. »Vielleicht ist es auch so, ... möglicherweise ... aber ich kann es nicht ... es ist zu entsetzlich.«
»Nun, wenn du es nicht kannst, ... was ist da zu tun,« sagte Ssanin, vor ihr niederknieend, und zog ihre Hände still vom Gesicht ab. »Dann werden wir es verheimlichen. Ich werde es dahin bringen, daß Sarudin von hier abreist und du ... heiratest Nowikow und wirst glücklich werden ... Ich weiß sicher, wenn nicht diese hübsche Bestie von Offizier gekommen wäre, würdest du Nowikow lieb gewonnen haben .. Sicher wäre es dazu gekommen.«
Bei dem Namen Nowikow schwang sich etwas Helles und Liebes wie ein lichter Strahl durch Lydas Seele. Weil sie durch Sarudin so unglücklich geworden war, weil sie fühlte, daß Nowikow sie niemals dahin gebracht hätte, erschien ihr eine Sekunde lang das Ganze als ein einfacher und leicht gutzumachender Irrtum, aus dem alles Entsetzliche verschwinden müsse: Sogleich wird sie aufstehen, gehen, ein paar Worte sprechen und lächeln; und gleich wird sich das Leben wieder in seinen leuchtenden Sonnenfarben vor ihr entfalten. Wieder wird sie frei atmen dürfen, wieder lieben, nur um vieles besser, stärker und reiner. Doch sofort erinnerte sie sich, daß die Hoffnungen zwecklos wären, da sie bereits durch die unwürdige, sinnlose Hingabe beschmutzt und zerknüllt sei, wie ein Fetzen Papier. Ein ungewöhnlich grobes Wort, das ihr kaum bekannt und niemals von ihr gebraucht war, trat ihr plötzlich ins Bewußtsein. Mit diesem Ausdruck brandmarkte sie sich wie mit einer schweren Ohrfeige in schmerzhafter Wollust; sie erschrak vor sich selbst.
– – – Herrgott, aber ist es wirklich schon so weit? ... Bin ich denn solch eine. Ja, gewiß, so eine. Ganz genau so. Hier zeigt es sich.
»Was sprichst du da? ...« flüsterte sie verzweiflungsvoll ihrem Bruder zu und schämte sich ihrer wie immer klangvollen und schönen Stimme.
»Und was denn sonst? ...« fragte Ssanin zurück. Er schaute von oben herab auf ihre schönen in Unordnung geratenen Haare und den gesenkten weißen Nacken, auf dem ein leichter goldiger Tupfen Sonnenlichts, der durch die Blätter hindurchgefallen war, schwankte.
Ihm wurde allmählich ängstlich zumute, daß es ihm noch nicht gelungen war, sie zu überreden und daß dieses schöne, sonnige Mädchen, welches so vielen Glück zu geben vermochte, in sinnlose Leere versinken sollte.
Lyda schwieg hilflos. Sie strengte sich an, in sich die herbeigesehnte Hoffnung zu ersticken, die gegen ihren Willen ihren ganzen Körper erfaßt hatte. Ihr schien, daß es nach dem Geschehenen nicht nur beschämend wäre, weiterzuleben, sondern daß allein schon der Wunsch nach dem Leben unrecht war. Aber ihr starker, glutvoller Körper stieß diese schwächlichen Gedanken wie ein Gift von sich und wollte die verkrüppelten, mißgeborenen Kinder nicht als die Seinen anerkennen.
»Warum schweigst du denn,« fragte Ssanin.
»Das ist doch unmöglich ... das wäre gemein ... ich ...«
»Hör mit dem Unsinn auf,« erwiderte er mißvergnügt.
Lyda schielte wieder mit ihren schönen Augen voll Tränen und verborgenen Wünschen auf ihn. Ssanin blieb still, riß an einem kleinen Zweig, bis er abbrach und warf ihn von sich.
»Gemein, gemein,« wiederholte er. »Dich hat wohl furchtbar überrascht, was ich dir vorschlug ... Weshalb? . . . Glaube, weder du noch ich; wir werden beide auf diese Frage keine bestimmte Antwort geben können. Und wenn wir selbst eine fänden; es wird doch keine rechte sein ... Ein Verbrechen? ... Was ist denn ein Verbrechen? ...«
»Wenn die Mutter bei der Geburt vom Tode bedroht wird, so ist es kein Verbrechen, ein bereits lebendes Kind, das jeden Augenblick losbrüllen will, in Stücke zu schneiden, zu vierteilen, ihm den Kopf mit einer stählernen Zange zu zerdrücken. Es ist eben nur eine unglückliche Notwendigkeit. Und einen unbewußten physiologischen Prozeß, irgend etwas noch nicht Existierendes, irgend eine chemische Reaktion, einzuhalten, das ist ein Verbrechen, etwas Entsetzliches, ja ... Ein Verbrechen! Obgleich das Leben der Mutter davon genau so gut abhängt und sogar noch etwas größeres als ihr Leben ... ihr Glück. Warum das eigentlich! Niemand kann darauf eine Antwort geben, aber alle brüllen Bravo ...« Ssanin lächelte. »Ja, so sind sie, die Menschen, so machen sie sich irgend ein Schemen, ein Gesetz, eine Fata Morgana und leiden darunter ... Und dann schreit man noch ... Der Mensch, das ist was herrliches, ist erhaben, unbegreiflich, ... ein Mensch ist ein König ... Ein König der Natur, der niemals zum Herrschen kommt ... Immer fürchtet er sich vor seinem Schatten ...«
Ssanin schwieg eine Weile.
»Aber im Uebrigen handelt es sich ja garnicht darum. Du sagst ... Niederträchtig ... Nun, ich weiß nicht, ... vielleicht. Aber wenn man jetzt Nowikow von deiner Geschichte erzählte, wird er ein tragisches Drama durchleben, sich vielleicht erschießen, aber, er wird doch nicht aufhören, dich zu lieben. Und er wird selbst daran Schuld haben, weil er eben an demselben Aberglauben leidet. Vor der Oeffentlichkeit wird er das natürlich nicht zugeben. Wenn er wirklich vernünftig wäre, würde er sich gar nicht darum kümmern, daß du schon mit irgend jemandem zusammengelegen hast. Weder dein Körper noch deine Seele sind dadurch im Geringsten schlechter geworden. Herrgott, eine Witwe zum Beispiel würde er doch ohne weiteres heiraten. Also offenbar handelt es sich garnicht um die Tatsache; es liegt einfach an der Konfusion, die in seinem Kopfe herrscht. Und du? ... Ja, wenn die Menschen nicht anders können, als nur einmal zu lieben, ja, dann würde wohl bei dem Versuch, es ein zweites Mal zu tun, nichts herauskommen. Es müßte nur schmerzhaft, unbequem, abscheulich sein. Aber das ist doch nicht im geringsten der Fall. Alles ist gleich angenehm und vergnüglich. Du wirst Nowikow lieben ... oder – liebst du ihn wirklich nicht? Weißt du, so reise doch mit mir mit, Lydotschka! Man kann doch überall leben.«
Lyda seufzte, und strengte sich an, aus ihrem Innern etwas Schweres fortzustoßen.
– – – und vielleicht wird wirklich alles wieder gut. Nowikow ... er ist doch lieb, gut ... und auch hübsch ... Aber nein, ich weiß nicht ...
»Und welchen Zweck hätte es nun gehabt, wenn du dich wirklich ersäuft hättest. Gut und Böse würde weder Gewinn noch Verlust dadurch haben, nein, nur Schleim würde deiner aufgedunsenen, formlosen Leiche ankleben, dann würde man dich herausziehen und einbuddeln, ... weiter nichts.«
Vor Lydas Augen tat sich eine grüne, unheimliche Tiefe auf, schleimige Fäden, Streifen, Blasen schlängelten sich in langsamen Windungen an sie heran; im selben Augenblick packte sie auch schon eine furchtbare Bangigkeit.
Nein, nein, niemals, ... lieber die Schande, Nowikow, – alles mögliche, nur nicht das! dachte sie erblassend.
»Da siehst du, wie du vor Grauen vollständig zusammenklappst.«
Lyda lächelte durch Tränen und dieses zufällige, eigene Lächeln erwärmte sie, als wenn es ihr bewiese, daß es noch möglich sei, zu lachen. ... Was auch sein mag, ich werde leben; – – sie dachte es mit leidenschaftlichem und fast triumphierendem Impuls.
»Na siehst du! ... Es gibt nichts Ekelhafteres, als Gedanken an den Tod. Solange man noch nicht vollständig fertig ist, nichts mehr vom Leben sieht und hört, lebe man weiter! Nicht? ... Na, gib doch das Pfötchen.« Lyda reichte ihm ihre Hand und in ihrer scheuen, weiblichen Bewegung lag kindliche Dankbarkeit.
»Na, welch ein hübsches Händchen du doch hast! ...«
Lyda lächelte und schwieg.
Nicht die Worte Ssanins waren es, die die Veränderung in ihr hervorgerufen hatten. In ihr selbst pulsierte hartnäckiges und freies Leben. Eine Minute des Schweigens und der Schwäche spannten es nur noch stärker wie eine Saite an. Noch eine Bewegung und die Saite wäre geplatzt. Aber diese Bewegung kam nicht. Ihre ganze Seele sang noch lauter und klangvoller von Lebenslust und rücksichtsloser Kraft. Mit Entzücken und Verwunderung über die Frische, die ihr selbst seit langem nicht mehr bekannt war, lauschte Lyda auf sich und erfaßte in jedem Atom das mächtige, freudige Leben, das sie umflutete, das heraufbrauste aus dem Lichte der Sonne, dem grünen Grase, dem fließenden, von der Sonne tiefdurchtränkten Wasser, dem lächelnden, ruhigen Gesicht des Bruders und aus ihr selbst. Es schien ihr, daß sie das alles zum ersten Male in ihrem Leben sah und fühlte.
Lebe! – – Lebe! rief es betäubend und freudig in ihr.
»So, – so ist es gut,« sagte Ssanin. »Ich helfe dir im Kampfe, in dieser schweren Zeit und du, – – gib du mir dafür einen Kuß, – – du bist so schön.«
Lyda lächelte schweigend, ihr Lächeln war unbestimmt. Ssanin legte die Hand um ihre Taille und, während er fühlte, wie sich ihr warmer, elastischer Körper in seinen sehnigen Armen dehnte und anschmiegte, zog er sie fest und überlegen an sich.
In Lydas Seele ging etwas Eigenartiges, aber unsäglich Angenehmes vor. Alles lebte in ihr und verlangte gierig nach einem noch stärkeren Leben. Ohne sich selbst Rechenschaft abzulegen, umschloß sie langsam den Nacken ihres Bruders mit beiden Armen und preßte, die Augen geschlossen, die Lippen zum Kusse zusammen. Als die heißen Lippen Ssanins lange und schmerzhaft die ihren küßten, fühlte sie sich unsäglich glücklich. In dem Augenblick kümmerte es sie nicht, wer sie küsse, so wie es der von der Sonne beschienenen Blume nicht darauf ankommt, wer sie bescheint.
– – – Was tue ich nur, dachte sie mit freudigem Staunen. Ach ja, ich wollte mich ja aus irgendeinem Grunde ertränken. O, wie schön ... nur nochmal, nochmal, ... jetzt küsse ich selbst, oh wie wunderschön und ganz gleich ist es ja, wer da ist ... nur leben, ... leben ...
»So, – so,« der Bruder ließ sie aus den Armen, »alles was gut ist, ist gut. Weiter braucht man nicht darüber nachzudenken.«
Lyda machte langsam ihre Haare zurecht, sie blickte ihn mit einem glücklichen und doch sinnlosen Lächeln an. Ssanin reichte ihr Schirm und Handschuh; zuerst wunderte sich Lyda über das Fehlen des einen, erinnerte sich dann aber an alles und lachte lange leise vor sich hin; – sie überlegte, welchen schrecklichen Eindruck vorher das ganz bedeutungslose Inswasserfallen des einen Handschuhs auf sie gemacht hatte.
– – – und so ist alles, dachte sie, während sie mit dem Bruder das Ufer entlang schritt und ihre gespannte Brust der Sonnenglut entgegenstreckte.