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Am 5. August gegen Mittag kommt der Hotelportier in das Restaurant, wo wir Deutschen gerade wieder einmal beratend zusammensaßen, um die beiden Söhne des Hauses, mich und den bayrischen Ingenieur in das Bureau zu rufen, wo der stellvertretende Reviervorsteher unserer harre, um ein Protokoll aufzunehmen.
Vier Mann hoch ziehen wir in das Bureau. Ein jovialer, kugelrunder Herr, dieser stellvertretende Pristav. Essen und trinken ist ihm sicher eine angenehmere Beschäftigung als Protokolle aufnehmen.
Ich komme zuletzt an die Reihe und habe Zeit, zu überlegen, was ich sagen soll. Meine Lage ist ein wenig heikel. Kurz vor Kriegsausbruch ist von mir in einem Berliner Verlag ein Buch unter dem Titel: »Der Zar und seine Juden« erschienen, das mit der russischen Regierung nicht gerade wohlwollend umgeht. Aus meinem Paß ging ferner deutlich hervor, daß ich direkt aus Konstantinopel kam, dort mehrere Monate gelebt hatte und jetzt wieder nach der Türkei zurück wollte. Ich hätte den Russen also schon deshalb verdächtig erscheinen können.
Ich gab zu Protokoll, was freilich nur ein Teil der Wahrheit war, ich beschäftige mich mit archäologischen Studien, speziell mit chetitischen, und reise zu diesem Zweck nach Wan und Umgegend.
Der kugelrunde Pristavstellvertreter konnte sich dabei zwar offenbar nichts Rechtes vorstellen, gab sich aber vorläufig damit zufrieden.
Bis auf den jüngeren Sohn des Hauses konnten wir zu unserem Frühstück zurückkehren. Den jüngeren Sohn nahm der Polizeibeamte mit. Erst am nächsten Tag brachte seine Frau, eine im Kaukasus geborene deutsche Kolonistin, heraus, daß ihr Mann auf der Hauptwache saß und dort festgehalten wurde.
Tags darauf Nachricht von dem Eingesperrten, daß er zunächst auf der Hauptwache bleiben müsse, wo auch der deutsche Konsul aus Erzerum in der Türkei festgehalten werde. Dr. Anders, der deutsche Konsul in Erzerum, kam aus Wan, wohin ich ursprünglich hatte reisen wollen. Er wählte ebenfalls den bequemeren Weg über Rußland nach Erzerum, ohne eine Ahnung vom Ausbruch des Krieges zu haben, wurde auf russischem Gebiet festgenommen und war also nun in der Hauptwache in Tiflis eingesperrt ...
Die englische Kriegserklärung an Deutschland wird in Tiflis bekannt. Auf dem Rathaus tanzen sie Freudentänze. Tiflis steht Kopf. Nun kann es nicht fehlen! Deutschland ist schon so gut wie vernichtet.
Einige wenige Russen benehmen sich jetzt noch herablassender gegen die armen Njemez, die Deutschen. Den meisten aber stärkt Englands Kriegserklärung so den Mut in der Brust, daß sie anfangen unverschämt zu werden gegen alles, was deutsch ist.
Nur die beiden Engländer in unserem Hotel freuen sich nicht der englischen Kriegserklärung. Im Gegenteil. Sie sind wie vom Donner gerührt, als sie sich darüber Gewißheit verschafft haben. Dann schimpfen sie auf Lord Grey, wie ich englisch noch nie habe schimpfen hören. Durch sein aktives Eingreifen in den Krieg verdarb er England nach ihrer Meinung das schönste und größte Geschäft, das sich der britischen Insel seit ihrem Bestehen bot. Nun hatte England Farbe bekannt, statt wieder im trüben zu fischen. Der größte Fehler, den England je begangen hat. Sie reisten ab, wütend und verstört. Recht hatten sie! ...
Das junge holländische Ehepaar, das neutrale Ehepaar, fühlt sich unbehaglich, denn ganz mag man es doch nicht mit den Deutschen verderben, aber die Russen beginnen, es den jungen Leuten übelzunehmen, wenn sie mit uns sprechen. Sie tun das klügste, was ein Neutraler tun kann, sie reisen ab und machen ihre Bergtouren. Derweil die Welt in Flammen steht, besteigen sie den Kasbek.
Unser österreichisch-polnisches Ehepärchen hält sich fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer versteckt. Erst am Abend erscheinen die beiden und lustwandeln verstohlen, zärtlich aneinander geschmiegt, durch den kleinen Hotelgarten. Tagsüber fürchten sie sich und sehen von Tag zu Tag elender aus. Erst als des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch Aufruf an die Polen bekannt wird, atmen sie auf und fassen wieder Mut. Der Mann hat mir erklärt, er sei entschlossen, russischer Untertan zu werden. Wäre er nicht so schwächlich, hätte ich ihn geohrfeigt. So kehre ich ihm nur stumm den Rücken ...
Acht Tage nach der ersten Protokollierung werden wir, der ältere Sohn des Hauses, der bayrische Hütteningenieur und ich, wieder aus dem Restaurant gerufen. Im Hoteleingang stehen sechs russische Infanteristen und ein Polizeioffizier mit zwei Polizisten. Als der Polizeioffizier uns sieht, kommandiert er barsch: »Hut auf! Mitkommen!« Wir wollen unsere Frauen vorher verständigen. Man läßt es nicht zu. Also Hut auf und mit. Wir drei werden von den neun in die Mitte genommen und abgeführt. Wie Schwerverbrecher. Zu Fuß geht es in solchem Aufzug durch die Straßen zum zuständigen Polizeirevier. Die Sonne brennt beträchtlich.
Auf dem Revier treffen wir noch ein halbes Dutzend Deutsche, die genau so wie wir ohne jede Erklärung hierher transportiert worden sind. Auch die Polizei klärt uns nicht darüber auf. Wir stehen auf dem Gang herum und warten.
Es war noch nicht zehn Uhr, als wir eingeliefert wurden.
Um halb zwei werden wir, jetzt ein Dutzend Deutsche, vom Revier unter starker Bedeckung zum Polizeipräsidium eskortiert. Zum Gaudium der Russen führt der Weg durch die ganze Stadt. Nicht gerade ein angenehmes Spießrutenlaufen. Wir kommen an der Hauptwache vorbei, und der Zufall will es, daß gerade der jüngere Richter aus seinem vergitterten Fensterchen sieht, als sein älterer Bruder mit uns vorbeigetrieben wird.
Auf dem Polizeipräsidium heißt es zunächst wieder einmal: warten. Nach und nach kommen immer mehr Deutsche hinzu aus anderen Polizeirevieren. Es ist, als hätte die Tifliser Polizei heute morgen durch die ganze Stadt eine Jagd auf Deutsche gemacht.
Endlich öffnet sich eine Tür, und die Deutschen werden einzeln hereingerufen. Ich bin einer der letzten. In dem Zimmer sitzt wieder ein Pristav und nimmt Protokolle auf. Ich wiederhole, was ich schon vor acht Tagen gesagt habe. Das Protokoll ist zu Ende, und ich will zu den andern Deutschen, die in einem Nebenraum versammelt sind, wie ich durch eine offenstehende Tür sehen kann. Der Pristav schreit mich an und weist mich zu einer andern Tür, hinter der ich verschwinde. In diesem Raum befindet sich außer mir noch ein Deutscher. Wir sehen uns an und sprechen miteinander. Haben wir etwas Besonderes verbrochen, daß wir von den andern abgesondert werden, oder was ist sonst los?
Noch ein Deutscher gesellt sich zu uns. Warten. Endlich erscheint ein Polizist und brüllt uns an: »Pascholl!« (Raus!)
Wir also raus, und da uns niemand hindert, sich niemand um uns kümmert, verlassen wir das Polizeipräsidium. Und da sich die Polizei vor dem Tor auch nicht um uns kümmert, gehen wir eben nach Hause.
Aber wo bleiben die andern, wo bleibt der bayrische Hütteningenieur, wo steckt der ältere Richter, der älteste Sohn unserer Hotelbesitzerin? Niemand weiß es. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.
Kaum im Hotel angekommen, stürzen die Frauen über mich her. Wo sind die Männer? Ich weiß es nicht. Was wird mit ihnen? Ich weiß es nicht. Wir telefonieren. An unser Revier. An das Polizeipräsidium. Die alte Frau Richter setzt sich mit den einflußreichsten Leuten in Verbindung. Sie verkehren ja alle in ihrem Hotel. Sie lebt ja schon dreißig Jahre in Tiflis und kennt jedermann, und jedermann respektiert sie. Keiner gibt ihr eine bestimmte Auskunft. Immer nur Ausreden, billige Ausflüchte und flüchtige Trostworte, die aber gar nicht ernst gemeint sind. Früher hatte sie so viel Einfluß. Jetzt ist das alles wie mit einem Ruck abgeschnitten, als wäre es nie gewesen.
Wilde Gerüchte gehen in der Stadt über die beiden Söhne der Frau Richter. Sie sind ja stadtbekannt wie die Mutter. Der eine soll gerade dabei erwischt worden sein, wie er russische Pläne auf die Post gab für Deutschland. Der andere soll Photographien russischer Befestigungen gesammelt und nach Berlin geschickt haben und dergleichen mehr, woran natürlich kein wahres Wort ist. Endlich gelingt es der Frau des jüngeren Sohnes, zum Stadtkommandanten vorzudringen. Endlich gelingt es der alten Dame, beim Statthalter, dem allmächtigen Grafen Woronzow-Daschkow, einem Günstling des Zaren, empfangen zu werden. Aber immer nur Ausflüchte und nichtssagende Redensarten ...
Außer den Offizieren ziehen sich die Russen immer mehr von dem Hotel zurück. Man beginnt, es zu meiden. Wenn aber einer einmal wiedererscheint, der sonst Stammgast hier war, vielleicht auch eine tüchtige Portion Schulden hier hat, dann kommt er nur, um die alte Dame zu quälen. Ob sie noch nicht wisse, daß ihr einer Sohn morgen gehängt werde? Oder er kondoliert direkt mit scheinbar teilnahmsvollem Gesicht, weil der eine Sohn gestern hingerichtet worden sei. Hat er seinen Zweck erreicht und die alte Dame der Verzweiflung nahegebracht, macht er sich schleunigst aus dem Staube.
Nun wagt sich jeder Neid wider das altangesehene Haus hervor und wird zur Niedertracht. Es ist ja jetzt patriotisch, sich gegen die Deutschen niederträchtig zu benehmen. Und gegen diese alte, harmlose Dame hat man dazu ja so einen prachtvollen Vorwand. Im russischen Klub wurde allgemein erzählt, daß im Hotel London ein ganzes Nest von deutschen Spionen auszuheben sei. Schon am Tage vor der Kriegserklärung hätten die Deutschen im Hotel London über den Krieg Bescheid gewußt und ein wüstes Sektgelage abgehalten, bei dem auf Kaiser Wilhelm Hochs ausgebracht und auf den Untergang Rußlands die Gläser geleert wurden.
So sah jenes harmlose Sektfrühstück vom 2. August, von dem ich erzählte, jetzt aus. Und der eigentliche Urheber dieses Frühstücks, der eigentliche Veranlasser und Veranstalter der ganzen Tat, der Balte, der Russe, der Aristokrat, der Herr Baron Drachenfels, selbst Mitglied des russischen Klubs, er trat doch selbstverständlich als Ehrenmann gegen solche Gerüchte auf und legte den wahren Sachverhalt dar, denn er war doch der nächste dazu? Er dachte gar nicht daran. Er war zu feig, die Sache aufzuklären, und ließ es ruhig zu, daß unschuldige Frauen und wehrlose Männer darunter zu leiden hatten. Ja, er besaß sogar die perfide Frechheit, dem Direktor des Hüttenwerkes, bei dem der bayrische Ingenieur angestellt war, zu erklären, dieser habe das Frühstück arrangiert und sei nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, das Wohl des Deutschen Kaisers auszubringen. Auf Sekt habe er aber bestanden, und so sei es nur gelungen, daß dank seiner Vorstellungen wenigstens russischer Sekt getrunken wurde ...
Jetzt bin ich der einzige Deutsche im Hotel London. Um mich her nur noch weinende, verzweifelte Frauen, denen Männer und Söhne fortgenommen waren. Niemand wußte damals, welchem Schicksal sie entgegengingen.
Eines Abends spät erscheint ein Gefängnisbeamter und gibt gegen hundert Rubel Auskunft über das Schicksal der Verhafteten. Wir erfahren, daß einige zwanzig, darunter der jüngere Sohn des Hauses, im Zuchthaus sitzen. Mit ihm auch der deutsche Konsul Dr. Anders. Wir erfahren, daß man 250 andere Deutsche, da die Zuchthäuser für sie zu eng geworden waren, in einer Kaserne untergebracht hat, bis sie »verschickt« werden. Wir erfahren durch den Mann, daß alle Deutschen vom 18. bis 45. Lebensjahr eingesperrt und »verschickt« werden. Ganz einerlei, ob sie militärpflichtig, militärtauglich oder keins von beiden sind, denn, wie der Mann sich ausdrückt, wenn der Kaiser Wilhelm befiehlt, müssen sie doch alle gegen uns kämpfen. Wir erfahren, daß dank eines Erlasses des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, des erlauchten Höchstkommandierenden der russischen Heere, auf alle Deutschen zwischen 18 und 45 Jahren durch das ganze, weite, heilige Rußland hin eine förmliche Jagd abgehalten wird, um sie einzusperren und zu »verschicken«. Und nun weiß ich endlich auch, warum man mich wieder hat laufen lassen. Ich habe das 45. Lebensjahr vollendet, komme also nicht mehr in Betracht. Ein erbärmliches Los, das erbärmlichste von allen.
Den Gefangenen in der Kaserne wurde es erlaubt, zu bestimmten Stunden am Nachmittag ihre Angehörigen zu empfangen. Sie durften den Männern Essen und wärmere Sachen für die nicht mehr heißen Nächte bringen. Sie brachten ihnen auch Geld.
Denen, die im Zuchthaus saßen, durfte man einmal in der Woche Essen bringen. Das Essen wurde von den Zuchthausbeamten in Empfang genommen. Ob die Gefangenen es auch wirklich erhielten, war nicht zu erfahren. Niemand durfte sie sehen oder sprechen.
Jene in der Kaserne durften wenigstens Abschied nehmen von ihren Angehörigen, als sie »verschickt« wurden. Die im Zuchthaus haben bis auf diesen Tag nichts mehr von ihren Angehörigen zu sehen bekommen. Auch ihnen zu schreiben, war verboten.
Dabei hatten sie nicht mehr und nicht weniger verbrochen als die in der Kaserne Eingesperrten. Sie hatten ebenfalls nichts weiter verbrochen, als daß sie deutsche Reichsangehörige waren. Wir wissen das deshalb ganz genau, weil wir mit einigen dieser Zuchthäusler später in Sibirien zusammen waren und aus ihren Papieren zu ersehen war, daß auch gegen sie nichts weiter vorlag. Seit Kriegsausbruch ist jeder Reichsdeutsche, der auf russischem Staatsgebiet betroffen wurde, ein Verbrecher und wird als solcher behandelt. Ob dieser Verbrecher, bevor er »verschickt« wird, im Zuchthaus sitzt oder anderswo, ist reine Zufallssache. War er vor Kriegsbeginn ein besonders angesehener Deutscher oder ein gefürchteter Konkurrent russischer Kaufleute, so hatte er gute Aussicht, zuerst ins Zuchthaus zu kommen. Kannte ihn niemand und kam er als Konkurrent nicht in Betracht, so hatte er einige Aussicht, in die Kaserne zu kommen. Das war neben dem reinen Zufall der einzige Gesichtspunkt, der deutlicher sichtbar wurde ...
Zwei Tage nach Kriegsausbruch war die russische Mausefalle geschlossen. Kein Reichsdeutscher konnte ihr noch entkommen. Zunächst wurden alle Reichsdeutschen zwischen 20 und 45 Jahren eingefangen, eingesperrt und dann »verschickt«. Später verfuhr man auch mit den Deutschen vom 17. Lebensjahr bis zum 50. genau so. Ob gesund, ob krank, ob militärpflichtig, militärtauglich oder nicht, ob lahm oder blind, einerlei, es sind Reichsdeutsche, sie sind Verbrecher und werden nach Sibirien verschickt. Und im ganzen weiten russischen Reich erhob sich nirgends eine Stimme, die dagegen protestierte, die dies Verfahren der Regierung als das erkannte, was es war: nämlich eine perfide, niederträchtige Gemeinheit und nichts anderes. Aber es gab auch im weiten russischen Reich keinen Neutralen, weder einen Botschafter noch einen Konsul oder sonst etwas, der dagegen protestiert hätte. Und wir haben auch nie etwas davon gespürt, daß man in Deutschland irgend etwas Energisches gegen diese Gemeinheit unternahm. Wußten die Deutschen im Reich nicht, was mit ihren Brüdern in Rußland geschah? Hatten die Deutschen im Reich vergessen, daß viele Tausende deutscher Landsleute in Rußland das Los gemeiner Verbrecher tragen müssen, nur weil sie Deutsche sind und bleiben wollen? Hat man uns ganz und gar vergessen? Sind wir für unser Volk gar nichts mehr wert? Verlassen und wehrlos der russischen Niedertracht preisgegeben, bis wir in Sibirien erfroren, verhungert oder totgeschlagen sind?
So und nicht anders müssen viele Tausende deutscher Männer, junge und alte, in Sibirien denken.