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»Amerikanski«

Der Morgen dämmert durch die Doppelfenster unseres Abteils. Dort ragt ja die große Eisenbrücke über die Wjatka, der Stolz des ganzen Gouvernements. Da ist ja das Kreisstädtchen, in das wir zuerst verschickt wurden, wo wir bei der Popenwitwe Unterkunft fanden. Verschneit und tot, wie erfroren liegt das Städtchen im Schnee, halb zugedeckt von ihm. Und unter der Schneedecke die deutschen Kameraden. Sie träumen von daheim. Es geht auf Weihnachten. Da ist das Heimweh besonders stark.

Weiter, immer weiter rollt der Zug, ächzend und stöhnend und knirschend im Schnee. Er kommt nur langsam, ganz langsam vorwärts. Dann steht er wieder längere Zeit. Wie um neue Kraft zu sammeln gegen den Kampf mit dem Schnee.

Wohin man blickt, nichts als Schnee.

Wir gewöhnen uns langsam daran, wieder Passagiere erster Klasse zu sein und nichts weiter.

Zugführer und Schaffner behandeln uns mit größter Zuvorkommenheit. Sonst kümmert sich niemand um uns.

Teewasser besorgt uns der Schaffner, so oft wir wollen. So viel Russisch können wir ja alle beide, um es zu fordern. Mehr brauchen wir nicht. Für alles andere sorgt der Eßkorb.

Drei Nächte und Tage sind wir so unterwegs.

Der Zugführer erscheint, um uns mitzuteilen, die nächste Station sei Wologda. Da müßten wir diesen Zug verlassen. Er gehe weiter nach Moskau, nicht nach Petersburg. Unser Billett lautet ja aber nach Petrograd.

Gegen Abend läuft der Zug in Wologda ein. Zugführer und Schaffner bemühen sich beide um unsere zwei Koffer und den Eßkorb. O, es ist angenehm reisen in Rußland, wenn man den Rubel nicht spart. Das habe ich immer gesagt.

Wir stehen auf dem Bahnhofsperron in Wologda zwischen einer ganzen Anzahl von Zügen. Welcher darunter ist der nächste Zug nach Petersburg?

Ich wende mich kurz entschlossen an den erstbesten, besser gekleideten Menschen und frage ihn französisch, welches der Zug nach Petrograd sei? Der Mann zuckt die Achseln. Er versteht kein Französisch oder will es nicht verstehn. Ich entferne mich immer mehr von dem Gepäck, das meine Frau bewacht. Hier muß doch irgendwo ein Mensch sein, der Französisch versteht. Zwei Gendarmen nähern sich schnüffelnd meiner Person. Die Leute um meine Frau herum bestürmen sie mit Fragen, die sie natürlich nicht beantworten kann. Die Situation wird kritisch.

Ich stürze auf eine ältere Dame mit Kneifer zu. Sie könnte eine Lehrerin sein und vielleicht Französisch verstehen. Ich habe mich nicht getäuscht. Es ist eine liebenswürdige Dame, die sofort mit mir zu meiner Frau geht. Bei ihr stehen schon die zwei Gendarmen und warten auf mich.

Die liebenswürdige ältere Dame mit dem Kneifer versucht ein Gespräch mit meiner Frau. Sie aber spricht nicht Französisch. Ich frage die Dame, ob sie auch Englisch spricht? Sie verneint, und ich sage: »Meine Frau spricht leider nicht Französisch, sie ist Amerikanerin von Geburt.«

Das wäre an sich ja noch kein zureichender Grund, um zu erklären, warum meine Frau kein Französisch spricht, es gibt genug Amerikanerinnen, die Französisch sprechen.

Der alten Dame aber geht ein Licht auf und sie ruft in die Menge und zu den Gendarmen, wir seien Amerikaner.

»Amerikanski!« Das ist doch die Nation, die ebenfalls die Njemez nicht ausstehen kann, die große Nation, die zu England und Rußland und Frankreich hält. Sozusagen eine verbündete Nation.

O, die Leute von Wologda wollen den beiden Amerikanern zeigen, wie Rußland Amerika liebt, sie wollen sich uns von der allerbesten Seite zeigen. Sogar die Gendarmen strahlen vor Diensteifer und Zuvorkommenheit. Jeder will unsere Koffer tragen, jeder will uns einen Dienst erweisen.

Man bestürmt die ältere Dame, mitzuteilen, welche Wünsche wir haben.

Sie fragt mich danach. Wir wollen nach Petrograd, das ist alles.

Es erscheint noch ein Gendarm, erfährt, was los ist, und nimmt unseren Eßkorb. Ein vierter Gendarm schleppt den Bahnhofsvorsteher herbei. Er soll sagen, welches der beste und schnellste Zug nach Petrograd ist.

Er unterhält sich mit den Gendarmen. Diese nehmen unser Gepäck und meine Frau. Ich kann nicht so schnell mitkommen, denn ich muß mich doch erst bei der alten Dame bedanken und von ihr verabschieden.

Mit halbem Auge sehe ich, wie die Gendarmen mit meiner Frau und dem Gepäck ein Geleise überschreiten und hinter einem Zug verschwinden.

Wenn sich die alte Dame jetzt doch zufrieden gäbe und mich losließe. Ich sehe nicht gerade gern meine Frau mit Gendarmen verschwinden. Das hat bisher auf die Dauer noch nie etwas Gutes bedeutet.

Endlich reiße ich mich von der alten Dame los und suche meine Frau. Es ist dunkel. Ein Geleise sieht aus wie das andre. Ich rufe. Nichts antwortet. Eine nette Bescherung. Ich steige in den nächsten Zug und frage, ob niemand meine Frau gesehen hat. Hier ist mir schon der Ruf vorausgeeilt, daß ich Amerikaner sei. Zwei Offiziere erheben sich und helfen mir suchen. Ein großer Herr tritt zu mir. Er spreche alle Sprachen, Französisch, Russisch, Englisch, Spanisch. Nur Deutsch nennt er nicht. Ich soll sagen, wie meine Frau aussieht. Wir werden sie schon finden. Ich tue es, wir suchen, der Zugführer pfeift, und erst jetzt erfahre ich, daß dieser Zug ja nach Moskau geht, nicht nach Petrograd, in ihm meine Frau also gar nicht sein kann. Ich springe heraus. Alle Russen aus dem Perron helfen mir suchen. Wieder erwische ich die alte Dame und sage ihr, daß ich meine Frau verloren habe. Sie ruft einen Gendarmen. Er lacht, macht eine bedauernde Geste über das Mißverständnis und führt mich über mancherlei Geleise immer weiter fort vom Perron. Ich rufe. Aber niemand antwortet.

Endlich hilft mir der Gendarm in einen neuen Zug, der noch weit außerhalb des Bahnhofs steht. Hier sitzt meine Frau ganz behaglich in einem Wagen erster Klasse. Vor ihr die Gendarmen, die ihr Zigaretten anbieten und eine Konversation versuchen, so gut es gehn will. Meine Frau sucht alle russischen Brocken zusammen, und die Gendarmen sind äußerst geschmeichelt und liebenswürdig. Sie machen mir Platz und bieten auch mir Zigaretten an.

In ihrem Eifer für die Amerikanski haben sie mir Frau und Gepäck hierher verschleppt. Das ist der Petrograder Zug. Aber wenn er erst in der Station ist, finden wir vielleicht keinen guten Platz, denn der Zug wird überfüllt sein. Deshalb hat der Bahnhofsvorsteher erlaubt, daß wir schon hier draußen einsteigen. Das ganze Kupee bleibt für uns reserviert.

So geschieht es denn auch. Als der Zug endlich im Bahnhof hält, darf niemand in unser Kupee. »Amerikanski!« Das sagt genug, und jeder Passagier zieht sich respektvoll zurück und sucht sich ohne Murren einen anderen Platz. Die Gendarmen rufen den Zugführer und bedeuten ihm, wer wir seien, und daß uns niemand stören dürfe. Die Menge draußen will wissen, ob wir gut aufgehoben seien. Man beruhigt sie darüber. Es fehlt wahrhaftig nur noch, daß sie uns hoch leben läßt.

Das zweite Abfahrtszeichen. Die Gendarmen zögern immer noch, uns zu verlassen. Sie warten offensichtlich auf etwas. Endlich verstehe ich und gebe einige Rubel. Nun greifen sie zur Mütze und empfehlen sich. Endlich sind wir wieder allein. Wir sinken in die Kissen und lachen, wie wir seit Monaten nicht mehr gelacht haben. Selbst der geniale russische Dichter des »Revisor« hätte keine bessere, wirksamere, russischere Lustspielszene erfinden können, als wir sie eben erlebt haben.

Wieder zwei Tage Eisenbahnfahrt. Die Schneeschicht wird dünner. Zuweilen kommt sogar hier und da ein Stück Erde hervor.

Vom Bahnhofsvorsteher in Wologda hatten wir erfahren, daß unser Zug morgens gegen sieben Uhr in Petrograd einlaufen solle. Und auf unsere Frage, wie man von dort nach Stockholm weiter, komme, hatte er erklärt, es gäbe nur noch einen Weg, den durch Finnland über Raumo und von dort mit einem schwedischen Dampfer. Vom Finnischen Bahnhof in Petrograd gehe aber täglich nur noch ein Zug. Morgens um neun. Kamen wir also rechtzeitig in Petrograd an, brauchten wir uns dort überhaupt nicht aufzuhalten, sondern fuhren vom Nikolaibahnhof direkt zum Finnischen Bahnhof, ohne weiter mit dem heißen Petrograder Pflaster in nähere Berührung zu kommen.

Leider aber lief unser Zug erst um zehn Uhr im Nikolaibahnhof ein, und damit mußten wir 24 Stunden in Petrograd bleiben.

Um durch das Gepäck nicht behindert zu werden, lassen wir es auf dem Bahnhof. Begeben wir uns ohne jedes Gepäck in die Stadt, wird man uns nicht so ohne weiteres für Reisende hatten. Reisende aber sind von vornherein verdächtig.

In der Nähe des Bahnhofs nehmen wir uns einen Wagen, um zunächst einmal zur amerikanischen Botschaft zu fahren. Ihr ist doch der Schutz der Deutschen anvertraut, sie wird uns also wenigstens einen guten Rat geben können. Dazu ist sie ja da. Auch wollen wir auf der Botschaft dahin wirken, daß den Landsleuten am Ural Geld zukommt, das, was sie für den Augenblick am nötigsten brauchen.

Wie warm es in Petrograd ist! Die Leute, denen wir begegnen, scheinen trotzdem zu frieren. Aber wir sind an Uralwinde gewöhnt, uns kommt die Lust, vor der sich die Petrograder in Pelze verkriechen, fast frühlingsmäßig vor. Auch liegt nur wenig Schnee in den Straßen.

Man durchquert halb Petrograd, um vom Nikolaibahnhof zur amerikanischen Botschaft zu gelangen. Wir kennen die Stadt von früher her. Erst vor einem Jahr waren wir wochenlang hier. Auffallend ist nur der Mangel an Militär. Als gäbe es in der russischen Hauptstadt überhaupt keine Soldaten mehr. Auch sieht man gar keine Verwundeten. Im übrigen finden wir keinen Unterschied zwischen dem früheren Petersburg und dem jetzigen Petrograd. Halt, einen finden wir. In den Delikateßgeschäften sind aus den »Frankfurter Würstchen« derweil »Portugiesische Würste« geworden.

Unser Wagen hält bei der amerikanischen Botschaft. Wir lassen ihn warten und treten ein.

Der Portier ist zunächst nicht gerade freundlich. Er wittert Deutsche in uns. Als ihm meine Frau aber amerikanisch kommt, wird er geschmeidig und läßt uns eintreten.

Da meine Frau mit der Dienerschaft Englisch spricht, ist sie äußerst zuvorkommend. Als aber einer nach unserem Begehr fragt und meine Frau sagt, wir seien Deutsche und kämen aus Sibirien und wünschten den Botschafter zu sprechen, wird die Dienerschaft eisig. Man tuschelt und führt uns dann nach rechts in einen Empfangsraum. Er sieht etwas nach zweiter Garnitur aus.

Ein Tisch, drei Stühle, ein Sofa. Auf dem Tisch liegt nichts weiter als eine Nummer des »New York Herald«, der bekannten antideutschen amerikanischen Zeitung, die von Paris aus gespeist wird. Ein Drittel der ersten Seite nimmt eine freche Karikatur auf den Deutschen Kaiser ein. Ist es nicht eine Unverschämtheit, daß die Botschaft, die zum Schutz der Deutschen bestellt ist, den Deutschen das zum Empfang zu bieten wagt? Ich erlaube mir, das Blatt zusammenzufalten und an einen weniger sichtbaren Ort zu befördern.

Man läßt uns warten. Wir sind ja nur Deutsche. Meine Frau ballt die Fäuste.

Endlich erscheint ein glattrasierter, eleganter Jüngling mit mißmutigem Gesicht. Es scheint, wir haben ihn im Nichtstun unangenehm gestört.

Er bleibt ostentativ stehen, er will die Sache so kurz wie möglich machen.

Meine Frau knöpft sich den Jüngling ordentlich vor, der keine Miene verzieht. Einer Amerikanerin gegenüber würde er es nicht wagen, so unhöflich zu sein und keinen Stuhl anzubieten. Einer Amerikanerin gegenüber, die Deutsche geworden ist, wagt es der Flegel.

Wir setzen uns, und meine Frau lädt den Jüngling ebenfalls zum Sitzen ein. Also setzt er sich endlich.

Am meisten liegt uns die Sorge um die Kameraden am Ural am Herzen. Wir klären den Jüngling über deren Lage auf. Der Jüngling erklärt, man habe Geld dorthin gesandt.

»Wie?«

»Durch die Post.«

Ich lache höhnisch. Ob er nicht weiß, daß das Geld dann nicht ausgeliefert wird?

Er antwortet wörtlich: »Wir haben erfahren, daß es nicht ausgeliefert wurde.«

Meine Frau: »Warum benutzen Sie dann nicht einen anderen Weg?«

Der Jüngling, so zugeknöpft und unfreundlich wie möglich: »Wir haben keinen anderen Weg.«

Das ist natürlich Schwindel. Es gibt einen sehr einfachen Weg. Der amerikanische Botschafter setzt z. B. diesen Jüngling, mit Geld wohl ausgerüstet, in ein Kupee erster Klasse und läßt ihn nach dem Ural fahren. Es ist für einen Amerikaner eine durchaus ungefährliche Reise, sogar keine unbequeme Reise, interessant wäre sie auch, und die Botschaft würde dann doch wirklich etwas Objektives über ihre »Schützlinge« erfahren. Aber man möchte das wohl gar nicht.

Der Jüngling: »Wir haben übrigens Briefe gerade aus Ihrem Gouvernement, aus denen hervorgeht, daß es den Deutschen gut geht.« Er zuckt nicht einmal mit der Wimper, als er das sagt. Alle Achtung vor solcher Stirn.

Ich: »Nur noch eine Frage. Sie wissen, wir können erst morgen früh weiter reisen. Wir müssen also in Petersburg übernachten. Kann man das ungefährdet oder wird der Paß abverlangt und wir dann womöglich zurückgehalten?«

Der Jüngling, wieder ohne Wimpernzucken: »Wenn Sie nur über Nacht hier bleiben wollen, nur eine Nacht, können Sie ruhig in jedem Hotel absteigen. Für eine Nacht wird der Paß nicht abverlangt.«

»Und wie ist es mit dem Geld? Wird es an der Grenze abgenommen?«

»Soviel wir wissen, ist es erlaubt, pro Person 250 Rubel mitzunehmen.«

Hätten wir dem Rat dieses Jünglings unserer Schutzbotschaft vertraut, so säßen wir vermutlich heute wieder in Sibirien. Auch durfte man nicht 250 Rubel, sondern nur 50 Rubel pro Person mit über die Grenze nehmen. Alles andere wurde konfisziert, ohne daß man eine Quittung erhielt. Es wurde einfach gestohlen.

So unwissend war die amerikanische Botschaft in Petersburg, der offiziell der Schutz der Deutschen in Rußland anvertraut war und noch anvertraut ist!

Wir fuhren zunächst bei solchen Hotels vor, in denen wir schon früher logiert hatten. Nirgends nahm man uns auf. Auch nicht für eine Nacht. Sowie man aus dem Paß ersah, daß wir Deutsche waren, wurde die Aufnahme verweigert.

Endlich hielten wir bei dem ersten Hotel, in dem wir früher noch nicht abgestiegen waren. Einer der Geschäftsführer war ein Schweizer. Er nahm uns mit in sein Privatkontor und klärte uns dahin auf: Es ist den Hotels verboten, Deutsche zu nächtigen ohne Paßabgabe. Behielte er uns also über Nacht, so müsse er gegen Abend den Paß der Polizei abliefern. Dann aber kämen wir unter keinen Umständen morgen weiter. Wenn wir Glück hätten, müßten wir hier drei, vier Wochen warten, bis wir den Paß zurückerhielten. So sei es einer deutschen Dame erst kürzlich gegangen. Das sei also zum mindesten äußerst kostspielig, für die meisten Deutschen im Augenblick pekuniär einfach undurchführbar. Da wir aber aus Sibirien kämen, also verschickt waren, so wäre es noch viel wahrscheinlicher, daß man jedenfalls mich wieder festnähme und in ein anderes sibirisches Gouvernement verschicke oder in die Peter-Pauls-Festung setze.

Nette Aussichten!

»Dann nächtigen wir wohl am besten irgendwo auf dem Finnischen Bahnhof?«

Uns wird klargemacht, daß auch das nichts nützen werde. Auf den Bahnhöfen seien besonders liebenswürdige Gendarmeriewachtmeister postiert, die Deutsch verständen. Wenn ihnen jemand auffällt, nehmen sie ihn ins Gebet und führen ihn ab.

Hm.

Der Geschäftsführer fragt, ob wir denn keinen russischen Bekannten hier hätten? Er könne uns nicht ohne Paßabgabe über Nacht behalten. Das könne nur eine befreundete Privatperson riskieren.

Da fiel mir ein alter russischer Freund ein. Noch voriges Jahr hatten wir viele Wochen auf seinem Landgut bei Moskau verbracht. Damals war er ein ehrlicher Deutschenfreund gewesen, wie es deren damals nicht wenige in der Hofgesellschaft gab. Sich in den jetzigen Zeitläuften in einen Konflikt mit der Polizei bringen, konnte man ihm unmöglich zumuten. Aber vielleicht wußte er einen Rat, einen Ausweg.

Ich deutete das dem Geschäftsführer an, und er erklärte sich bereit, uns für den Nachmittag bis zum hereinbrechenden Abend ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, das wir aber gegen Abend unbedingt räumen müßten.

Wir waren einverstanden, denn einmal konnten wir doch so endlich wieder ein Bad nehmen, und zweitens konnte ich mich vom Zimmer aus leicht mit dem russischen Freund telephonisch in Verbindung setzen.

Der Preis des Zimmers für den Nachmittag betrug vierzig Mark. Wir nahmen es in Besitz und ließen unser Gepäck vom Bahnhof holen.

Erst baden, dann Frühstück bestellen. Ein ordentliches, opulentes Frühstück, so opulent wie möglich. Mit gutem Wein, so gut wie möglich. Wer weiß, ob wir es so gut noch einmal wieder haben.

Ich setze mich telephonisch mit meinem russischen Freund in Verbindung. Gott sei Dank, er ist wenigstens da. Aber er traut seinen Ohren nicht, als er meinen Namen hört. Er will es einfach nicht glauben, und als er es glauben muß, hört man seiner Stimme ordentlich an, wie das dazu gehörige Gesicht blaß wird. Und dann eine Pause. Der Schreck hat ihm die Stimme verschlagen. Vielleicht hat er sich auch erst setzen müssen, bevor er weiter sprechen kann. Erklären kann ich ihm den Sachverhalt durch das Telephon natürlich nicht. Er muß sich schon das Nötige selbst denken ... Lange Pause. Dann rafft er sich zusammen und sagt, er werde so bald als irgend möglich zu uns kommen.

Es ist zwei Uhr. Wir haben gefrühstückt, sind todmüde und legen uns aufs Bett.

Es wird drei Uhr, vier Uhr. Der russische Freund erscheint immer noch nicht. Länger als eine Stunde dürfen wir hier nicht mehr bleiben.

Ich erhebe mich von dem Bett, einem herrlichen Bett, in dem es sich die Nacht über großartig hätte schlafen lassen. Seit Monaten haben wir so etwas Köstliches nicht mehr gesehen ... Aber jetzt ist keine Zeit, zu schlafen. Wir werden unser Gepäck hier lassen, im Stiche lassen und uns bis zum Morgen des nächsten Tages in den Kneipen herumdrücken. Vielleicht gerät es. Gelingt es nicht, und werden wir eingefangen ... Nun ich glaube nicht, daß die Nerven reichen, eine zweite Verschickung oder dergleichen auszuhalten ... Man wird sich vor allen Dingen eine Waffe kaufen müssen und nötigenfalls so ein Ende machen.

Auch meine Frau erhebt sich wieder, und wir packen langsam Seife und Schwamm und dergleichen wieder in die Koffer.

Es klopft laut und stürmisch. Der russische Freund erscheint und entschuldigt sich vielmals, daß er so lange hat auf sich warten lassen. Vor einem Jahr haben wir in einer tollen Nacht im Petersburger »Aquarium« Schmollis getrunken. Er duzt mich auch jetzt, was entschieden ein gutes Zeichen ist.

Ein Hausknecht klopft, tritt ein und bemächtigt sich auf Weisung des Russen unserer Koffer.

»Pardon, einen Augenblick. Was hast du vor?«

Der Russe, der sehr aufgeregt ist, erklärt uns, er habe sich natürlich erst mit seiner Frau in Verbindung setzen müssen, auch werde schon ein Vetter aus Schweden als Gast erwartet, aber wir kämen doch selbstverständlich für die Nacht zu ihnen.

»Pardon, einen anderen Rat weißt du nicht?«

Der Russe immer unruhiger: »Wenn man dich hier erwischt, wirst du unfehlbar wieder eingesperrt. Ich habe unseren Hausmeister schon vorbereitet, daß zwei Amerikaner aus Persien auf der Durchreise nach Stockholm für die Nacht bei mir logieren. Auch den Dienstboten gegenüber geltet ihr als Amerikaner. Die Sache ist abgemacht.«

»Aber wenn es herauskommt? Es kann dich Kopf und Kragen kosten!«

»Wird schon so schlimm nicht werden. Nur fix, daß wir fortkommen!«

Ich sträube mich allen Ernstes. Wahrhaftig nicht nur zum Schein. Ich will doch nicht auch noch andere Leute unglücklich machen. Aber er bestätigt mir die Geschichte von den freundlichen Gendarmeriewachtmeistern auf den Bahnhöfen. Er versichert mir, daß ich verloren sei, wenn man meinen Paß sieht.

Die Koffer werden über die Hintertreppe in einen Wagen geschafft. Der Kutscher hat die Adresse und fährt damit fort.

Wir gehen die Haupttreppe hinunter. Im Vestibül trifft unser Freund einen bekannten Russen, der ihn nicht los läßt. Um nicht aufzufallen, muß er uns vorstellen. Als Amerikaner. Der Russe ist entzückt. Er besteht darauf, da wir Petrograd noch nicht kennen und direkt aus Persien kommen, wenigstens für eine halbe Stunde noch hier zu bleiben. Es ist gerade der Fünfuhrtee, der berühmteste in ganz Petrograd, mit der besten Musik. Ganz Petrograd gibt sich diese Stunde hier ein Stelldichein. Das müssen wir uns unbedingt ansehen.

Also schön, wir gehen mit.

Eine seltsame halbe Stunde. Leichte Musik. Schöne Frauen. Elegante Herren. Darunter aber nur ganz vereinzelt Offiziere. Das flirtet und lacht und scherzt. Träumen wir oder wachen wir? Kein Wort über den Krieg, nichts erinnert an den Krieg. Jetzt tanzen sogar in der Mitte des Prunkraumes Berufstänzer und Tänzerinnen ... Niemand kümmert sich um den Krieg.

Endlich können wir uns freimachen. Draußen ist es schon dunkel. Wir nehmen einen Wagen und fahren ein wenig spazieren. Erst müssen wir verschnaufen und uns beruhigen.

Im Flur des neuen Hauses mit allem Komfort der Neuzeit, wo unser Russe wohnt, steht schon der Hausmann, ein alter, verkniffener Kerl und selbstverständlich wie jeder russische Hausmann ein Polizeispitzel.

»Das sind die beiden Amerikaner, meine alten Freunde,« erklärt unser Russe, »leider müssen sie schon morgen in aller Frühe weiter nach Stockholm. Ich bürge für sie. Für die eine Nacht den Paß abzugeben, wird wohl nicht nötig sein?« Der verkniffene Kerl brummt etwas Mißvergnügtes. Es ist wieder einmal ein kritischer Augenblick. Der Liftboy steht auch schon da und mustert uns.

»Laßt euch nur schon nach oben fahren,« sagt unser Freund zu uns, »ich komme gleich nach.«

Wir fahren nach oben. Ich denke, der Russe wird dem Hausmann ein entsprechendes Trinkgeld zugesteckt haben.

Ein Diener öffnet uns. Wir werden in einen Salon geführt. Es ist ein recht peinlicher Augenblick. Wir fühlen ganz deutlich, welchen Gefahren sich unser Freund aussetzt, aber für den Augenblick können wir es nicht mehr ändern. Unser Freund erscheint und wundert sich, daß seine Frau noch nicht bei uns ist.

Der Gast aus Schweden ist derweil gekommen, ein Vetter, daher die Verzögerung. Unser Freund holt seine Frau und den Vetter.

Wir wissen nicht, ist der Vetter orientiert oder nicht? Wieder eine etwas heikle Situation.

Unser Freund klärt den Vetter, einen alten, gewandten schwedischen Diplomaten, über uns auf.

Nun ist das Eis gebrochen.

»Also bei Tisch bitte nicht vergessen, daß ihr Amerikaner seid und aus Persien kommt. Der Diener versteht Deutsch.«

Es geht zu Tisch und ich erzähle mein amerikanisches Erlebnis in Wologda und dann reden wir von Persien, denn so viel steht fest, daß ich jedenfalls mehr davon weiß als der Diener.

Auch das geht vorüber, und wir können uns in das Zimmer des Hausherrn zurückziehen, wo wir ungestört sind.

Uns zu Ehren gibt es Rheinwein, viel Rheinwein, sehr viel Rheinwein. Der schwedische Vetter ist ihm nicht abgeneigt, der russische Vetter auch nicht, ich erst recht nicht.

Die Damen ziehen sich zurück. Meine Frau will sich ein wenig niederlegen.

Ich flüstere: »Ich glaube, der Diener hat uns erkannt. Vom vorigen Sommer her, als wir auf deinem Gut waren.«

Der Freund beruhigt mich. Das schade nichts, er werde schon den Mund halten. Bald sind wir mitten in einem politischen Gespräch. Mein Freund schilt gewaltig über die deutsche Diplomatie. Nach seiner Meinung ist sie an dem ganzen Unheil schuld. »Was sie schlecht gemacht haben, müssen eure Heerführer jetzt wieder gutzumachen suchen. Aber ich fürchte, es geht auch bei ihnen nicht länger mehr. Ich habe direkte Nachricht vom Oberkommando. Erst vorgestern wieder haben wir sechzigtausend Deutsche gefangengenommen.«

Der Vetter aus Schweden stutzt einen Augenblick, dann lacht er laut und sagt: »Aber das ist ja umgekehrt, durchaus umgekehrt, die Deutschen haben sechzigtausend Russen gefangengenommen. Es ist überhaupt immer alles umgekehrt, wie ihr es hier hört. Daran mußt du dich nun gewöhnen.«

Mein armer Freund ist sehr verblüfft. Aber der Vetter aus Schweden ist eine Respektsperson und durchaus zuverlässig. Mit dessen Behauptung muß er erst innerlich fertig werden.

Inzwischen unterhalten sich der Schwede und ich. Auf das Kriegsthema selbst mag ich in diesem Augenblick nicht kommen als Gast eines Russen. Aber mich interessiert, wie Schweden jetzt über uns denkt.

Der Vetter will erst nicht recht mit der Sprache heraus. Dann meint er etwas zögernd: »Offen gestanden und unter uns, ich müßte lügen, wenn ich behaupten sollte, daß wir Schweden die Deutschen bisher besonders geliebt hätten. Aber großen Respekt haben wir jetzt vor ihnen, sehr großen Respekt.«

Wir sind die Nacht über beim Wein sitzen geblieben und keiner hat mit der Zeit dem anderen gegenüber aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht. Das bringt der Rheinwein so mit sich.

In aller Frühe hat der Russe uns dann zum Finnischen Bahnhof gefahren. Auch das wollte er sich nicht nehmen lassen, der wirklich gute Freund. Er nahm die Billette für uns und bugsierte uns in ein Kupee zweiter Klasse, das schon mit ausgewiesenen Deutschen voll besetzt war, meist Frauen und Kindern.

»Ich glaube, ihr habt auch weiterhin Glück,« meinte er erleichtert, »der Zug ist voll besetzt mit Ausgewiesenen aus der Gegend von Lodz und Riga, ich taxiere: mindestens hundert Pässe. Das ist zu viel für russische Polizei. Höchstens zwanzig wird sie sich genauer ansehen. Ich hoffe, dabei schlüpft euer Paß unbeachtet mit durch.«

Noch ein fester Händedruck. Der Freund verschwindet. Möge ihm seine gute Tat nicht schlecht bekommen sein!


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