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Nun geht es schon in die vierte Woche, daß wir in der »Reserve« eingesperrt sind. Zu neunzehnt befinden wir uns hier in den erbärmlichsten hygienischen Verhältnissen. Das hält man einfach nicht mehr länger aus. Jeder russische Zuchthäusler hat ein Anrecht darauf, einmal im Monat ein Bad zu nehmen, wie die Soldaten uns erklären. Wir verlangen jetzt energisch dasselbe.
Da wir nun wirklich am nächsten Montag verschickt werden sollen, erlaubt man uns endlich, in dieser letzten Woche, jedesmal drei Mann hoch, ein Bad aufzusuchen. Natürlich unter polizeilicher Bedeckung.
Der Tilsiter, der eine Kinodirektor und ich wählen eins der berühmten Schwefelbäder im mohammedanischen Viertel. Erstens ist das weit fort, so daß wir wieder einmal für eine Stunde frische Luft schöpfen können. Und zweitens machte ich gerade in ein Schwefelbad, weil sich diese Bäder alle in persischen Händen befinden. Ich möchte erfahren, wie eigentlich die Perser über diesen Krieg denken.
So wandern wir denn los. Die Polizisten in größerer Entfernung hinter uns, damit nicht jedermann auf der Straße sofort sieht, wer wir sind.
Wie merkwürdig das ist, wieder einmal auf einer Straße zu gehen, sich wieder einmal unter Menschen zu bewegen, die keine Leidensgenossen sind. Wie herrlich die Luft ist. Man möchte sich alles vom Leibe reißen, so übel duften unsre Kleider in dieser frischen, herrlichen Luft. Wir haben zwar alle drei ein Päckchen mit reiner Wäsche unter dem Arm, aber diese Sachen ziehen wir natürlich erst nach dem Bad an.
Ein Durchblick durch eine Gasse auf die Kura. Da liegt ja auch das Hotel London. Es gibt dort längst keinen Gast mehr. Alle Zimmer sind von Unteroffizieren besetzt, die aus Galizien kommen und nun in sechs Wochen zu Offizieren gepreßt werden sollen. Es sind rohe, besoffene Kerle, vor denen die Frauen sich haben in die Kellerwohnung zurückziehen müssen. Die Lage für die Frauen in dem Hotel wird immer unmöglicher.
Wir kommen in das Tatarenviertel. Die Perser sehen uns kommen und stecken die Köpfe zusammen. Mit uns zu sprechen wagen sie der Polizisten wegen nicht. Aber sie grüßen uns, und zwar mit besonderer Ehrerbietung.
Es beginnt nach faulen Eiern zu riechen. Wir nähern uns den Schwefelquellen. Als reißende Bäche ergießen sie sich von den Hügeln der Kura zu.
Das Bad, das wir wählen, ist das größte und beste. Vor ihm stehen Bänke, auf denen die Polizisten auf uns warten mögen. Erst wollen sie nicht, aber ein Wink mit dem Trinkgeld veranlaßt, daß sie uns allein in das Innere lassen.
Wir wählen den besten Raum. Alles ist mit Mosaik belegt, und nebenan ergießt sich das heiße Schwefelwasser in dicken Strömen.
Der Masseur erscheint, ein herkulischer Perser, ein prachtvoll gewachsener Kerl. Er trägt nur ein Lendentuch.
Wir entkleiden uns und – schämen uns. Daran hatten wir gar nicht gedacht. Wie wir aussehen! Von oben bis unten von Wanzen und Flöhen zerstochen. Einfach scheußlich.
Dem Perser entschlüpft ein leiser Ausruf erstaunten Mitleids, und er weiß sofort, daß wir Gefangene sind.
Mit besonderer Zartheit nimmt er jeden von uns in Behandlung. Und man schämt sich wieder. Daß ein Mensch so schmutzig werden kann, wer hätte das gedacht. Aber es dauert gar nicht lange, und wir sehen alle drei aus wie die neugeborenen Lämmlein. Jeder schlüpft in ein Leinentuch, und wir legen uns nieder. Ist das eine Wohltat.
Noch zwei andere Perser erscheinen bei uns, und wir unterhalten uns. Das ganze männliche Personal des großen Bades, lauter Perser, steht bald an unserer Tür, lauscht der Unterhaltung und gibt hier und da ein Wort dazu.
Rußland ist ein Land ohne Gott. Wäre es das nicht, so würde es nicht mit Deutschland kriegen. Das große Rußland, das so viel Platz hat, mehr als es braucht, wozu führt es Krieg mit dem kleinen Deutschland? Das kann nur ein Volk ohne Gott über sich bringen. Und schon deshalb wird Gott es strafen. Die Perser sind unsere Kameraden. Was uns geschieht, ist, als ob es ihnen selbst geschähe. Aber wir sollen nur ganz ruhig sein und die Geduld nicht verlieren. Es wird der Augenblick kommen, bald kommt er, wo sie uns rächen. Alle Mohammedaner werden aufstehen und mit uns kämpfen gegen die Russen ...
Wir ziehen behaglich unsere reine Wäsche an. Hätte man nur auch reine Kleider! Aber die haben wir nicht.
Die Perser begleiten uns bis zum Ausgang und trösten und ermuntern uns. Sie behandeln uns in der Tat wie Leidensgenossen und Kameraden.
Wir verabschieden uns, und wieder diese besonders ehrerbietigen Gesten der Perser. Sonst grüßt er so nur die Priester. Wir sind ihnen wie Märtyrer des eigenen Volks.
Wieder wandern wir durch die Straße. Aber es ist jetzt kein Vergnügen mehr. Es geht ja wieder der »Reserve« zu. Wir sind niedergeschlagen. Nun hat man ein wenig davon geschmeckt, was Freiheit ist ... Man hätte besser darauf verzichtet. Um so bitterer wird jetzt die Gefangenschaft schmecken.
Unsere Frauen erscheinen nachmittags mit begeisterten Gesichtern. Gestern nachmittag sind 250 Deutsche abtransportiert worden nach Sibirien. Mit 80 Soldaten als Bewachung zogen sie durch die Stadt. Ganz Tiflis war auf den Beinen, um den Zug zu sehen. Und plötzlich, wie auf Kommando, aber ohne daß einer irgend etwas hatte zu sagen brauchen, fallen die 250 Deutschen in preußischen Paradeschritt. So geht es in gleichem Schritt und Tritt durch die Straßen, daß ganz Tiflis dröhnt und den Zuschauern eine Gänsehaut über den Rücken läuft. So marschiert nicht einmal die russische Garde. Den Teufel haben diese Njemez im Leibe, daß sie das zuwege bringen. Es ist rein zum Fürchten. Diese Demonstration deutscher Beine auf russischem Pflaster ist die Sensation des Tages.
Der Hauptmann erscheint und bestimmt, daß ein Unteroffizier und ein Gefreiter uns zusammen mit einem Polizeioffizier nach dem Ural zu begleiten haben. Er nennt die Namen der beiden und macht sich aus dem Staub. Er weiß, jeder würde am liebsten mit uns fahren, und nun würden die Soldaten, die nicht mit durften, zum größten Teil wütend auf ihn sein und schimpfen.
So ist es denn auch, kaum hat er den Rücken gekehrt. Der Unteroffizier, den der Hauptmann wählte, gehört zu den wenigen Soldaten, die uns nicht wohl wollen. Das empört sie besonders. Das dulden sie nicht. Man bestürmt den Unteroffizier, er solle freiwillig zurücktreten und einen anderen mit uns gehen lassen. Der Unteroffizier lacht höhnisch. O nein, er geht mit. Seine Hochwohlgeboren hat das so bestimmt, »über alles die Disziplin«. Beim Abendappell spricht eine Gruppe unter Führung des Feldwebels mit dem Hauptmann, er solle einen anderen Unteroffizier schicken. Er will nicht. Er hat wohl mit Absicht diesen ausgewählt. Aber die Soldaten murren und lassen nicht locker. Da bestimmt der Hauptmann, daß zwischen dem von ihm genannten Unteroffizier und einem anderen, für den unsere Freunde eintreten, das Los entscheiden soll. Wahrhaftig: Über alles die Disziplin! Unsere Freunde sind einverstanden und grinsen. Sie werden es schon so einrichten, daß ihr Mann mitkommt und nicht der andere. Das mit den Losen werden sie schon richtig machen. Das Los wird gezogen und entscheidet natürlich zugunsten des uns befreundeten Unteroffiziers.
Am Sonnabend Nachmittag erscheinen unsere Frauen mit bleichen, entsetzten Mienen. Gestern sind aus dem Zuchthaus 23 Deutsche abtransportiert worden. Ihnen voraus marschierten 80 Schwerverbrecher in Ketten. Dann folgten die Deutschen, je zwei und zwei mit den Händen aneinander gefesselt, und in der freien Hand einen Teekessel. So mußten sie durch die ganze Stadt zum Bahnhof. Darunter bis dahin in Tiflis hochangesehene Männer, über deren Loyalität nirgends ein Zweifel bestehen konnte. Nichts durften sie mitnehmen. Kein Geld, keine warmen Sachen. So wie sie seinerzeit aufgegriffen waren, auf der Straße oder im Restaurant, so mußten sie jetzt, zu gemeinen Verbrechern gestempelt, mit gemeinen Verbrechern in demselben Transport an die Bahn, um nach Sibirien verschickt zu werden. Aus 30 Grad Wärme in 20 Grad Kälte. Es war empörend ...
Sonntagnachmittag. Für viele unter uns die letzte Gelegenheit, um noch einmal ungestört mit Weib und Kind für einige Stunden beisammen zu sein. Da saß ein Häuflein Menschen. Mann und Frau und Kinder und Verwandte, dicht beieinander auf der Treppe. Dort ein Häuflein im Hof bei dem Arrestlokal. Dort eins in einer Gangecke. Da war eine Witwe, deren einziger Sohn, siebzehnjährig, morgen mit fort mußte, ein Primaner, der die Witwe durch Stundengeben mit ernährt hatte, ein prächtiger Junge. Wie sollte das nun werden mit der alten Frau ohne den Sohn? ... Da erschien ein armenischer Notar, denn die Gelegenheit war günstig, noch einige Geschäftchen zu machen. Er beredete die Männer, ihr Testament zu machen, letztwillige Verfügungen zu treffen ... Er machte glänzende Geschäfte ...
Es wird Abend. Wie schwer ist es, sich voneinander zu trennen. Vielleicht sieht man sich überhaupt nicht wieder. In Rußland ist alles möglich.
Montagmorgen. Die Reise wird am Abend angetreten, wie wir jetzt erst erfahren. Wir packen unseren Kram zusammen. Die Eßkörbe sind ja schon seit acht Tagen in Ordnung, wo der Polizeiälteste uns belog. Die Matratzen werden zusammengerollt und reisefertig gemacht. Jeder hat auch noch ein Köfferchen für Wäsche, Kleider und dergleichen. Wir wollen nur das Allernotwendigste mitnehmen, aber als wir das Gepäck auf den Hof bringen, sind es doch alles in allem 87 Stück. Doch das schadet nichts. Wir bezahlen unsere Billette ja selbst und haben also auf jedes Billett zwei Pud Freigepäck, das sind 32 Kilo, die wir aufgeben können ...
Die Polizei liefert wieder zwei Deutsche in der »Reserve« ab, unsere Nachfolger für den nächsten Transport. Der eine, ein Ungar, kommt aus dem Zuchthaus, weil er sich bis dahin weigerte, die Reise auf eigene Kosten zu machen. Nun hat er sich aber doch dazu entschlossen, das Zuchthaus hat ihn mürbe gemacht. So bringt man ihn denn in die Reserve ...
Der Mensch ist nur noch Haut und Knochen und sieht jämmerlich aus. Und schmutzig! ... Und verlaust! Das Zuchthaus hat ihn elend mitgenommen ... Er erzählt von dort. Mit anderen Verbrechern zusammen liegen sie auf feuchten Steinfliesen. Die Deutschen in der einen Hälfte der großen Zelle, die anderen Verbrecher in der anderen Hälfte. Sie stehlen wie die Raben. Zwischen beiden Parteien in der Mitte ein Faß, die Bedürfnisanstalt. Morgens um fünf Antreten zum Appell. Namenaufruf. Beschimpfung durch den Offizier. Mittags in schmutzigen Gefäßen unmögliches Essen, das mit den Fingern aus den Töpfen herausgefischt werden muß. Bestecke gibt es nicht. Abends wieder Appell und neue Beschimpfungen. So fließen die Wochen dahin. Man sieht und hört nichts. Man verlaust und verwahrlost immer mehr. Den Gefangenenwärter haben sie endlich so weit, daß er ihnen jeden Tag die Seite des Abreißkalenders aus dem Gefängnisbureau gegen 5 Kopeken überläßt. Hinten auf der Seite stehen einige Notizen und eine kurze Lebensgeschichte irgendeines russischen Heiligen. Das liest man sich vor, und dann liest es jeder nochmals einzeln für sich, auch mehrere Male. Die einzige Lektüre, die einzige geistige Nahrung ...
Auf dem Hof wird es immer lebendiger. Immer mehr Dworniks erscheinen und schleppen die Hausbücher auf den Hof, alte Bücher, die sie nach deutschen Namen durchsuchen. Da die meisten nicht lesen und schreiben können, ist das nicht leicht für sie. Wer weiß, was das wieder für einen Unsinn gibt. Aber offenbar haben die Russen in Polen wieder Prügel bekommen, vielleicht sind die Deutschen schon in Warschau. Deshalb beginnt eine neue Jagd auf Deutsche.
Am Nachmittag erscheinen einige von unseren Frauen. Man sieht ihnen an, es ist etwas Besonderes vorgefallen. Sie wollten uns ja auch erst an der Bahn treffen und nicht mehr in die »Reserve« kommen. Nun, es ist auch etwas Besonderes vorgefallen. Gestern abend und in der Nacht hat man die deutschen Frauen auf die Reviere zitiert und Protokolle aufgenommen. Damit fing es seinerzeit auch bei uns an. Dann folgte bei uns Männern Einsperren und jetzt die Verschickung. Ob es bei den Frauen denselben Weg gehen wird? Warum läßt man sie dann nicht gleich mit uns reisen? Aber das wäre ja viel zu human, das wäre ja nicht russisch genug ...
Meine Frau telephoniert mir, daß sie ebenfalls gestern abend um elf Uhr in Gegenwart von Frau Richter protokollarisch vernommen wurde. Frau Richter meinte zum protokollierenden Polizisten: »Aber das ist doch sinnlos, denn die Dame reist morgen sowieso mit ihrem Mann nach Sibirien, wohin er verschickt ist. Wozu da jetzt noch das Protokoll?« Der Polizist ließ sich aber nicht stören und protokollierte weiter. Am Ende darf sie jetzt gar nicht mit mir reisen? Echt russisch wäre das schon. Der Feldwebel läßt sich mit dem Polizeipräsidium verbinden, um darüber Klarheit zu erhalten ... Gott sei Dank, man wird meiner Frau nichts in den Weg legen, mit mir zu reisen ...
Gegen Abend fahren Droschken auf den Hof. Wir müssen auf unsere Kosten zur Bahn fahren. Man will nicht, daß wir ebenfalls wie jene 250 mit den Beinen gegen Rußland durch einen Parademarsch durch die Stadt manifestieren.
Nun erscheint auch der Polizeileutnant, der uns begleiten soll. Gefährlich sieht er nicht gerade aus. Eher schon etwas schüchtern und reichlich verhungert. Er spricht sehr gut Deutsch.
Unser Gepäck wird auf einen großen Vierwagen verladen und fährt zum Tore hinaus. Wir werden nochmals durch den Hauptmann abgezählt. Abschied von den Soldaten. Manchem stehen Tränen in den Augen. Dann vier Mann in einen Phaeton. Der Polizeioffizier steigt zu mir und erkundigt sich gleich sehr lebhaft, ob wir ruhige Leute seien, oder ob es jemand unter uns gäbe, der ihm unterwegs Unannehmlichkeiten bereiten werde. Ich kann ihn darüber beruhigen.
Vor dem Bahnhof und auf dem Perron steht halb Tiflis und gafft uns an. Der Wagen mit unseren 87 Gepäckstücken steht an einem Seiteneingang, durch den wir getrieben werden. Wir sind 19 Mann. Dazu kommen noch meine Frau und eine ältere Kosakin, die Wirtschafterin eines Cholerikers, der noch zuletzt hinzugekommen war, eines früheren Leiters der Tifliser Trambahn. Das sind 21. Dazu noch der Polizeioffizier und der Unteroffizier und der Gefreite, die uns zu begleiten haben.
Der Polizeioffizier geht mit zweien von uns zum Schalter und verlangt 21 Billette nach Wjatka am Ural. Jetzt erfahren wir erst, wohin die Reise geht. Aber wir sind doch 24 Menschen mit den Soldaten, für die wir ebenfalls bezahlt haben. Erregte Auseinandersetzungen am Schalter. Der Tilsiter weist den Polizeioffizier zurecht, und dieser muß 24 Billette nehmen, wie es sich gehört. Den Preis für sein und der beiden Soldaten Billett hatte er einfach unterschlagen wollen. Das kann er versuchen, wenn er allein oder nur mit Russen reist. Aber wir lassen uns auf solchen Schwindel nicht ein. Der Polizeioffizier ist sichtlich verstimmt, gibt aber nach.
Auf Grund der 24 Billette haben wir 48 Pud Freigepäck, das wir nun aufgeben wollen. Aber es wird uns glatt verweigert und abgeschlagen. Wir haben eben kein Freigepäck, trotzdem wir die Billette regelrecht aus unserer Tasche bezahlt haben. Als wir uns dagegen sträuben wollen, kommt Bahnhofsgendarmerie und treibt uns fort vom Schalter auf einen Nebenperron.
Dorthin schleppen die beiden Soldaten im Schweiße ihres Angesichts unsere Gepäckstücke. Endlich erreichen wir, daß einige unter uns dabei wenigstens helfen dürfen ...
Die Tifliser Gaffer drängen nach auf den Seitenperron. Bald sind wir von ihnen dicht umstellt. Kein Apfel könnte zur Erde fallen. Nun sehen wir endlich auch die deutschen Frauen und Kinder, die sich zu uns durcharbeiten durch die gaffende Menge.
Ein altes russisches Mütterchen hebt ihr Enkelkind so hoch wie nur möglich, damit es uns nur ja gut sieht. »Siehst du, das sind alles deutsche Spione, die jetzt im Baltischen Meer ertränkt werden.«
Der Zug von Tiflis nach Baku, der Petroleumstadt am Kaspischen Meer, der uns mitnehmen soll, steht längst bereit, ein russischer Personenzug mit großen, bequemen, breiten russischen Wagen. Aber es heißt, unser Wagen sei noch nicht da. Also warten und auf das Gepäck achten, damit es nicht gestohlen wird, denn bei dem Gedränge wäre die Gelegenheit günstig. Gleichzeitig unterhält man sich mit den Frauen und Kindern. So als ginge es auf irgendeine Geschäfts- oder Vergnügungsreise. Man will den Frauen das Herz doch nicht unnütz schwer machen, es ist schon schwer genug.
Endlich wird ein Kasten an den Zug geschoben, der doch wohl unser Wagen sein muß. Wir trauen unseren Augen nicht, denn das Ding sieht gar nicht wie ein Waggon aus, sondern wie eine alte, wackelige, winzige Zigarrenkiste auf vier Rädern. Die Frauen fangen zu weinen an.
Uns Männern steigt die Zornesröte ins Gesicht. Der Käsesalzer springt in die Kiste und schreit heraus: »Das geht gar nicht. Hier haben wir keinen Platz!«
Aber schon erscheinen wieder die lieben Gendarmen und treiben uns mit unseren Sachen in die Kiste. Wir sind noch so empört und wütend, daß wir zu keiner klaren Überlegung kommen. Als uns aber endlich der Gedanke kommt, zu streiken, ist es zu spät. Die beiden Türen der Kiste sind schon abgeschlossen. Durch die kleinen Fensterchen kann sich niemand zwängen. Wir müssen vorläufig gute Miene zum bösen Spiel machen. Es ist ein alter Viehwagen, in dem man einige Bretter zum Sitzen angenagelt hat. Zur Not, dicht aneinander gedrängt, können 18 Menschen in dem Viehwagen sitzen. Wir aber sind 24 Menschen und 87 Gepäckstücke ... Jetzt aber nur den Frauen nicht zeigen, wie es uns zumute ist ...
Das zweite Abfahrtssignal. Die Frauen und Kinder drängen sich näher an die Kiste, noch einen Blick zu erhaschen oder gar einen Händedruck. Wir räumen den Verheirateten die Fenster ein, so gut es geht ...
Das dritte Signal. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Nun erst merken die Kinder, daß es wirklich ernst wird, und da die Mütter weinen, fangen sie auch an zu weinen. Und plötzlich ruft ein kleines Mädchen ganz verzweifelt: »Papa! Papa!« Und nun rufen sie alle mit hochgehobenen Armen: »Papa! Papa!« Und weinen und schreien ...
Gott sei Dank, daß es überstanden ist. Aber keiner von uns wird je den Jammer der Kinder wieder aus Ohr und Herzen bekommen. Die armen Kinder, die armen Frauen!